Mixed Reality: Die wahren Abenteuer sind im Kopf

Lesedauer beträgt 4 Minuten
Autor: Alexandra Keller

Das Linzer Start-up cortEXplore nutzt die Technologie von Mixed Reality, um neurochirurgische Eingriffe mit bisher ungekannter Präzision umzusetzen. Mithilfe der virtuellen Projektionen werden Gehirnoperationen möglich, die bislang als zu riskant abgelehnt wurden.

Die amerikanischen Siedler, die als Erste in den unbekannten „wilden“ Westen vorgedrungen sind, stehen Pate für die Geisteshaltung, die mit „Frontier-Spirit“ verbunden wird. Grenzen überschreiten und neue Welten entdecken ist nicht die schlechteste Triebfeder für Gründungen und Innovationen. Oder für Wissenschaftler, die beide Ziele verfolgen – wie Stefan Schaffelhofer. „Es bereitet mir viel Freude, mit unserer Firma Werkzeuge zur Verfügung zu stellen, mit denen das Gehirn neuartig studiert und untersucht werden kann“, nennt der Linzer einen der Gründe, am Morgen in sein Unternehmen zu eilen.

Stefan Schaffelhofer ist Neurowissenschaftler. Er hat auch einen medizintechnischen Background und ist Mitgründer des Start-ups cortEXplore. Mit der Soft- und Hardware-Technologie des Linzer Unternehmens können chirurgische Instrumente winzig kleine Gehirnareale erreichen und neurochirurgische Eingriffe in bislang unbekannter Genauigkeit und Treffsicherheit durchgeführt werden. Mit dem intuitiv zu bedienenden Navigationssystem werden komplizierte Gehirnoperationen geplant, geprobt und durchgeführt.

Revolution mit Präzision. Stefan Schaffelhofer (li) entwickelte seine ersten Entwürfe während seiner Jahre an der Rockefeller University in New York. In Linz und mit Co-Founder Robert Prückl an der Seite reifte cortEXplore zur umsetzbaren Geschäftsidee.

Quantensprung

Die Linzer Entwicklung repräsentiert den Höhepunkt eines Fortschrittes, der in der Neurochirurgie mit groben Schätzungen, großen Schädelöffnungen und vielen Überraschungen ihren Anfang genommen hat. Es zählt heute zum Standard der OP-Technik, durch kleinste Öffnungen mit kleinsten Elektroden ins Gehirn zu gelangen. Dazu werden mechanische Rahmen eingesetzt, in die der Patientenkopf eingespannt ist und auf dem die Instrumente über mechanische Gelenke vorab eingestellt werden. Diese Methode der Fixierung gilt als hochkomplex und schwierig.

Das Verfahren von cortEXplore nutzt die Techniken des digitalen Fortschritts. Ein Multikamerasystem an der Decke des OP, eine Datenbrille und intelligent vernetzte Instrumente verschmelzen mithilfe der Linzer Schöpfung zu einem smarten Operationsbesteck: Die Linzer Entwicklung verarbeitet alle relevanten Bildgebungsformate (CT, MRT oder funktionelle Magnetresonanztomografie) in Echtzeit. Der Operateur verfolgt seine Instrumentenführung am Monitor, ohne den Patienten aus dem Auge zu verlieren. Die Mixed-Reality-Brille zeigt ihm den Patienten in realen Bildern, die je nach Bedarf mit den virtuell sichtbar gemachten MRT- oder CT-Daten überlagert werden. Das Gerinsel oder der Tumor bleiben virtuell im Blick. Ausbildung und Gewöhnung an die Operationsmethode in Mixed Reality verlaufen sehr kurz, wie Schaffelhofer betont. Die operierenden Mediziner erfassen die Möglichkeiten der Datenbrille intuitiv. „Die Operateure spüren sofort, wie präzise das System arbeitet“, weiß Schaffelhofer. Mithilfe der bildgebenden Befunde werden komplizierte Eingriffe lange vor Operationsbeginn anhand eines personalisierten Modells des Schädels, Gehirngewebes und der Gefäße exakt geplant. „Es ist zudem möglich, die Daten an einen 3D-Drucker zu senden, die anatomischen Strukturen zu drucken und diese zum Trainieren beziehungsweise Vorbereiten der OP zu verwenden“, erklärt Schaffelhofer und betont: „Aus unserer Sicht haben wir die genaueste Lösung, die derzeit existiert.“

Schein trifft Sein. Mithilfe einer Datenbrille liefert die Software eine personalisierte Abbildung der Patientenanatomie. Der Chirurg sieht während des Eingriffes parallel das reale Bild des Patienten und die virtuelle Projektion der CT- oder MRT-Daten.

Das Mixed-Reality-Verfahren von cortEXplore bringt nicht nur eine neue Präzision in die Neurochirurgie, sondern erlaubt die realititätsgetreue Simulation einer schwierigen Operation. Eingriffe werden möglich, die bislang als zu riskant abgelehnt werden mussten. Denn das Gehirn wird nicht umsonst als das mit Abstand komplizierteste Organ in der uns bekannten Natur bezeichnet. 100 Milliarden Nervenzellen, eine extrem hohe Dichte an Knochen, funktionalem Gewebe und Blutgefäßen erlauben Neurochirurgen nicht den kleinsten Fehler. „Es gibt genügend Dinge, um die man sich während eines komplexen Eingriffes sorgen muss. Der cortEXplorer erlaubt es uns, nicht nur besser und schneller zu sein, sondern auch mehr Vertrauen in unsere Ergebnisse zu haben“, sagt beispielsweise Professor Jan Zimmermann, Neurowissenschaftler an der Universität von Minnesota, einer Forschungspartnerin des Linzer Unternehmens.

Zu den High-End-Kunden im Forschungsbereich, die bereits mit dem cortEXplorer arbeiten, zählen auch die Yale University in Connecticut oder die Rockefeller University in New York, wo Stefan Schaffelhofer 2014 selbst geforscht hat. „Wir haben Hirnareale untersucht, die für Gesichtserkennung und emotionale Verarbeitung zuständig sind, und mussten diese Kubikmillimeter kleinen Areale mit Elektroden erreichen“, erzählt er von den Herausforderungen.

US-Aufenthalt befeuert Entwicklung

Ohne an eine Start-up-Gründung zu denken, entwickelte Schaffelhofer die erste Version des cortEXplorers. Rasch wurde die Technologie für andere Anwendungen im Forschungslabor an der Rockefeller University verwendet. Die Idee lag nahe, aus dem Prototypen ein marktfähiges Produkt zu entwickeln. 2018 kehrte der Österreicher in seine Heimat zurück, spann die Idee weiter und gründete Ende des Jahres zusammen mit Chefentwickler Robert Prückl und Mentor Josef Kramer das Unternehmen. „Das AWS und die FFG waren und sind ganz wichtige Finanzierungspartner. Zusätzlich zu diesen Förderungen generieren wir bereits beträchtliche Umsätze durch Verkäufe an unsere Forschungspartner. So haben wir es mit sehr wenig Fremdkapital geschafft, den cortEXplorer fast bis zur medizinischen Zulassung zu bringen“, lenkt der CEO den Blick auf die österreichische Förderlandschaft.

Keine Einbildung. Mithilfe der cortEXplore-Software und der Datenbrille sieht der Operateur ein gemischtes Bild aus Realität und Projektion.

„Wir sind aktuell seit fast einem Jahr im OP. Im April 2023 wird die klinische Studie am Kepler Universitätsklinikum abgeschlossen“, bringt Schaffelhofer einen weiteren entscheidenden Partner ins Spiel. Der Leiter der Universitätsklinik für Neurochirurgie und Dekan für Forschung an der Medizinischen Fakultät der Johannes Kepler Universität Linz, Andreas Gruber, hat das Start-up frühzeitig unterstützt. „Nur wenige medizinische Fächer sind so stark von medizintechnischen Fortschritten abhängig wie die Neurochirurgie“, stellte Gruber Ende November 2022 in einer Presseaussendung klar und hielt zur Kooperation mit cortEXplore fest: „Der Umstand, dass die hier verwendete Technik von einem oberösterreichischen Unternehmen entwickelt wurde, dessen Leiter selbst an der Rockefeller University in New York an diesem Verfahren geforscht hat, unterstreicht die wachsende Bedeutung des universitätsmedizinischen Standorts Linz.“ Bei Professor Gruber und seinem Team diagnostiziert Schaffelhofer eben diesen „Frontier-Spirit“, der für das Erkunden unbekannter Welten und Möglichkeiten so essenziell ist. Und Wachsen ist auch ein Stichwort für das Start-up.

Aktuell halten sechs Mitarbeiter das cortEXplorer-Rad im Schwung und stellen ihre Multitasking-Fähigkeiten unter Beweis. Während die Zusammenarbeit mit den High-End-Kunden an den renommierten Universitäten reibungslos funktioniert und die hohen Ansprüche der Spitzen-Wissenschaftler die Innovationsenergie im Unternehmen weiter pushen, verlangt der Medizinbereich anderes Geschick. „Da müssen die Marketingausgaben deutlich höher sein. Das ist der nächste Schritt. Wir werden für einen ordentlichen Kapitalschub sorgen, damit wir schneller wachsen können“, sagt Schaffelhofer. Das Start-up hat konkrete Partner im Auge und eine weitere Innovation im Köcher. Robotik und Automatisation sind dabei die Stichworte. Und der Frontier-Spirit bleibt als Antrieb.  

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren: