Ich kann nur den Kopf schütteln

Lesedauer beträgt 7 Minuten
Autor: Josef Ruhaltinger

Die Pandemie machte Christa Wirthumer-Hoche als Behördenleiterin der AGES Medizinmarktaufsicht österreichweit bekannt. Jetzt wollte sie in Pension gehen. Gesundheits­minister Johannes Rauch bat sie überraschend um ein zusätzliches Dienstjahr.

Es sollte eigentlich eine Art Abschiedsgespräch werden: Es war geplant, dass Christa Wirthumer-Hoche, „Leiterin des Geschäftsfelds Medizinmarktaufsicht der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit AGES“ (so der gesamte Funktionstitel), mit Juni in den Ruhestand tritt. Gesundheitsminister Johannes Rauch durchkreuzte aber die bestehenden Urlaubspläne: Er kündigte eine Neuausschreibung der Position an. Er fände es nicht so gut, meinte der Gesundheitsminister, dass mit Helga Trieben eine leitende Mitarbeiterin des Verbands der pharmazeutischen Industrie (Pharmig) in die Führung der Aufsichtsbehörde wechseln hätte sollen. Die Führung der Medizinmarktaufsicht ist aus Sicht der Pharmaindustrie die zentrale regulatorische Position des heimischen Arzneigeschäftes. Wolfgang Mückstein hatte diesem Amt keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Sein Nachfolger Johannes Rauch schon. Trieben, bisherige Direktorin für Zulassungsbereich und Innovation im Interessenverband der Pharmaindustrie, hatte ihren alten Job bereits gekündigt und hätte am 1. April bei der Medizinmarktaufsicht beginnen sollen. In die Leitung wäre sie Anfang Juni eingetreten. Ihre Chancen stehen gut, dass ihr Vertrag vor Gericht Bestand hat und die Republik tief in die Taschen greifen muss.

Die neue Ausschreibung der Position wird aus juristischen Gründen erst mit 1. Juli veröffentlicht werden. Für Christa Wirthumer-Hoche bedeutet dies die vorläufige Verlängerung des Vertrages bis Ende März 2023. Christa Wirthumer-Hoche war von März 2016 bis Ende März 2022 Vorsitzende des EMA Management Boards, des Aufsichtsgremiums der europäischen Zulassungsagentur für Medikamente. Das Interview fand per Zoom statt. Die Leiterin der Medizinmarktaufsicht wollte aus Corona-Gründen Vorsicht walten lassen. Sie war bereits einmal infolge eines Pressetermins angesteckt worden.

Frau Wirthumer-Hoche, haben Sie Ihren Urlaub schon storniert?
Christa Wirthumer-Hoche:
Nein. Das habe ich nicht. Aber ich werde meinen Urlaub antreten, auch wenn sich das Jahr etwas anders gestalten wird als vorgesehen. Ursprünglich war geplant, dass ich mit 31. Mai meinen Dienst beende und übergebe. Jetzt hat man mich ersucht, bis längstens März 2023 zu bleiben. Wenn es mit meinem Nachfolger oder meiner Nachfolgerin vorher eine Regelung gibt, dann werden wir dies in dem Sinne klären.

Wann haben Sie das erste Mal von einem SARS-CoV-2-Virus gehört?
Mit den ersten offiziellen Meldungen Anfang 2020 leuchteten bei uns sofort die Alarm-Lichter. Es war gut, dass ich bereits einige Jahre zuvor eine Task Force zu Arzneimittel-Lieferengpässen mit allen Akteuren der Lieferkette eingerichtet habe. Für uns galt es zu klären, ob für Europa wichtige Standorte der pharmazeutischen Industrie in oder rund um Wuhan angesiedelt sind. Wir mussten wissen, ob es bei Wirkstoff- oder Fertigprodukteherstellern zu Lieferschwierigkeiten kommen kann. Auch die Exportbeschränkungen Indiens wurden auf ihre Auswirkungen überprüft. Es war für uns und die Öffentlichkeit ein Aha-Erlebnis, dass wir bei einem einfachen Wirkstoff wie Paracetamol zu einem sehr hohen Prozentsatz von Asien abhängig sind.

Sie waren bis März dieses Jahres Vorsitzende des Verwaltungsrates der Europäischen Arzneimittelagentur EMA. War in dem Gremium spürbar, dass die Italiener eine andere Betroffenheit verzeichneten als beispielsweise die Skandinavier?
Das war sehr wohl spürbar. Es war für mich entsetzlich, dass einige Grenzen sofort geschlossen wurden – für Menschen und für Arzneilieferungen. Dass dies in einer EU passieren kann, hatte ich nicht erwartet.

Wie groß waren Ihre Erwartungen, dass nach Ausbruch der Seuche bald ein Mittel dagegen gefunden werden kann?
Ich hatte von Anfang an begründete Hoffnung. Es gab bereits bestehende Technologieplattformen, die in relativ rascher Zeit für die Suche nach einem COVID-19-Impfstoff adaptiert worden waren. Dass es dann so rasch gegangen ist, das hat mich positiv überrascht. Eine normale Entwicklung eines neuen Produktes dauert etwa 10 Jahre. Aber die mRNA-Impfstoffe waren für ein anderes Indikationsgebiet schon sehr weit fortgeschritten. Und es wurde dann ja sehr bald mit den entsprechenden klinischen Prüfungen für COVID-19 begonnen.

Den Behörden wird immer wieder von Impfgegnern vorgeworfen, in der Eile die Vorschriften gebeugt zu haben.
Das ist einfach nicht wahr. Wir haben seitens der Behörde Verfahren etabliert, um noch rascher vorhandene Daten zu prüfen. Der schon bekannte Begriff der Rolling Reviews bedeutet, dass man Datenpakete auch einzeln einreichen darf, auch wenn noch nicht alle erforderlichen Informationen final vorliegen. Dazu muss aber schon zu Beginn der Nachweis erbracht sein, dass das Produkt vielversprechend ist und die fehlenden Daten vorgelegt werden können. Auf bloßen Verdacht geht da nichts. Die Zulassung kann sehr rasch ausgesprochen werden, wenn eindeutig ein positives Nutzen/Risiko-Verhältnis nachgewiesen wurde.

Zur Person:

Christa Wirthumer-Hoche ist seit Oktober 2013 Leiterin der AGES Medizinmarktaufsicht und war von März 2016 bis März 2022 Vorsitzende des EMA Management Boards. Christa Wirthumer-Hoche promovierte an der Technischen Universität Wien und hält ein Diplom in Chemie und Biochemie.

Wie hoch war der Druck, dem Sie als Zulassungsbehörde ausgesetzt waren?
Ab Mitte März/April 2020 baute sich ein irrer Druck um die Frage auf, ob es bereits zugelassene Anti-COVID-Substanzen aus einem anderen Indikationsgebiet gibt. Meldungen aus den USA sorgten in Europa für viel Aufmerksamkeit. Auch stand die Frage im Raum, ob die pharmazeutische Industrie diese bereits zugelassenen Produkte für individuelle Heilversuche zur Verfügung stellen kann. Rückblickend sage ich, dass in dem damaligen Furor zu viele kleine klinische Prüfungen mit jeweils geringer Patientenzahl gestartet wurden, deren Aussagekraft überschaubar blieb.

Wie äußerte sich diese Ausnahmesituation?
Ständig hieß es auf unterschiedlichsten Kanälen, ob dieses und jenes bereits zugelassene Arzneimittel nicht für die neue Indikation eingesetzt werden könnte. Das bekannteste Beispiel war Hydroxychloro­quin, ein Mittel gegen rheumatoide Ar-thritis. Es haben sich wahre Netzwerke gebildet, die versucht haben, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um in den Besitz des Mittels zu kommen.

Wird man unter diesen Umständen von Vertretern aus Regierungs­institutionen kontaktiert?
Natürlich gab es eine generelle Drucksituation. Aber wir beschaffen die Arzneimittel nicht, sondern prüfen, ob die Produkte den europäischen Standards entsprechen. Es wurden auch immer wieder Parallelen gezogen zwischen den Handlungen der amerikanischen FDA und der europäischen EMA. Fragen wurden gestellt: Warum sind die Amerikaner ein paar Tage schneller als die Europäer usw. Aber die regulatorischen Bestimmungen sind unterschiedlich.

Hat man schlaflose Nächte?
Ja, wenn man überhaupt zum Schlafen kommt. Es waren sehr, sehr hektische Zeiten, und das bekamen alle Experten und Expertinnen der Medizinmarktaufsicht zu spüren.

Nimmt man es als Leiterin der Zulassungsbehörde persönlich, wenn 40.000 Menschen auf die Straße gehen und behaupten, Impfen sei Mord?
Auf eine gewisse Weise ja. Jeder von uns hat oder hatte Menschen in seinem Bekanntenkreis, die zu den Impfverweigerern gehören. Und ich habe mich wirklich bemüht, hier mit guten Argumenten zu erklären, wie wichtig eine COVID-19-Impfung ist. Der Erfolg blieb überschaubar. Zu den Demonstrationen will ich mich gar nicht äußern.

Ein deutscher Fußballer sorgte für Schlagzeilen, weil er seine Vorbehalte mit fehlenden Langzeitstudien begründete. Was sagt dazu die Behördenleiterin?
Ich kann nur den Kopf schütteln. Es gibt klare, wissenschaftlich fundierte Kriterien, unter welchen Umständen ein Medikament geprüft und zugelassen wird. Ich kann jedes Medikament bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag untersuchen. Aber dann wird es Menschen nie helfen können. Wir haben einen stark regulierten und standardisierten Prozess, nach dessen Durchlauf ich mit ruhigem Gewissen sagen kann, dass das Arzneimittel gemäß den in Europa geltenden Standards geprüft wurde und ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis aufweist. Und Sie dürfen davon ausgehen, dass diese Standards sehr, sehr streng sind.

Themenwechsel: Ihre Behörde ist auch für die Versorgungssicherheit mit Medikamente zuständig. Braucht Europa wieder mehr Pharmastandorte?
Ich hoffe, dass wir bei dem einen oder anderen Wirkstoff und Produkt wieder au­tarker werden. Dazu braucht es einen einheitlichen politischen Willen in der EU, denn dies wird sich nicht über den freien Markt lösen lassen. Und wenn man kein Geld in die Hand nimmt, wird das nicht funktionieren. Sonst bleibt die Pharmaindustrie dort, wo günstiger produziert werden kann.

Ist Lagerhaltung für spezielle Arzneien und medizintechnische Ausrüstung eine der Lehren aus der Pandemie?
Das Thema der Bevorratung ist zentral. Auf europäischer Ebene ist das ja erkannt worden. Es wurde vereinbart, eine Liste von Arzneimitteln und Medizinprodukten zu erstellen, die in einer Krisensituation auf der Intensivmedizin notwendig sind und auf Lager gelegt werden sollten. Und ich rede nicht von den typischen Corona-Arzneimitteln, sondern von den Arzneimitteln, die man auf der Intensivstation braucht. Wir diskutieren, wer in der Distributionskette eine Bevorratung halten könnte. Man braucht dazu ein Logistiksystem, das diese Ware immer wieder in Umlauf setzt, um Ablaufdaten einzuhalten, d.h. zu verhindern, dass Ware nach Ablauf der Laufzeit vernichtet werden müsste.

Welche Rolle spielt die Pharmaindustrie in diesem Notfall-System?
Auch die Pharmaindustrie muss für bestimmte Produkte in die Pflicht genommen werden. Manche ihrer eigenen Erzeugnisse sollten oder müssen über einen gewissen Zeitraum von ihnen auf Lager gehalten werden. Und das muss ja gar nicht für eine Pandemie ausgelegt sein. Wir haben schon Versorgungsnöte bei verhältnismäßig kleinen Unwägbarkeiten. Erinnern wir uns an den Unfall dieses Frachters, der im Suezkanal stecken geblieben ist. Das hat gereicht, um weltweite Lieferketten zu blockieren. Darauf muss sich die Industrie vorbereiten.

Brauchen wir in Sachen Bevorratung neue gesetzliche Vorschriften?
Unglücklich wär ich nicht, wenn das auch gesetzlich festgehalten wird. Die Pharmaindustrie hatte früher auch Lager vorrätig. Warum nicht auch jetzt für schlechte Zeiten. Auch der Großhandel kann seine Rolle übernehmen.

Immer wieder heißt es, dass Österreich als Billig-Land von der Arzneimittelindustrie nicht so gut versorgt werde
wie andere Staaten in Europa. Ist dem so?

Sie wissen, mit Preisen haben wir nichts zu tun …

Aber mit der Versorgungssicherheit …
Es gibt eine gesetzliche Bestimmung im Arzneimittelgesetz, dass die Zulassungsinhaber verpflichtet sind, den Bedarf für eine Nation zu berechnen und die entsprechende Menge zur Verfügung zu stellen. Diese Bestimmung gilt in Österreich und in der EU. Aber es ist schon so, dass man die Pharmaindustrie immer wieder darauf aufmerksam machen muss, dass sie diese Verpflichtung hat und den Bedarf der einzelnen Länder zu decken hat.

Frau Wirthumer-Hoche, was wird für Ihre Nachfolgerin oder Ihren Nachfolger die dringendste Aufgabe?
Meine Nachfolgerin oder mein Nachfolger hat die große Herausforderung, die generellen Ressourcen zu mobilisieren, damit die Behörde ihre Aufgaben auf nationaler und europäischer Ebene fristgerecht erfüllen kann. Im EU-Netzwerk der Experten und Expertinnen gehört Österreich zu den Spitzenbehörden. Generell müssen wir prüfen, ob wir fit für die zukünftigen Herausforderungen sind, und gegebenenfalls müssen gesetzliche Bestimmungen, Prozesse usw. überarbeitet werden.

Es geht nur ums Budget?
Es geht auch um die regulatorischen Entscheidungen für die Nutzung von vorhandenen Daten – „Real World Data“. Unsere Datenmengen sind ein Schatz, den man im Interesse aller sinnvoll nutzen soll. Auf dem Gebiet passiert derzeit aufgrund der Gesetzeslage von Behördenseite viel zu wenig.    //

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren: