Wiener Biotech-Start-up: Schlucken statt Stechen

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Autor: Alexandra Keller

Ein Wiener Start-up entwickelt ein Verfahren, mit dem Injektionen durch Pillen ersetzt werden können. Als Nebeneffekt wird die Temperatursensibilität bestimmter Wirkstoffe durch die Behandlung mit stabilen Lipiden gesenkt. Tiefkühltruhen für den Medikamententransport sollen seltener werden.

Eine Nadel löst bei vielen Menschen tiefsitzende Ängste aus. Jeder Mediziner weiß von irrlichternden Patienten zu erzählen, wenn die Sprache auf eine Spritze kommt. Daher ist sich David Wurm sicher, dass die Geschäftsidee seines Start-ups einen „klaren und verständlichen Mehrwert“ hat. Wurm ist CEO der NovoArc GmbH, einem Wiener Biotech-Start-up, das der pharmazeutischen Industrie ein neues Werkzeug anbieten will, mit dem Wirkstoffe die Angriffe des Verdauungstraktes überstehen. Es geht um Tabletten statt Spritzen.

David Wurm und seiner Mitgründer setzen auf ein Verfahren, mit dem medizinische Wirkstoffe, die bislang nur „per Nadel“ von medizinischem Fachpersonal verabreicht werden durften, in Form von Tabletten eingenommen werden können. Für Patienten mit „Trypanophobie“ verheißt die Botschaft Großes. Sie leiden unter Spritzenangst – eine Form der Phobie, die manch wichtigen Gang zum Arzt verhindert. Das NovoArc-Verfahren bietet weitere Vorteile: „Die medizinischen Wirkstoffe werden durch unsere stabilen Lipide geschützt“, verspricht Wurm. Die Lagerfähigkeit der Medikamente werde deutlich gesteigert.

Das Ende des Piks. Durch das NovoArc-Verfahren soll Spritzen im medizinischen Alltag deutlich seltener werden.
Die Gründer stellen mit ihrer Technologie eine verbesserte Verträglichkeit der Wirkstoffe in Aussicht.

Spätestens seit der Corona-Pandemie ist bekannt, dass die Wirksamkeit der meisten Covid-Impfstoffe nur durch so bitterkalte wie sündteure Kühlketten garantiert werden konnte. „Wenn Wirkstoffe nicht bei minus 70 oder minus 20 Grad gelagert werden müssen, sondern bei vier Grad, ist das schon eine riesige Revolution. Raumtemperatur wäre natürlich ideal“, erklärt Wurm. Die Schutzwirkung stabiler Lipide verspricht, Menschen auch in entlegenen Weltregionen oder Katastrophengebieten zuverlässig mit temperaturempfindlichen Wirkstoffen versorgen zu können. Außerdem erhöht die NovoArc-Technologie die Effizienz von mRNA-Impfstoffen – ein weiterer Grund, die Geschichte von NovoArc, dem im Oktober 2021 als Spin-Off der TU Wien gegründeten Biotech-Unternehmen, zu erzählen.

Behütete Verdauung

Sie beginnt an der Technischen Universität Wien, wo sich David Wurm, Julian Quehenberger und Oliver Spadiut darauf konzentrierten, biopharmazeutische Prozesse für die Industrie zu entwickeln. Dabei legten die Bioingenieure ihren Fokus auf einen speziellen Organismus, dessen vielversprechende Widerstandsfähigkeit zwar bekannt war – ihn für industrielle Anwendungen kontrolliert zu kultivieren, aber lange Zeit nicht möglich schien. „Uns ist es gelungen, einen reproduzierbaren und skalierbaren Prozess zu entwickeln“, blickt David Wurm zurück zum ersten entscheidenden Durchbruch, dem nach intensiver Recherche bald der zweite folgte: „Wir sind auf diese einzigartigen Lipide gestoßen, die für die pharmazeutische Industrie spannende Eigenschaften haben.“

Die Lipide, die aus dem Organismus herausgelöst werden können, sind wahre Überlebenskünstler: Sie widerstehen selbst widrigen Einflüssen. Diese Stabilität unterscheidet sie von anderen, bekannteren Lipiden. Diese Eigenschaft macht es möglich, medizinische Wirkstoffe zu schützen und unbeschadet von Säuren oder Enzymen durch den Magen in den Darm zu schleusen. „Die Liposome bilden dabei eine Schutzhülle, die es ermöglicht, dass die Partikel weiter in den Darm wandern können, wo sie an der Darmwand hängen bleiben und der Wirkstoff effizient aufgenommen wird“, erklärt der CEO den Angelpunkt jeder oralen Anwendung. Die Verabreichung per Nadel hat damit für viele Medikamente ausgedient. Noch ist nicht 100-prozentig geklärt, wie Wirkstoffe im Darm aufgenommen werden. „Wir konnten aber zeigen, dass es funktioniert und sich die Freisetzungskinetik bis zu einem gewissen Grad über die Zusammensetzung der Lipide beziehungsweise Liposomen steuern lässt“, so Wurm.

David Wurm geht davon aus, dass die Technologie bei rund 20 Prozent der aktuell verfügbaren pharmazeutischen Wirkstoffe eingesetzt werden kann – von Insulin über mRNA-Impfstoffe hin zu Antibiotika. Antibakterielle Wirkstoffe seien nach Einsatz des NovoArc-Verfahrens deutlich verträglicher und könnten mit geringeren Nebenwirkungen verabreicht werden, schwärmt der Biotech-Forscher. Bei den mRNA-Impfstoffen sei das Potenzial nicht minder erstaunlich. Werden für den Transport der mRNA-Impfstoffe statt der konventionellen Methoden Schutzhüllen aus NovoArc-Lipiden verwendet, sei die Effizienz bis zu 90 Mal höher. Dies bedeute, dass weniger Impfstoffe benötigt werden, um mehr Menschen zu impfen – die dann auch mit weniger Nebenwirkungen zu kämpfen haben.

Brothers in Visions. Die Gründer – David Wurm in der Mitte – bereiten die
Expansion ihres Unternehmens vor. Im Sommer wird ein neuer Firmensitz bezogen.
An weiteren Kapitalspritzen wird gearbeitet.

Pünktliche Wirkung

Die Verabreichung von Impfungen oder Antibiotika sind durchaus zeitkritisch. Kommt der Wirkstoff zu spät in den Organismus, hat dies üble Folgen. Ganz besonders heikel ist dabei der Umgang mit Insulin. Für Wurm stellt der Umgang mit dem Hormon den „heiligen Gral“ der Medikamentenabgabe dar. „Insulin muss zur richtigen Zeit in der richtigen Menge am richtigen Ort sein. Da geht es um Minuten und Stunden. Das ist auch für uns die Herausforderung.“ Das Zusammenspiel von Insulin und den NovoArc-Lipiden steht im Fokus der aktuellen Forschungstätigkeit.

NovoArc errichtet derzeit einen neuen Firmen-Standort in der Nähe des Bahnhofs Meidling. Das derzeit 10-köpfige NovoArc-Team wird im Sommer dort einziehen. Die Forschungsgruppe treibt die Marktreife ihrer Technologie seit den gemeinsamen TU-Zeiten voran. Das Werben um potenzielle Investoren ist seither Teil der Arbeitsbeschreibung. „Wir haben gesehen, dass es einen Need für die Technologie gibt und das Potenzial da ist, eine Firma zu gründen“, so Wurm. Mit der Preseed-Förderung des Austria Wirtschaftsservice (aws) war die finanzielle Basis gegeben, um die hohen Start-Kosten abzudecken. Frisches Investment zweier potenter Family Offices schaffte den Gründern Luft, um den neuen Standort in Angriff zu nehmen und parallel dazu an Business Developement, Vermarktung und der Technologie selber (weiter-) zu arbeiten.

Auch nasale und dermale Anwendungen sind für die Zukunft geplant, doch vorerst konzentriert sich das Start-up auf jene Bereiche, die bereits am Start stehen. „Wir haben zwei Patente angemeldet. Weil mRNA ein Hot Topic ist, haben wir im Herbst 2022, wenige Wochen nachdem wir die Resultate hatten, das Patent dafür eingereicht“, sagt Wurm. Europaweit genehmigt wurde bereits das Patent, in dem es um den Produktionsprozess der Lipide geht, dessen Rechte bei der Firma liegen. Der Biotech-Charme dieses Prozesses liegt nicht nur in seiner für die Maßstäbe der pharmazeutische Industrie notwendigen Skalierbarkeit. „Das Schöne an unserem Produktionsprozess ist, dass wir kontinuierlich produzieren und abernten können. Deswegen ist die Größe der Anlage überschaubar“, so Wurm, der fast liebevoll vom Organismus und den Lipiden spricht. Etwa wenn er darauf hinweist, dass alles getan wird, damit sich der Organismus „noch wohler fühlt“ als in seinem natürlichen Habitat. Der Yellowstone Nationalpark, wo der Organismus aus schwefelhaltigen Quellen isoliert wurde, ist das Vorbild, das es im Labor zu übertrumpfen gilt – um den zwar höchst komplexen aber auch so klaren einfach verständlichen Mehrwert der Technologie weiter zu befeuern. 

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