Von Semmelweis bis AlphaFold: Das schwarze Loch der Gesundheitsdaten

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Autor: Günter Klambauer

Auf den ersten Blick haben Ignaz Semmelweis, der Mitte des 19. Jahrhunderts in Wien tätige Arzt, und AlphaFold, die künstliche Intelligenz für Proteine und der wissenschaftliche Durchbruch des Jahres 2021, nichts miteinander gemeinsam. Doch es gibt ein wichtiges verbindendes Element: wissenschaftliche Erkenntnisse – ermöglicht durch Daten und Datenmanagement.

An der geburtshilflichen Klinik des Allgemeinen Krankenhauses gab es zwei Abteilungen: In der ersten arbeiteten Ärztinnen und Medizinstudentinnen, in der zweiten Hebammenschülerinnen. Eine der entscheidenden Beobachtungen Semmelweis’ war, dass die Sterblichkeit unter Gebärenden in der ersten Abteilung um vieles, heute würde man sagen signifikant, höher war als in der zweiten. Um dies zu beobachten, mussten diese Daten also auch erhoben worden und verfügbar gewesen sein. In einer heute als mustergültig geltenden, empirischen und hypothesengetriebenen Studie führte Semmelweis die Erkrankungen auf die mangelnde Hygiene von Ärztinnen zurück und konnte die Letalitätsrate von 12,3 auf 1,3 Prozent senken. Was uns in der heutigen Zeit so natürlich vorkommt, war damals revolutionär: Erkenntnisgewinn aufgrund von Statistiken! Heutzutage sind wir es gewohnt, von großen Impfstoffstudien mit zehntausenden Teilnehmerinnen zu lesen.

Zudem müssen die Daten nicht mehr auf Papier vermerkt, sondern können digital gespeichert werden. Je größer die Datenmengen und die Studien, umso wichtiger wird das Datenmanagement. In strukturierten Datenmengen stecken zwangsläufig unbekannte, aber wichtige medizinische Zusammenhänge.

Datenmanagement wird in der Medizin bisweilen so nachlässig behandelt, dass Wissenschaftler*innen daraus nur selten Erkenntnisse ableiten und davon profitieren können.

Moderne Methoden der künstlichen Intelligenz (KI) beruhen auf dem sogenannten maschinellen Lernen: Basierend auf Daten wird die KI dazu „trainiert“, auf bestimmte Eingaben, wie zum Beispiel ein Röntgenbild, korrekte Ausgaben, wie zum Beispiel Diagnosen, zu liefern. Wenn die KI bei vielen neuen Eingaben das korrekte Ergebnis liefert, dann weiß man, dass in der Eingabe die entscheidende Information zu finden ist. Ein Beispiel, um dies konkreter zu machen: Eine KI wurde eingesetzt, um das biologische Geschlecht eines Patienten/einer Patientin basierend auf einem Augenhintergrundbild vorherzusagen. Das scheint keine wichtige Aufgabe zu sein, weil das Geschlecht relativ einfach festzustellen ist.

ndererseits konnte die KI die Aufgabe fast perfekt lösen. Der Fachwelt war unbekannt, dass es überhaupt geschlechtsspezifische Unterschiede im Augenhintergrund gibt. Sie sehen: Eine neue medizinische Erkenntnis – ermöglicht durch datengetriebene KI. Das enorme Potenzial von maschinellem Lernen wurde auch deutlich, als 2021 die KI AlphaFold die 3D-Struktur von Proteinen mit fast experimenteller Genauigkeit vorhersagen konnte. Ermöglicht wurde dies durch eine Datenbank von experimentell ermittelten 3D-Strukturen von Proteinen, die von der Fachwelt über Jahrzehnte aufgebaut und kuriert wurde und öffentlich verfügbar war. Es ist nicht möglich, medizinische Daten öffentlich verfügbar zu machen oder sie auch nur zusammenzutragen. Aber dennoch erzeugt unser Gesundheitssystem diese Daten in großen Mengen. Erstaunlicherweise gibt es sogar Ansätze, mit denen KI-Methoden von verteilten, nicht-öffentlich gemachten Daten lernen können – eine Möglichkeit, die in der Medizin aber wenig genutzt wird. Datenmanagement in der Medizin wird bisweilen so nachlässig behandelt, dass Wissenschaftlerinnen daraus nur selten Erkenntnisse ableiten und davon profitieren können.

Hier scheitert man aber nicht am Datenschutz, der durchaus garantiert werden könnte, sondern an vereinheitlichten Datenstrukturen, koordiniertem Vorgehen und der Erkenntnis, dass von einem guten Datenmanagement zusammen mit KI sowohl die medizinische Forschung als auch das Gesundheitssystem stark profitieren könnten. Oder anders gesagt: „Herr Semmelweis, Sie wollten wissen wie viele Gebärende in Abteilung 1 und 2 an Kindbettfieber sterben: Wir haben leider keine Ahnung!“    //

Zur Person: Dr. Günter Klambauer ist Bioinformatiker und Assistenzprofessor am Institut für Machine Learning der JKU Linz. Für den Einsatz von Techniken des maschinellen Lernens in der Genetik und Molekularbiologie wurde er mit dem Austrian Life Science Award 2012 und 2014 mit dem Award of Excellence des österreichischen Wissenschaftsministeriums ausgezeichnet.

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