Vorm Gipfelsturm

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Autor: Michaela Endemann

Die Vielzahl an Strukturen im Gesundheitswesen münden in einer Silobildung der IT-Systeme. Beseitigen Plattformen die Engpässe für digitale Gesundheits­dienstleistungen? Und was taugen sie als Businessmodell?

In Österreich zeigt der niedergelassene Bereich, wie weit sich Plattformen durchgesetzt haben“, sagt Albert Frömel, Leiter des Bereichs Healthcare & Life Sciences beim Beratungsunternehmen Zühlke Austria: Er verweist dabei auf Ärztesuchplattformen, die Dienstleistungen wie Buchungs- und Befundaustauschsysteme integrieren – und mit ihren multifunktionalen Services zur Plattform werden. Dafür seien die Plattformen mit dem Buchungssystem bzw. den Patientenportalen der einzelnen Praxen verbunden. „Der niedergelassene Bereich hat den Vorteil, nicht auf bestehende Kernsysteme Rücksicht nehmen zu müssen, wie es im intramuralen Bereich der Fall ist, und kann daher digitale Plattformen schneller zum Einsatz bringen“, so Frömel.

Plattformtypen

Die im September 2020 durchgeführte Studie des Beratungsunternehmens Roland Berger „Future of health 2 – The rise of healthcare platforms“ analysiert die Trends und Potenziale verschiedener Arten digitaler Gesundheitsplattformen. Digitale Produkte und Dienstleistungen werden, so die Studienprognose, bis 2025 auf einen Marktanteil von 12 Prozent im Gesundheitswesen anwachsen. Die Roland Berger Studie unterteilt den Begriff „Plattform“ in drei Kategorien:

  • In jene, die einen Zugang zu extensiven Datensätzen von Spezialgebieten bieten. Als Beispiel dient das US-Unternehmen IQVIA, das Advanced Analytics, Technologielösungen und klinische Forschungsdienste für die Life Science-Branche anbietet
  • Dazu treten horizontale Plattformen, die sich auf ein spezielles Problem konzentrieren, z.B. automatisierte Zuordnung von Patienten zu existierenden klinischen Studien, Diabetes Management Systeme)
  • Vertikale Plattformen vernetzen unterschiedliche Akteure aus dem Gesundheitswesen und bringen sie zusammen. Bei Letzteren wird nicht auf einen speziellen Bereich fokussiert, sondern ein Service offeriert, wie eine Telemedizin-Plattform für unterschiedliche Therapien.

Eher im Hintergrund agieren Plattformtechnologien, die IT-Bausteine zur Verfügung stellen, um eine eigene, individuelle Plattformlösung zu entwickeln und spezifische Szenarien abzudecken. Dies betrifft große Technologieanbieter wie Microsoft, Amazon, Siemens, Philips und andere.

Erfolgsfaktoren

Das Kundenerlebnis ist laut der Roland Berger-Studie Erfolgsfaktor Nummer eins einer Gesundheitsplattform. Auf den Rängen folgen Vertrauen und Nutzen und erst an vierter Stelle stehen die Faktoren Datensicherheit und das Angebot an Dienstleistungen. Die Größe der Plattform oder Vorerfahrungen sind den Befragten weniger wichtig. Morris Hosseini, Senior Partner von Roland Berger Berlin warnt vor unnötigen Umwegen: „Um erfolgreich zu sein, muss eine Plattform um den Bedarf der Kunden herum aufgebaut sein“. Dabei sei es wichtig, zwischen B2C- und B2B-Angeboten zu differenzieren. Sowohl Privatpersonen als auch Unternehmen sind wichtige Zielgruppen einer Plattform im Gesundheitssektor. Entscheidend für die generelle Akzeptanz der Plattform werde sein, inwieweit sie in der Lage ist, zentral und nahtlos Schnittstellen zu externen Angeboten zu koordinieren und somit die Komplexität des Gesundheitssystems für ihre Kunden zu reduzieren. Hosseini meint weiters: „Aus Unternehmenssicht ist es essenziell, dass die Plattform-Community eine kritische Größe erreicht. Nur dann kann sie nachhaltig von Netzwerkeffekten profitieren und einen sogenannten ‚Flying Wheel‘-Effekt schaffen.“ Dabei werden zusätzliche weitere Erträge ohne nennenswerte Zusatzinvestitionen erzeugt. Plattformanbieter sollten also bereit sein, die nötigen Investitionen zu Beginn ihres Markteintritts zu tätigen, um die Attraktivität und Bekanntheit ihres Angebots schnell zu steigern.

Gerlinde Macho ist Mitinhaberin des Unternehmens „MP2 IT Solutions“. Sie ist seit mehr als 20 Jahren im Bereich der Software-Entwicklung im Digital Healthcare-Bereich sowie in der Web- und App-Entwicklung tätig: „Eine Plattform muss user-freundlich sein. Neben dem Nutzererlebnis spielt auch das Thema Web-Accessibility eine zentrale Rolle.“ Bei barrierefreiem Zugang gehe es im digitalen Bereich sowohl um Inklusion als auch um den einfachen technischen Zugang und leichte Bedienbarkeit der Anwendungen. „Ein weiterer Aspekt ist die Optimierung der Schnittstelle der Online-Plattform zu den jeweiligen Offline-Diensten.“ Zentral sei, die Schnittstellen der digitalen Plattformen zu den Tools und Services in den jeweiligen Gesundheitseinrichtungen technisch nahtlos und sicher zu integrieren. Dabei sei die Wahl der passenden Tools und Technologie die Herausforderung: „Eine enge Zusammenarbeit mit Technologie-Partnern ist notwendig und wird den Erfolg einer digitalen Gesundheitsplattform bestimmen.“

Albert Frömel gilt als Spezialist für Anwendungsszenarien von künstlicher Intelligenz im Gesundheitsbereich: „Neben den Technologien spielen Faktoren wie Anwenderfreundlichkeit, der Fokus auf Mehrwert für Ärzte und Patienten und höchstmöglicher Integrationsgrad in bestehende Umgebungen wichtige Rollen.“ Die Vernetzung mehrerer Services sei Insellösungen eindeutig vorzuziehen: „Eine Plattformstrategie orientiert sich an den organisatorischen Zielen und vorhandenen Prozessen und ist keine reine technische Entscheidung.“ Er rät zudem, externe Technologieexperten sowie Technologiedienstleister bereits in der Planungsphase heranzuziehen. Mit ihrer Erfahrung und Know-how stehen sie Unternehmen bei ihren Transformationen als starke Partner zur Seite.

Fragmentierung vs Monopol

Die Future of Health-Studie von Roland Berger prophezeit sowohl die Entwicklung von „Plattformen für Plattformen“ als auch von „Plattformnetzwerken“. In einer komplexen Plattformlandschaft werden zukünftig jene Akteure einen Wettbewerbsvorteil haben, die es schaffen, auf die Anforderungen der Anwenderinnen und Anwender mit einfachem Zugang einzugehen, so die Studie. Mitautor Morris Hosseini erwartet einen Konzentrationsprozess der Dienstleistungen auf einer überschaubaren Anzahl an Plattformen: „Auf lange Sicht lohnt es für keinen der Anbieter, wenn man zu kleinteilig unterwegs ist. Eine Konsolidierung wird zwangsläufig eintreten.“ Ob sich daraus jedoch eine „Winner takes it all“-Plattform herauszeichnen wird, sei noch lange nicht ausgemacht. Unternehmerin Gerlinde Macho sieht das differenzierter: „Als mögliche Betreiber von digitalen Gesundheitsplattformen sehe ich persönlich keinen globalen Monopolisten. Als Technologie-Anbieter kann dies sehr wohl der Fall sein. Das bietet eine große Chance für nationale und europäische Anbieter von verschiedenen Gesundheitsplattformen, die sich in eine Plattformlandschaft eingliedern.“

Potenzial: Made in Europe?

Auf die Frage, ob europäische Unternehmen konkurrenzfähig sind, sagt Hosseini: „Europäische Anbieter sind grundsätzlich mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass der kontinentale Markt durch die verschiedenen Gesundheitssysteme stark fragmentiert ist und die Entwicklung von übergreifenden unternehmerischen Lösungen erschwert.“ Die vielschichtige Struktur der europäischen Gesundheitssysteme bietet aber auch eine Chance für europäische Anbieter. „Um sich in verschiedenen Ländern etablieren zu können, müssen europäische Anbieter schon ganz zu Beginn ihrer Produktentwicklung einen besonderen Fokus auf Flexibilität und Kompatibilität ihrer Lösungen legen.“ Österreich habe mit der Einführung des ELGA-Systems und der zugrundeliegenden Gesundheitsdatenbank, die nach dem „FAIR“-Datenprinzip (Findable, Accessible, Interoperable, Re-usable) aufgebaut ist, einen wichtigen Schritt zu einer verstärkten Vernetzung der Gesundheitssysteme getätigt. „Es wird entscheidend sein, inwieweit andere europäische Länder dem Beispiel Österreichs folgen, damit sich länderübergreifende ‚Champions‘ in Europa durchsetzen können“, so Hosseini. Dann könnten europäische Plattformen gegenüber amerikanischen Anbietern konkurrenzfähig bleiben.

Gerlinde Macho findet im Bereich des Datenschutzes Vorteile von europäischen Plattformanbietern. „Gerade bei Gesundheitsdaten gibt es EU-weit strengere gesetzliche Vorgaben und somit eine höhere Sicherheit bei der Verwendung und Verarbeitung dieser Daten.“ Services für Prävention, Fitness und Wellness könnten länder-, sprach- und kulturübergreifend gut zusammenarbeiten. In dem Zusammenhang sei auch die Übernahme von Kosten, beispielsweise von nationalen Kostenträgern, zu erwähnen. „Daraus ergibt sich, dass in Europa digitale Gesundheitsplattformen sehr wohl auch auf nationaler Ebene eine große Rolle spielen.“ Es bleibe aber auch Raum für kostenpflichtige digitale Services, deren Leistungen zum Beispiel von Privatversicherungsträgern übernommen werden. Macho sieht jedoch aus derzeitiger Sicht die Abwicklung der Kostenübernahmen von Serviceleistungen auf Plattformen als größtes Hindernis, um länderübergreifende Plattformen zu etablieren.

Albert Frömel ist sich sicher, dass digitale Plattformen im Gesundheitswesen angekommen sind und weiter an Bedeutung gewinnen werden. Die Pandemie habe deutlich gezeigt, wie wichtig agiles, rasches Handeln und eine schnelle Anpassung von (digitalen) Prozessen sind, um funktional zu sein. „Plattformen bilden die Basis für die Abbildung des digitalen Patientenpfads. Behandlungsprozesse und -ergebnisse sind durch sie transparent, nachvollziehbar und an einem Ort einsehbar. Das wird heutzutage von den Patienten wie auch den Spezialisten aus dem medizinischen und pflegerischen Bereich schlichtweg erwartet.“ In Österreich sieht er noch ungenutztes Potenzial. Sein Fazit: „Spätestens jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, um eine digitale Plattformstrategie zu entwickeln, um auch in Zukunft wettbewerbsfähig und patientenzentriert agieren zu können.“    //

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