Norwegen: Im Land der Fjorde

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Autor: Heinz Brock

Norwegen meisterte die Pandemie besser als der Großteil der europäischen Nationen. Der starke Ausbau einer umfassenden Primärversorgung, weitreichende Präventionsprogramme und der Einsatz digitaler Systeme machen die Skandinavier zum Best-Practice-Beispiel für effektive Gesundheitspolitik.

Seit die COVID-19-Pandemie weltweit die Gesundheitssysteme an den Rand des Kollapses brachte, geht die Frage um, welche strukturellen Eigenschaften die medizinische Versorgung braucht, um auch in Krisenzeiten reibungslos zu funktionieren. Norwegen liefert eine der Antworten. Das skandinavische Land gilt als Best-Practice-Beispiel. Die COVID-19-Pandemie hat Norwegen nicht verschont, hat dort aber einen deutlich geringeren Impact hinterlassen als in den allermeisten Ländern der Welt. Viele Faktoren, die eine Gesellschaft oder ein Gesundheitssystem als „resilient“ auszeichnen, sind in dem nordischen Königreich gelebter Standard. Die Infektions- und Todesraten durch COVID-19 waren etwa neunmal niedriger als im Rest Europas. Norwegen ist eines von drei europäischen Ländern, in dem die Lebenserwartung 2020 anstieg – sogar bei den über 80-Jährigen, die die meisten Todesfälle durch COVID-19 hinnehmen mussten. Im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern war die Todesrate der zweiten Welle niedriger als die der ersten.

Primärversorgung im hohen Norden. Die Gesundheitspolitik Norwegens hat den ambulanten Sektor stark ausgebaut. Das Land benötigt im Vergleich zu Österreich weniger als ein Drittel der Krankenhausbetten.

Selbe Werkzeuge – bessere Ergebnisse

Das Instrumentarium der norwegischen Regierung zur Eindämmung der Pandemie – Isolierung, Testung, Impfung und Erhöhung der Versorgungskapazität – war dasselbe wie in allen anderen Ländern. Neben den naturgegebenen günstigen Voraussetzungen wie der geografischen Lage, der geringen Bevölkerungsdichte, dem politischen Konsens über die Beschränkungsmaßnahmen und der sozialen Absicherung der Betroffenen machte – nach Erkenntnis einer unabhängigen Coronavirus-Kommission – die Digitalisierung der norwegischen Gesellschaft den Erfolg bei der Bewältigung der Krise möglich. Ein elektronisches Contact Tracing war bereits im April 2020 nach nur zweitägiger Implementierung verfügbar. Allerdings war auch in Norwegen ein Relaunch wegen Datensicherheit und Persönlichkeitsrechten notwendig. Wichtiger noch war die Zusammenfassung aller erhobenen epidemiologischen, medizinischen und wirtschaftlichen Daten in einem nationalen Register, aus dem Analysen und Kommunikation abgeleitet wurden. Die Regierung war somit frühzeitig und abgesichert in der Lage, notwendige Maßnahmen ziel- und bedarfsgerecht zu setzen und auch wieder zu beenden.

Das norwegische Gesundheitswesen ist zum überwiegenden Teil auf öffentlichen Strukturen aufgebaut. Vier regionale Gesundheitsbehörden sind verantwortlich für die Versorgung in Krankenhäusern und bei Fachärzten. Die Gebietskörperschaften wiederum stellen die Primärversorgung und Public Health Leistungen zur Verfügung. Das öffentlich finanzierte Leistungsangebot ist umfassend, wobei außer für die Krankenhausversorgung und die Heimpflege private Zuzahlungen üblich sind. Diese sogenannten „Out-of -Pocket“-Zuzahlungen für versicherte Leistungen entfallen jedoch für Kinder, Schwangere, Arbeitsunfälle und Mindestpensionisten und sind generell auf eine Obergrenze von jährlich 2.460 Kronen (€ 235) begrenzt.

Norwegen stellt seiner Bevölkerung eine umfassende medizinische Versorgung zur Verfügung, die durch bilaterale Verträge auch für Bürger des Europäischen Wirtschaftsraumes und für Australier gilt. Die Zugangsmöglichkeiten zu medizinischen Leistungen korrelieren dabei weniger mit der sozialen Situation der Patienten als im Durchschnitt der EU-Länder. Lediglich in der Zahnmedizin sind gewisse Versorgungslücken mit einem größeren sozialen Gefälle festzustellen.

Allgemeinmediziner stehen meist unter Vertrag von Gemeinden und arbeiten bevorzugt in Gruppenpraxen gemeinsam mit Pflegepersonen und anderem Fachpersonal. Sie sind als Gatekeeper für Krankenhauseinweisungen und fachärztliche Versorgung eingesetzt, wobei die Bürgerinnen und Bürger in der Auswahl ihres Krankenhauses oder ihres Facharztes völlige Wahlfreiheit genießen. Für die Spitalsbehandlung gilt die freie Wahl sogar für den gesamten europäischen Raum, allerdings ohne Refundierung der Transportkosten.

Norwegen war sehr erfolgreich bei seinen Bemühungen, die Versorgung in den ambulanten Sektor zu verschieben, und hält weniger als ein Drittel der Krankenhausbetten im Vergleich zu Österreich vor. Durch Ausweitung der digitalen Services, Verbesserung der Koordination von Gebietskörperschaften und Spitälern und neue Modelle für multidisziplinäre Primary Care Teams konnten die Spitalsaufenthalte kontinuierlich reduziert werden.

Primärversorgung und Gesundheitsförderung haben generell in Norwegen einen hohen Stellenwert. Die Gebietskörperschaften nehme diese Aufgaben im Sinne einer „Health in all Policy“ engagiert wahr. Allgemeinmediziner können zum Beispiel körperliches Training in Gesundheitszentren der Gemeinden für Patienten verschreiben, wenn diese ihren Lebensstil ändern wollen. Ein umfassendes Impfangebot für die 13 häufigsten Infektionskrankheiten wird für Kinder ab drei Jahren gratis angeboten. Die Impfungen sind zwar freiwillig, die Impfrate für die meisten im Programm angebotenen Impfungen beträgt aber deutlich über 90 Prozent.

Kein Licht ohne Schatten: Der Fokus auf die Primärversorgung führt zu einem relativen Mangel an Spezialisten, besonders in den chirurgischen Fächern. Daher sind in Norwegen die Wartezeiten auf elektive Eingriffe wie Katarakt-Operationen oder Hüft- und Knieprothesen länger als in vielen anderen europäischen Ländern. Die politischen Initiativen gegen diesen Versorgungsmangel mussten wegen der COVID-19-Pandemie vorübergehend ausgesetzt werden. Das Gesundheitsministerium legte für 2021 aber bereits wieder eine Wartezeit-Garantie von unter 50 Tagen für alle intramuralen Behandlungen fest.

In Norwegen war der Trend zur Telemedizin im Gefolge der COVID-19-Pandemie extrem stark ausgeprägt. Am Höhepunkt der ersten Pandemie-Welle 2020 fanden über 40 Prozent der ambulanten Kontakte telemedizinisch statt. Der Premierminister hat den Spitälern für 2021 das Ziel vorgegeben, mindestens 15 Prozent der fachärztlichen Konsultationen digital durchzuführen.

Finanzierung und Ressourcen

Die Gesundheitsausgaben pro Kopf sind unter den höchsten in Europa, wenngleich sich der Anteil am BIP nur gering über dem EU-Durchschnitt befindet. 85 Prozent der Kosten für die Gesundheitsversorgung werden öffentlich durch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge getragen, was in Europa den höchsten Anteil darstellt. Die restlichen 15 Prozent gehen zu Lasten der privaten Haushalte („Out-of-Pocket“). Die gesamten Gesundheitsausgaben teilen sich in Norwegen zu je etwa 30 Prozent auf Krankenhausversorgung, ambulante Versorgung und Langzeitpflege auf. Damit wird mehr in die Langzeitpflege investiert als in jedem EU-Mitgliedstaat. Außerhalb der Krankenhäuser fallen in Norwegen für Arzneimittel und medizinische Verbrauchsgüter weniger Kosten an als im Durchschnitt der EU-Länder, für Prävention sind die Ausgaben anteilsmäßig etwa gleich.

Die Ausstattung des Gesundheitssektors mit Fachpersonal ist im internationalen Vergleich sehr komfortabel. Beim ärztlichen Personal kommt Norwegen nahe an den europäischen Spitzenwert von Österreich heran, beim Pflegepersonal ist Norwegen in Europa führend. Trotzdem werden auch dort Anstrengungen unternommen, einem drohenden Pflegemangel entgegenzuwirken. Bemerkenswert ist, dass ein sehr hoher Anteil der in Norwegen tätigen Ärzte und Pflegekräfte im Ausland ausgebildet wurde. Mehr als 40 Prozent der Ärzte haben ein ausländisches Diplom. Von diesen sind allerdings wiederum etwa die Hälfte gebürtige Norweger, welche infolge der Studienplatz-Beschränkung hauptsächlich nach Polen, Ungarn oder in die Slowakei ausgewichen sind.

Das System ist für alle da. Das norwegische Königspaar Sonja und Harald auf dem mühevollen Weg zum Galadinner mit Regierung und Vertretern des Parlaments.

Ergebnisse

Drei Viertel der Norwegerinnen und Norweger schätzen ihren Gesundheitszustand als gut ein, womit sie sich gesünder fühlen als die meisten anderen Europäer. Die Bevölkerung mit niedrigerem Einkommen leidet, wie in allen Regionen der Welt, öfter an chronischen Erkrankungen und schätzt ihren Gesundheitszustand auch weniger gut ein als Personen mit höherem Einkommen. Diese einkommenskorrelierte Ungleichheit des Gesundheitszustandes ist in Norwegen jedoch wiederum geringer ausgeprägt als in den meisten anderen Ländern Europas.

Verhaltensbezogene Risikofaktoren wie Rauchen und Alkoholkonsum führen zu weniger Todesfällen im Vergleich zum EU-Durchschnitt. Public Health-Initiativen konzentrieren sich daher auf Maßnahmen gegen Übergewicht, physische Inaktivität und den Gebrauch von „Snus“, einem oralen Tabakprodukt. Letzteres wird andererseits wiederum dafür verantwortlich gemacht, dass der viel schädlichere Tabakkonsum durch Zigarettenrauchen in Norwegen vergleichsweise wenig verbreitet ist. Der Alkoholkonsum ist niedriger als in allen EU-Ländern, was als Erfolg einer sehr konsequenten restriktiven Politik gesehen werden kann: hohe Preise für alkoholische Getränke infolge hoher Besteuerung, Beschränkung der Bezugsquellen und Werbeverbot.

Die Mortalität aus vermeidbaren Ursachen ist in Norwegen geringer als in Europa, was auf ein gut funktionierendes Public Health- und Primärversorgungssystem hinweist sowie auf einen vergleichbar gesunden Lebensstil. Auch die Mortalität aus behandelbaren Ursachen ist sehr niedrig, bedingt durch niederschwelligen Zugang zu hochqualitativer medizinischer Versorgung. Nationale Screeningprogramme und standardisierte Behandlungspfade führten dazu, dass die Fünfjahres-Überlebensrate für die häufigsten Krebserkrankungen in Norwegen höher liegt als im Durchschnitt der EU-Länder.

Fazit

Norwegen ist nicht nur ein sehr reiches Land, das in der Lage ist, viel in sein Gesundheitssystem zu investieren, es geht auch sorgsam mit seinen Ressourcen um. Wie in anderen skandinavischen Ländern zeigt sich an seinem Beispiel die Effektivität eines gut entwickelten Primärversorgungssektors, was sich an langfristigen Outcome-Parametern ebenso ablesen lässt wie an der Performance in Krisen­zeiten. 

Quellen und Links zum Weiterlesen:

Saunes I S, Karanikolos M, Sagan A. Norway: Health system review. Health systems in Transition, 2020; 22(1): i–163.

OECD/European Union (2022), Health at a Glance: Europe 2022: State of Health in the EU Cycle, OECD Publishing, Paris, https://doi.org/10.1787/507433b0-en.

Coronavirus Commission (2021), Myndighetenes håndtering av koronapandemien – Rapport fra Koronakommisjonen. Norges Offentlige Utredninger, No. 2021:6.

European Observatory on Health Systems and Policies (2022), Norway: Health System Summary. WHO Regional Office for Europe on behalf of the European Observatory on Health Systems and Policies, Copenhagen.

OECD/European Observatory on Health Systems and Policies (2021), Norway: Country Health Profile 2021, State of Health in the EU, OECD Publishing, Paris/European Observatory on Health Systems and Policies, Brussels.