Medizinischer Forschungsstandort Wien: Disziplinlos

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Autor: Josef Ruhaltinger

In Wien werden derzeit zwei Zentren für medizinische Grundlagenforschung hochgezogen. Offensichtlich: Das Denken in Fachdisziplinen hat ausgedient. Erfreulich: Wien hat als Forschungsstandort in der Medizin kräftig aufgeholt.

Wenn es eine Schule für Bürgermeister gäbe, wäre Grundsteinlegung ein Maturafach – und Michael Ludwig ein Vorzugsschüler. Ende Jänner rückte der Wiener Gemeindevorsteher aus, um den medizinischen Forschungsstandort Wien zu altem Glanz zu verhelfen: Er verkündete in großkoalitionärer Begleitung – Wissenschaftsminister und Ex-Rektor Martin Polaschek durfte als Co-Finanzier auch mitmachen – den Baustart des „Eric Kandel Instituts – Zentrum für Präzisionsmedizin“, so der volle Titel. Rund 200 Forscher und Forscherinnen sollen bis Ende 2026 perfekte Strukturen vorfinden, um Präventions-, Diagnose- und Therapiemethoden zu entwickeln, die sich an den genetischen Codes der Patienten orientieren.

Damit aber nicht genug. Wenige Wochen später wurde an gleicher Stelle der Baubeginn des Centers for Translational Medicine verkündet. Die vergangene Glorie Wiens als medizinischer Forschungs-Hotspot – die Namen Semmelweis, Freud, Landsteiner, Billroth seien genannt – soll über die Landesgrenzen hinaus sichtbar werden. Das CTM wird in einem eigenen Gebäudekomplex residieren, der im nachbarschaftlichen Verbund mit dem Eric Kandel Institut entsteht. Michael Ludwig verzichtete diesmal auf das Podium. Der Bürgermeister ließ sich vom Gesundheits-Stadtrat Peter Hacker vertreten. Mit dabei – gleichsam als Konstante – Bildungsminister Martin Pollaschek. Das CTM folgt dem Konzept der translationalen Medizin „Vom Labor zum Krankenbett und zurück ins Labor“ („from bench to bedside and back again“). Neue Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung sollen durch die Nähe zu Kliniken – das AKH liegt über der Straße – möglichst rasch in der Diagnose und Therapie von Erkrankungen eingesetzt werden. Die MedUni Wien hat sich mit diesem Forschungsansatz der „Translational Research“ in der Wahrnehmung der internationalen Forschungscommunity bereits weit nach vorne geschoben. Das CTM soll die Entwicklung befeuern und den Abstand von Spitzenforschung zu Spitzenmedizin deutlich verringern.

Noch unbestimmt ist der Baustart für ein drittes Projekt: Das Zentrum für Technologietransfer sucht noch nach flüssigen Geldquellen. Mit in Summe 500 hochqualitativen Arbeitsplätzen und modernster Infrastruktur erhält die medizinische Forschung am Standort Wien einen kräftigen Schub. Bürgermeisterschulen machen Sinn.

Im Schatten des AKH. Die neuen Forschungsgebäude sind nur durch eine Straße von Österreichs größter Klinik getrennt. Der direkte Zugang zu Patienten gilt unter medizinischen Forschern als enormer Standortvorteil.

Institut mit Querschnittsverständnis

„Wir sind die Moderatoren“, meint Christoph Binder, an der Med­Uni Wien Professor am Klinischen Institut für Labormedizin, und verweist im Videocall auf seinen Kollegen Walter Berger, Uni-Professor am Zentrum für Krebsforschung. Die beiden Wissenschaftler sind Mitglieder des Steuerungsteams, das den Bauverlauf des Eric Kandel Instituts begleitet. Die beiden Forscher sind vom Rektorat der MedUni Wien berufen – andere nennen es eingeteilt – worden, die „Perspektive der Nutzer während der Umsetzung“ zu wahren, wie Binder formuliert. Binder und Berger kümmern sich darum, dass während der mehrjährigen Bauarbeiten die Pläne mit den aktuellen und künftigen Technologieerfordernissen Schritt halten. Die MedUni-Professoren sollen – gemeinsam mit den Generalplanern – verhindern, dass Türen zu schmal, Verkabelungen zu schwach oder Absaugkamine zu niedrig werden. Schließlich soll der Forschungsbau den Wissenschaftlern die passende Infrastruktur bieten. „Der Wunschzettel ist längst geschrieben“, stellt Christoph Binder klar. Pläne und Konzepte für das Forschungsinstitut sind von einem großen Planungsteam weit im Vorfeld erstellt worden. Jetzt geht es darum, die Kluft zwischen Plan und Polier nicht zu groß werden zu lassen.

Der Aufbau eines neuen Forschungsinstitutes folgt eigenen Regeln. Präzisionsmedizin ist eine Querschnittmaterie. Zahlreiche medizinische und nicht-medizinische Fachgebiete überschneiden sich. Onkologe Walter Berger: „Das Haus muss so organisiert werden, dass der multidisziplinäre Ansatz bei der Besiedlung im Mittelpunkt steht.“ Eine Zuordnung der Forschenden nach Fachgebieten, Kliniken und Instituten sei völlig verkehrt. „Die Gestaltung des Institutes folgt präzisionsmedizinischen Ansätzen und aufregenden Projekten.“ Die Lösung der Kollegenschaft aus den gewohnten klinischen Institutsstrukturen ist in den Augen der beiden Mediziner kein Problem. Im Gegenteil. „Alle warten schon darauf, ohne Fachgrenzen arbeiten zu können“, versichert Labormediziner Christoph Binder. Für ihn sei einer der großen Vorteile des Projekts, dass die Forscher aus anderen Universitäten nebeneinander an gemeinsamen Themen arbeiten. „Wenn der Chemiker von der Universität Wien neben den Kollegen vom CeMM (Forschungszentrum für Molekulare Medizin, Red) und anderen Akademieinstituten an einer gemeinsamen Aufgabe arbeitet, dann hat das Institut sehr viel erreicht.“

NOBELPREISTRÄGER Eric Kandel (geboren 1929 in Wien) erhielt im Jahr 2000 den „Nobelpreis für Physiologie oder Medizin“ für die Entdeckung von chemischen und strukturellen Veränderungen im Gehirn aller lernenden Organismen, von Schnecken bis zum Menschen. Kandel musste im Jahr 1939 nach dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland mit seiner Familie in die USA emigrieren und erhielt 1945 die amerikanische Staatsbürgerschaft. 2009 wurde Kandel zum Ehrenbürger der Stadt Wien ernannt. 2012 erhielt er das Große Silberne Ehrenzeichen mit dem Stern für die Verdienste um die Republik Österreich, 1994 das Ehrendoktorat der Universität Wien und 2018 das Ehrendoktorat der Medizinischen Universität Wien. Kandel lebt in New York.

Die Forschungstätigkeit am Eric Kandel Institut soll einem nur losen inhaltlichen Raster folgen. Dabei stellen die fünf Cluster der MedUni Wien – Immunologie, Onkologie, Neurowissenschaften, Kardiovaskuläre Medizin und Medizinische Bildgebung – den Rahmen für jede Form von individualmedizinischen Forschungskooperationen dar. Förderungswürdige Projekte aus diesen Bereichen werden in Zukunft den Output des Eric Kandel Institutes ausmachen. Christoph Binder: „Es wird nicht verordnet, was dort zu forschen ist, sondern es kann sich jeder mit einem Projekt bewerben.“ Die genauen Strategien der Besiedlung, so Binder und Berger, „werden aber erst erarbeitet“.

Eine zentrale Aufgabe von Architektur und Organisation des neuen Forschungskomplexes sind Begegnungszonen. „Das wird ein Sammelbecken, an dem sich Menschen mit unterschiedlichen Fachgebieten und gemeinsamen Zielen ständig über den Weg laufen“, beschreibt Walter Berger die gewünschte Arbeitsatmosphäre. Wissensaustausch ist ein elementarer Baustein erfolgreicher Forschungstätigkeit. „Es wird immer unterschätzt, wie wichtig beiläufige Bemerkungen in der Cafeteria für ein Projekt sein können“, weiß Walter Berger. Es komme immer wieder zu Durchbrüchen, weil ein fachfremder Kollege einen Tipp oder die richtige Frage für ein spezielles Problem hat. „Wir sind in Gefahr, in der eigenen Suppe zu tief einzutauchen. Da braucht es manchmal einen Schubs von jemandem, der eine Aufgabe mit Abstand betrachtet“, so Berger. Planung und Aufbau des Institutes sind so angelegt, dass möglichst viele Räumlichkeiten für Begegnungen und Austausch zur Verfügung stehen. Dabei soll die kommunikative Atmosphäre nicht auf die Forschungsinstitute beschränkt bleiben. „Die neuen Forschungs- und Lehrgebäude werden beitragen, ein Campus-Feeling aufzubauen“, ist Kollege Binder überzeugt. Mit im Blick ist der 100 Meter entfernte Aufbau des neuen MedUni Campus Mariannengasse, in dem – exakt gegenüber dem alten AKH – bisher verstreute vorklinische Einrichtungen zusammengezogen werden und eine moderne Lernumgebung für Studierende geschaffen wird.

Keine Standortfrage

Das Eric Kandel Institut für Präzisionsmedizin soll nach Absicht der Bauherren den Wissenschaftsstandort Wien für die nächsten 20 Jahre absichern. Die Bundeshauptstadt habe „in der medizinischen Grundlagenforschung extrem aufgeholt. Und wir haben eine der größten Kliniken Europas im Hintergrund, was uns prädestiniert, Forschung und klinische Anwendung weiterzutreiben“, ist Christoph Binder nahezu schwärmerisch. Die riesige Zahl an Patienten sei ein „wissenschaftlich brachliegender Schatz“, der die Voraussetzung für einen guten medizinischen Forschungsstandort abgebe. Tatsächlich seien „Patienten ein natürlicher Flaschenhals der Forschung“, erklärt Krebsforscher Walter Berger. Die enge Assoziation zwischen der MedUni Wien und dem AKH sei mit ein Grund, warum US-Kliniken gerne mit Wiener Instituten kooperieren. Die US-Kollegen suchen den Zugang zu Patienten mit speziellen Erkrankungen.

Durch den Aufbau moderner Infrastruktur wie dem Eric Kandel Institut oder dem Zentrum für Translationale Medizin etabliert sich Wien in den oberen Etagen der medizinischen Forschung. Infrastruktur ist aber nur so ergiebig wie die Menschen, die die Räume erschließen. Die Internationalität der Forschenden ist dabei längst eine Selbstverständlichkeit. „Wir sprechen an meinem Labor nur englisch“, rüttelt Christoph Binder an einigen Vorurteilen. Er hält es für eine
„No Na“-Frage, ob Wien genug internationale Akteure locken könne. „Die sind schon da.“ Binder ist sich aber sicher, dass die Forschungszentren mit neuer Technologie und Infrastruktur die Attraktivität Wiens „vor allem für junge Forscherinnen und Forscher aus dem Ausland“ steigern werden – neben den bekannten Vorteilen, die Wien als Stadt zu bieten hat. „Probleme“, stimmt ihm Kollege Berger zu, „wird es in der Rekrutierung keine geben.“ Gut ausgestattete Institute hätten eben einen Pull-Faktor bei Berufungen. „Wenn Forscher die Voraussetzungen finden, die sie für ihre Arbeit benötigen, dann folgen sie den Einladungen“, so Berger. Auch in diesem Bereich habe sich der Ruf Wiens in den letzten Jahren deutlich verbessert. 

Personalisierte Präzisionsmedizin verändert Heilberuf

Jeder Mensch hat eine spezielle DNA und verfügt über eine einmalige, individuelle Gen-Sequenz. Die darin gespeicherten Informationen tragen wir einerseits seit Geburt mit uns, andererseits unterliegt unsere DNA im Lauf des Lebens individuellen Veränderungen. Diese Abweichungen können durch exogene Faktoren oder aber auch durch den Lebensstil bedingte Einflüsse hervorgerufen werden. Die genetische Disposition ist der Grund für ein mögliches, genbedingtes Risiko für eine bestimmte Erkrankung.
Die bisher auf der „one-size-fits-all“-Behandlungsmethode aufbauende Medizin ging häufig mit Nebenwirkungen oder teils geringen Heilungserfolgen einher. Die Präzisionsmedizin will durch die individuellen Therapieentwürfe höhere Wirksamkeit bei geringeren Nebenwirkungen erreichen. Grundlage der Präzisionsmedizin sind moderne Diagnostik-Methoden wie die Genom-Sequenzierung oder die molekulare Bildgebung. Damit soll es in Zukunft besser möglich werden, Patienten individuell zu behandeln und die Ursache der Erkrankung auf molekularer Ebene zu identifizieren.