Medizinstudium: Mit Bits und Bio

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Autor: Martin Hehemann

Bald soll in den vier öffentlichen österreichischen Med-Unis ein neues Pflichtfach in das Medizinstudium aufgenommen werden: die digitale Medizin.

Der Start verlief holprig. Kurz nachdem das Projekt bewilligt worden war und die Beteiligten loslegen wollten, kamen ihnen die ersten Lockdowns in die Quere. „Wir konnten plötzlich keine persönlichen Meetings mehr durchführen“, erinnert sich Georg Dorffner. „Das hat zu Verzögerungen geführt. Wir haben das schließlich mithilfe von digitalen Tools gelöst.“ Der Professor am Institut für Artifical Intelligence an der Medizinischen Universität Wien ist sich der Ironie durchaus bewusst: Ein Digitalisierungs-Projekt, das digitaler startet als vorgesehen – das hat was.

Dorffner leitet das Projekt „Digital Skills, Knowledge & Communication“ (DSKC). Das Vorhaben wird vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung gefördert. Beteiligt sind die vier öffentlichen Medizin-Universitäten in Österreich: die MedUnis in Wien, Graz, Innsbruck und Linz. Ziel des DSKC-Projektes ist es, konkrete Vorschläge zu entwickeln, wie man den Lehrplan für das Medizinstudium um eine neue Pflichtmaterie erweitern kann: Grundlagen und Prozesse der Digitalisierung in der Medizin. „Wir haben nicht vor, den Studierenden den Umgang mit Word und Excel oder Laptop und Smartphone beizubringen. Das darf man bei der heutigen Generation voraussetzen“, so der Informatik-Professor. „Es geht darum, die Grundlagen der digitalen Medizin zu vermitteln: Was bedeutet Digitalisierung in der Medizin? Was kann sie leisten und was nicht? Was muss man bei der Anwendung beachten?“

Lernen bis zum Anschlag. Digitale Medizin soll bis Ende 2024 in die Curricula der vier beteiligten MedUnis eingeführt werden. Die Bausteine für „Digital Skills“ werden eine Gewichtung von insgesamt vier ECTS haben.

Google genügt nicht

Was unter den Grundlagen der digitalen Medizin zu verstehen ist, verdeutlich Dorffner anhand einer Anwendung aus der Onkologie: Mittels Künstlicher Intelligenz (KI) ist es heute bereits möglich, Krebsdiagnosen zu stellen. Dabei werden umfangreiche Daten ausgewertet – das können beispielsweise die Daten aller Patientinnen und Patienten sein, die im Alter zwischen 50 und 60 Jahren an einer bestimmten Form von Krebs erkrankt sind und rauchen. Zu diesen Daten gehören meist Alter und Geschlecht, Informationen über Vorerkrankungen und Krebserkrankungen in der Familie sowie vorhandene Laborwerte. Wichtig: Damit die KI sie auswerten kann, müssen die Daten in einer strukturierten Form in einer Datenbank gespeichert werden, unter anderem vom Arzt. „Der Arzt muss wissen, wie Datenbanken funktionieren und Daten korrekt erfasst werden. Nur so kann er die Digitalisierung optimal nutzen“, fasst Dorffner zusammen. Der Informatikexperte weiter: „Als Laie ist man gewohnt, einfach auf Google zu gehen, wenn man etwas sucht. Das klappt gut, aber die Ergebnisse sind oftmals nicht strukturiert. In der Medizin genügt das nicht.“

Ein anderes Beispiel für das Wissen, das die Projektteilnehmer in Zukunft ihren Studierenden vermitteln wollen, stammt aus der Bildverarbeitung: Bilddaten sind für Fachbereiche wie die Radiologie, die Pathologie oder die Dermatologie schon heute enorm wichtig. Es gehört daher aus der Sicht von Dorffner und seinen Kollegen zum Rüstzeug des Mediziners, über das entsprechende technologische Know-how zu verfügen: Wie wird ein Bild gespeichert? Welche Verfahren und Dateiformate gibt es? Bei welchen Kompressionsverfahren gibt es Qualitätsverluste. „Ein Arzt sollte wissen, dass ein Bild an Qualität verliert, wenn man es über WhatsApp verschickt“, nennt Dorffner ein konkretes Beispiel. Aus seiner Sicht ist das Wissen über die Digitalisierung für angehende Medizinerinnen und Mediziner „genauso wichtig wie Kenntnisse der Biologie oder Anatomie“. Mit dieser Meinung ist Dorffner nicht allein. Anita Rieder, Vizerektorin für Lehre an der MedUni Wien, unterstreicht die Wichtigkeit des DSKC-Projekts. „Es ist nicht wichtig, dass die Studierenden jedes digitale Tool beherrschen, aber sie müssen wissen, welche Tools vorhanden sind und wo sie eingesetzt werden“, meint Rieder. „Und es geht nicht nur um die konkreten Anwendungen, sondern auch um die Grundkenntnisse: Ich verstehe besser, was der Algorithmus kann, wenn ich grundsätzlich weiß, wie er funktioniert.“

Wenig Wissen

Um besagte Grundkenntnisse ist es derzeit noch nicht allzu gut bestellt. Zum Start des DSKC-Projekts wurde eine Umfrage durchgeführt, an der mehr als 1.000 Studentinnen und Studenten der MedUnis teilgenommen haben. Die Ergebnisse waren eher ernüchternd. So konnten die Teilnehmer bei einem Wissens-Check nur ein Drittel der gestellten Fragen richtig beantworten. „Da hatten wir uns etwas mehr erwartet“, so Projektleiter Dorffner. Zudem zeigten sich keine Unterschiede zwischen den einzelnen Studienjahrgängen. Klarer formuliert: Egal ob ein Student oder eine Studentin seit zwei, vier oder zehn Semestern studierte – die Ergebnisse waren praktisch gleich. Und noch klarer ausgedrückt: Durch das Studium wird das Wissen über die digitale Medizin bislang nicht nennenswert erhöht. Vizerektorin Rieder von der MedUni Wien formuliert das Ziel des DSKC-Projektes daher folgendermaßen: „Es geht darum, die Digitalisierung systematisch im Curriculum zu verankern – und zwar studierfähig und prüfungsrelevant.“ Es sei wichtig, so Rieder weiter, „dass wir Basiskenntnisse über die digitale Medizin vermitteln, die für alle Studentinnen und Studenten verpflichtend sind.“ Bei diesen Bemühungen sieht Rieder die MedUni Wien international im Spitzenfeld: „Wir gehören zu den Pionieren.“

Lehrfach „Digital Health“. Projektleiter und AI-Professor an der MedUni Wien Georg Dorffner sowie Vizerektorin Anita Rieder zimmern an den künftigen Lehrplänen des Digital Health-Faches.

Arbeitsteilung im Team

Innerhalb des Projektes haben sich die beteiligten MedUnis auf eine Arbeitsteilung verständigt: Die MedUni Wien konzentriert sich auf die Grundlagen der digitalen Medizin. Die Kollegen in Graz und Innsbruck arbeiten an den ethischen und sozialen Aspekten. In Koproduktion haben die vier MedUnis eine Ringvorlesung namens „Health 4.0“ entwickelt, die im Wintersemester 2022/23 erstmals gehalten worden ist. Mit ihr werden die Studierenden über die aktuellen Entwicklungen informiert. Dazu Projektleiter Dorffner: „Das Wissen in der digitalen Medizin verändert sich rasant. Manches ist in zwei Jahren schon wieder überholt.“

Christian Vajda, Psychiater an der der MedUni Graz, leitet im Rahmen des Projekts die Entwicklung eines Kommunikationstrainings für Medizinstudenten. Der Fokus liegt hierbei auf der Telemedizin, also der Kommunikation zwischen Arzt und Patienten über digitale Medien wie einem Videocall. Vajda legt Wert darauf, dass diese Kommunikation sich deutlich vom persönlichen Gespräch unterscheidet. Vajda: „Sie ist eine eigene Behandlungsform.“ Er weist auf zwei wesentliche Unterschiede hin. Erstens: Bei einem Videocall „ist die emotionale Wahrnehmung eingeschränkt. Ich sehe am Bildschirm nur einen Ausschnitt und kann die Körpersprache nicht so gut erkennen. Daraus folgt: Ich muss als Arzt noch achtsamer und behutsamer vorgehen.“ Zweitens: Der Arzt hat beim Videocall viel weniger Möglichkeiten einzugreifen. „Stellen Sie sich vor, dem Patienten wird schlecht. Beim persönlichen Gespräch kann ich ihm etwas zu trinken geben oder ihm helfen, sich hinzulegen. Das geht über Videocall nicht“, erklärt Vajda.

Ein anderes Szenario: „Der Patient steht plötzlich auf und möchte das Gespräch beenden. Beim persönlichen Gespräch kann ich noch versuchen auf ihn einzuwirken, zum Beispiel, indem ich ihm nachgehe. Beim Videocall legt er einfach auf. Was mache ich dann?“ Der Psychiater hat mit seinem Team einen Leitfaden entwickelt, der den werdenden Medizinern als Checklist für die digitale Gesprächsführung dienen soll. Dieser Leitfaden besteht aus acht Schritten. Dazu zählen Regeln für die Vorstellung zu Beginn des Gesprächs und für das Verhalten bei technischen Problemen – zum Beispiel: Wer ruft dann nochmal an? In einem anderen Schritt wird der Datenschutz angesprochen, in einem weiteren geklärt, ob sich noch weitere Personen in den beiden Räumen befinden. Zum Schluss des Gesprächs halten Arzt und Patient fest, was besprochen wurde und was die nächsten Schritte sind. Vajda: „Das Gespräch in der Telemedizin muss deutlich strukturierter durchgeführt werden.“

Fingerspitzengefühl beim Videocall

Ebenso wichtig wie dieser Leitfaden ist für Vajda aber das Gespür, in welchen Situationen die Telemedizin das persönliche Gespräch ersetzen kann und in welchen nicht. „Ich würde das erste Gespräch mit einem neuen Patienten immer persönlich führen“, so Vajda. „Sobald ich die Patientin oder den Patienten besser kenne, ist dann ein Videocall möglich.“ Aber auch hier gibt es Unterschiede: Eine Erhebung der Anamnese sei aus Sicht von Vajda gut über Videocall möglich, ebenso gewisse Kontrolltermine bei Behandlungen. „Bei der Diagnose hängt es davon ab, wie gut man die Symptome über einen Videocall erkennen kann und um welche Diagnose es sich handelt“, so der Psychiater weiter. Nachsatz: „Eine ernsthafte Erkrankung würde ich immer nur persönlich besprechen.“

Wenn man dieses Fingerspitzengefühl einsetzt und die Regeln zur strukturierten Gesprächsführung berücksichtigt, bietet die Telemedizin eine attraktive Alternative zum persönlichen Termin in der Arztpraxis oder im Spital. Der größte Vorteil für Patientin oder Patient: die Zeitersparnis. Vajda: „Er oder sie erspart sich die Anreise und die Wartezeit. Das können schnell einige Stunden sein.“ Vajda hat mit seinem Team bislang ein Wahlfach für Kleingruppen mit bis zu acht Teilnehmern konzipiert. In einem nächsten Schritt soll es als Pflichtfach in das Curriculum des Medizinstudiums an der MedUni Graz eingebaut werden.

Medizin als Vollzeitstudium

Das Gleiche gilt für die übrigen Bausteine, die im DSKC-Projekt entwickelt werden. Das Ziel lautet, die digitale Medizin bis Ende 2024 in die Curricula der Humanmedizin an den vier beteiligten Universitäten einzuführen. Aus Sicht von Projektleiter Dorffner könnten diese Bausteine einen Umfang von insgesamt vier ECTS haben. Zum Vergleich: Das gesamte Medizinstudium an der MedUni Wien kommt auf 360 ECTS. Der Umfang hält sich so gesehen in Grenzen. Die Implementierung in die Curricula wird dennoch kein leichtes Unterfangen sein. Darüber machen sich auch die Beteiligten keine Illusionen. „Die Medizin ist jetzt schon ein Vollzeitstudium. Mehr kann man den Studierenden nicht zumuten. Und der Stoff, der bislang gelehrt wird, wird natürlich auch nicht weniger“, so Dorffner. Die aus seiner Sicht einzige Lösung: „Eine erhöhte Effizienz bei der Vermittlung der bisherigen Inhalte.“ 

Quellen und Links

Projekt: Digital Skills, Knowledge & Communication für Studierende der Medizin

Ringvorlesung Health 4.0 – Digitale Transformation im Gesundheitswesen an der MedUni Wien

Wahlfach zur Kommunikation in der Telemedizin an der MedUni Graz

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