Lauterbachs Revolution

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Autor: Heinz Brock

Der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach will die Fallpauschale zurückfahren, um Krankenhäuser in den ländlichen Regionen besser zu finanzieren. Kliniken sollen sich durch die Reform stärker spezialisieren und weniger konkurrieren.

Die Probleme des deutschen Krankenhaussektors klingen aus österreichischer Sicht vertraut: Hohe Fallzahlen in der stationären Versorgung, resultierend aus ökonomischen Anreizen durch das Vergütungssystem. Über Fallpauschalen werden den Krankenhäusern gleichartige Behandlungsfälle einheitlich abgegolten, unabhängig davon, mit welcher Qualität und welchem Aufwand die Behandlungen durchgeführt wurden. Damit ist aus wirtschaftlicher Perspektive die Tendenz zur Mengenausweitung für lukrative Fälle und zur Vermeidung unrentabler Fälle gegeben. Zudem werden in diesem System attraktive Fälle vielfach auch in Häusern erbracht, in denen bei Ausstattung und Expertise keine optimale Voraussetzungen vorhanden sind. Der demografisch bedingte Personalmangel in den Gesundheitsberufen potenziert die Unzufriedenheit der frustrierten Belegschaften der Krankenhäuser.

Nach fünf Jahren Konvergenzphase soll eine Reform umgesetzt werden, die von Karl Lauterbach gerne vollmundig als Revolution bezeichnet wird. Ein Expertenrat von 17 renommierten deutschen Medizinern und Gesundheitswissenschaftlern steht dem Gesundheitsminister als Regierungskommission beratend zur Seite und bereitet laufend wissenschaftlich fundierte Empfehlungen zur Lösung der hochkomplexen Problematik auf. In einem Gespräch mit dem Handelsblatt zeigt sich der deutsche Gesundheitsminister optimistisch, bis Sommer die „Eckpunkte einer guten Reform“ ausverhandelt zu haben.

Kompetente Verwirrung. Mit Karl Lauterbach agiert ein ausgewiesener Kenner des deutschen Gesundheitssystems als Minister.
Auch er droht sich im Dickicht der Kompetenzen zu verirren.

Zielrichtungen der Reform

Mit seiner Reform geht es Lauterbach darum, das Fallpauschalensystem langfristig zu überwinden. Bei der Einführung der deutschen DRG-Vergütung vor genau 20 Jahren war ebendieser Professor Lauterbach der wichtigste Berater der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. Einige Ziele, die bei der Ablöse der Tagespauschalen durch Fallpauschalen angestrebt wurden, nämlich Senkung der langen Liegedauern und Straffung der Behandlungsprozesse, konnten dabei sehr wohl erreicht werden. Die langfristigen Nebenwirkungen der Ökonomisierung wurden jedoch zunehmend zum zentralen Versorgungsproblem und eine Kostenreduktion im stationären Sektor stellte sich nicht ein.

Zukünftig soll ein Drittel der Leistungen durch Vorhaltepauschalen abgedeckt sein, zwei Drittel sollen weiterhin durch die Fallpauschalen finanziert werden. Man erwartet sich davon, dass der wirtschaftliche Druck von den Kliniken genommen wird, nicht notwendige stationäre Behandlungsfälle produzieren zu müssen, um dem Konkurs zu entgehen. In der Kinder- und Jugendmedizin sowie in den Geburtenabteilungen, der Notfall- und Intensivmedizin sollen sogar 60 Prozent des Fallpauschalenanteils durch Vorhaltepauschalen ersetzt werden, was diese sensiblen, durch das DRG-System nur unzureichend abbildbaren Versorgungsbereiche absichern soll. Damit die Behandlung von Patientinnen und Patienten künftig mehr nach medizinischen und weniger nach ökonomischen Kriterien erfolgen kann, erhalten die Krankenhäuser nach der Reform eine Mischfinanzierung aus dem 2020 eingeführten Pflegebudget, den verbleibenden DRG-Pauschalen und dem neuen Vorhaltebudget.

Der Terminus „Ökonomisierung der Medizin“ hat in Lauterbachs Reformpaket aber noch eine weitere Facette. Finanzinvestoren haben in den vergangenen Jahren Hunderte von Arztpraxen und medizinische Versorgungszentren (MVZ) aufgekauft und auf hohe Gewinne spekuliert. Diesem Trend will der Minister entgegenwirken und den Kauf von Arztpraxen durch Finanzinvestoren künftig verhindern.

Die Reform zielt auch darauf ab, eine Leistungsplanung im Sinne der Qualitätssicherung einzuführen. Dazu wurden für drei Versorgungsstufen Strukturvorgaben definiert, welche für lokale Grundversorgung (Level I), regionale Regel- und Schwerpunktversorgung (Level II) und Maximalversorgung bis hin zur Universitätsmedizin (Level III) jeweils vorausgesetzt werden. Für jedes Level sollen einheitliche Mindestvoraussetzungen und damit erstmals einheitliche Standards für die apparative, räumliche und personelle Ausstattung gelten. Eine verbindliche Festlegung des Angebotes eines Krankenhauses wird in Zukunft über 128 Leistungsgruppen mit detaillierten Strukturvorgaben möglich sein. Gewisse Leistungsgruppen dürfen nur mehr in Häusern ab einem höheren Level erbracht werden. Die Abrechnung von fachspezifischen Behandlungen setzt zukünftig nicht nur das Bestehen der entsprechenden Fachabteilung voraus, sondern erfordert zusätzlich die Genehmigung der jeweiligen Leistungsgruppe. Für jedes Krankenhaus ist somit geregelt, welche Leistungen erbracht werden dürfen und gemäß einem Versorgungsauftrag auch erbracht werden müssen. Der Grund dafür ist, dass Krankenhäuser derzeit gewisse Fälle wie Herzinfarkte, Schlaganfälle oder onkologische Erkrankungen zu häufig auch ohne passende personelle und technische Ausstattung behandeln.

Krankenhäuser sollen sich durch die Reform stärker spezialisieren und weniger konkurrieren. Schließungen von Krankenhäusern sind in den Plänen nicht vorgesehen. Vielmehr sollen kleine, durch den Konkurrenzdruck in Existenznot gebrachte Häuser mit neuem Leistungsspektrum erhalten werden.

Notfallversorgung kippt. Die Notaufnahmen der Krankenhäuser quellen über, während der extramurale Notfallzentren-Bereich
immer weniger Patienten versorgt. Integrierte Notfallzentren sollen auch mit Mitteln der Telemedizin die Patientenströme lenken.

Eine besondere Rolle soll im reformierten deutschen Gesundheitssystem den Grundversorgern des Levels eins zukommen, indem sie wohnortnah allgemeine und fachärztliche Leistungen mit Akutpflegebetten verbinden sollen. Je nach regionalen Gegebenheiten sollte es möglich gemacht werden, dass dieses integrierte Konzept flexibel als Gesundheitszentrum mit ambulanter Medizin plus Akutpflegebetten ohne Fachabteilungszuordnung, aber unter der Leitung qualifizierter Pflegefachpersonen realisiert wird. Im Gegenzug wird es den Krankenhäusern der Schwerpunkt- und Maximalversorgung gestattet, sämtliche bisher vollstationär erbrachten Behandlungen als Tagesbehandlungen durchzuführen und über das DRG-System abzurechnen. Aus dieser Öffnung der Sektorengrenzen durch flexiblere Versorgungsstrukturen und die Entschärfung der Fehlanreize des DRG-Systems soll der Ambulantisierung der Medizin ein Schub verpasst werden. Eine Studie der Münchner Gesundheitsökonomin Leonie Sundmacher, die auch Mitglied der Regierungskommission ist, hat bereits 2015 ergeben, dass 3,7 Millionen Krankenhauseinweisungen im Jahr wegen ihres ambulant-sensitiven Charakters vermieden werden könnten, was einem jährlichen Sparpotenzial von 7,2 Milliarden Euro entspricht. Von der Verlagerung der Medizin in den ambulanten Bereich wird auch erwartet, dass das bestehende Personal besser eingesetzt werden kann, weil beispielsweise weniger Nachtschichten in der Pflege notwendig wären.

Handlungsbedarf sieht die Regierungskommission auch in der Notfallversorgung, da diese in besonderem Maße von Fehlsteuerung und Fehlversorgung betroffen ist. Während die Gesamtzahl der Notfallpatienten im Zeitraum von 2009 bis 2019 um 12 Prozent zugenommen hat, nahm die Zahl der vom niedergelassenen Bereitschaftsdienst versorgten Patienten um zwölf Prozent ab, die Zahl der in Notaufnahmen Versorgten um 28 Prozent zu. Krankenhäuser beklagen zunehmend die Fehlinanspruchnahme der Notaufnahmen. Eine bedarfsgerechte Versorgung von Notfall- und Akutpatienten soll durch Vernetzung und Koordination der bisher sektoral getrennten Bereiche Notaufnahmen der Kliniken, Notfallversorgung der Kassenpraxen und der Notfallrettung erreicht werden. Diese Vernetzung soll durch integrierte Notfallzentren in allen Krankenhäusern der erweiterten und umfassenden Notfallversorgung umgesetzt werden, welche wiederum über integrierte Leitstellen als primäre Anlaufstellen für Notfälle digital kommunizieren sollen. Die geplanten Leitstellen sollen rund um die Uhr über ein umfangreiches Leistungsangebot verfügen, von medizinischer Ersteinschätzung, telemedizinischer Beratung, Verordnung von Notfallmedikamenten bis hin zur Weiterleitung an geeignete Behandlungseinrichtungen. Bezüglich der Finanzierungsmöglichkeiten für dieses tiefgreifende Veränderungsprojekt werden noch Varianten diskutiert. Über die Sanktionierungen der integrierten Organisationen bei nicht erfüllten Qualitätsstandards ist die Regierungskommission aber schon erstaunlich konkret geworden.

Tu felix Austria?

Aus österreichischer Sicht spielt sich in Deutschland derzeit ein höchst interessantes Szenario ab. Die zentralen Themen des Gesundheitswesens, die der deutsche Gesundheitsminister auf seine Agenda gesetzt hat, kennen wir nur zu gut. Und manche von uns werden sogar dazu verleitet sein, sich auf die Brust zu klopfen, weil in unserem österreichischen Gesundheitssystem schon lange einige der Lösungsansätze bereits realisiert sind. Das LKF-System hat beispielsweise nicht annähernd die ökonomische Schärfe des deutschen DRG-Systems, da die Unterfinanzierung der Fallpauschalen durch eine Abgangsdeckung aus Fondsmitteln kompensiert wird. Und der Österreichische Strukturplan Gesundheit könnte durchaus als Blaupause für die Versorgungslevels und Leistungsgruppen der deutschen Reformer gedient haben. Leider kommt man aber um die Erkenntnis nicht herum, dass uns diese österreichischen Wege vor keinem der Probleme bewahrt haben, die Karl Lauterbach mit seiner Reform bekämpft. Wir dürfen also gespannt auf die Entwicklung im Nachbarland blicken. Dem renommierten Gesundheitswissenschaftler und erfahrenen Politiker sind Erfolge durchaus zuzutrauen. Wenn es ihm aber gelingen sollte, die föderalen Zuständigkeiten mit den zentralen Steuerungskompetenzen unter einen Hut zu bringen, dann hat er im deutschsprachigen Gesundheitswesen tatsächlich eine Revolution bewirkt. 

So sollen deutsche Kliniken entlastet werden

  • Es wird Krankenhäusern gestattet, sämtliche bislang vollstationär erbrachten Behandlungen als Tagesbehandlungen durchzuführen, soweit dies medizinisch vertretbar ist.
  • Tagesbehandlung setzt zwingend voraus, dass am Ort der Behandlung Krankenhausstrukturen und die Möglichkeit der notfallmäßigen Behandlung über Nacht vorhanden sind.
  • Die Tagesbehandlung wird wie bisher als DRG abgerechnet.
  • Tagesbehandlung soll in gleicher Weise für gesetzlich oder privat Versicherte (und Beihilfeberechtigte) eingeführt werden.               
  • Eine Kombination von Tagesbehandlung mit prä­ oder poststationärer Behandlung ist nicht statthaft.  
  • Um eine Umwidmung von Notaufnahmebehandlungen zu vermeiden, sind eintägige Tagesbehandlungen von notfallmäßig (d. h. ohne Einweisung) aufgenommenen Patientinnen und Patienten nicht möglich.
  • Es werden Anreize für die Krankenhäuser geschaffen, Tagesbehandlungen durchzuführen:
  • In verschiedenen Berufsgruppen reduzieren sich Nacht­ und Wochenenddienste, was die individuelle Belastung des Personals merklich senkt (Verbesserung des Patienten­/Personalschlüssels).
  • Wenn Stationen ganz oder teilweise nicht mehr vollstationär, sondern für Tagesbehandlung genutzt werden, werden Räume frei, die anderweitig zur Verfügung stehen.
  • Die Möglichkeit der Tagesbehandlung darf nicht zu einer Leistungsausweitung durch das Krankenhaus führen.
  • Die eingesparten Kosten müssen größer sein als der Abzug von der Vergütung.  
  • Als Tagesbehandlung dürfen nur Leistungen erbracht werden, die bislang stationär durchgeführt wurden und für die die Infrastruktur eines Krankenhauses erforderlich ist.

Die Empfehlungen wurden der zweiten Stellungnahme der Regierungskommission entnommen.

Quellen und Links:

Bundesgesundheitsministerium Krankenhausreform Paediatrie und Geburtshilfe

Bundesgesundheitsministerium Krankenhausreform Bericht II

Bundesgesundheitsministerium Krankenhausreform KH Vergütung

Bundesgesundheitsministerium Krankenhausreform Notfall

NDR Panorama

Sundmacher, L., Fischbach, D., Schüttig, W., Naumann, C., Faisst, C. (2015): Which hospitalisations are ambulatory care-sensitive, to what degree, and how could the rates be reduced? Results of a group consensus study with German providers. Health Policy. 119(11): 1415-1423. doi:10.1016/j.healthpol.2015.08.007.

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