Die verdrängte Krankheit

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Autor: Christian F. Freisleben

Obwohl Long Covid die Schlagzeilen prägt, ist Österreich von einer flächendeckenden Versorgung weit entfernt. Der Mangel an Spezial­-Ambulanzen führt zu monatelangen Wartezeiten.

Alexa Stephanou leidet unter Long Covid: „Ich möchte aktiv sein, arbeiten gehen, mich gesellschaftlich engagieren. Das allermeiste geht nicht, weil der Körper nicht kann.“ Schon Alltagstätigkeiten wie Einkaufen, Wäscheaufhängen oder Stiegensteigen kosten so viel Energie, dass danach gar nichts mehr geht. Neben Fatigue kommen Schwindel, Kreislaufprobleme, Kurzatmigkeit und andere Lungenprobleme dazu, weiters andauernder Geruchs­ und Geschmacksverlust, Stoffwechsel­ und Schlafprobleme, Konzentrations­- und Gedächtnisstörungen. Ebenso können aber Symptome von Schilddrüsen­ und Autoimmunerkrankungen die Folge sein. Die Verläufe erweisen sich als sehr unterschiedlich, es kann auch nach längeren „Pausen“ wieder zum Aufflammen überwunden geglaubter Beschwerden kommen. Long Covid kann sich 12 Wochen oder auch deutlich länger hinziehen. Betroffen sind zumindest zehn Prozent der Menschen nach einer Covid­-Infektion. Zu den Erkrankten zählen neben Erwachsenen und Senioren auch Kinder wie Jugendliche. Die psychische Belastung der Long­ Covid-Erkrankten ist für viele unerträglich.

Dauererschöpfung. Alexa Stephanou hatte Corona. Seither verweigert ihr Körper den Dienst.  Stiegensteigen wird zum Problem und ein Treffen mit Freunden zur Überforderung. Und niemand hörte ihr Klagen. Alexa Stephanou ist eine von fünf Gründerinnen der Selbsthilfegruppe „Long Covid Austria“.

Unverständnis und Unmut

Dass schon ein einfacher Spaziergang dazu führt, sich stunden­ oder tagelang ausruhen zu müssen, trifft nicht selten auf Unverständnis und Unmut. „Nicht nur einmal habe ich von Menschen, die beim Arzt waren, gehört, dass ihnen gesagt wurde: ‚Wenn Sie nichts Konkretes haben, dann gehen Sie wieder…‘“

Stephanou baute mit fünf weiteren betroffenen Frauen die Patientenvertretung der „Long Covid Austria – Selbsthilfegruppe & Patienteninitiative“ auf. Sie wurde aus der Not heraus Ende Jänner 2021 von Maarte Preller gegründet, einer jungen Grazerin, die selbst Betroffene ist. Es gäbe viele Hilferufe, um die sich niemand kümmerte. Und nach wie vor herrsche eklatanter Informationsmangel. Auch in großen Krankenhäusern fühle sich häufig niemand zuständig. Dazu kommen noch lange Wartezeiten auf Termine und ständige Auseinandersetzungen mit den Behörden, um die nötige Unterstützung zu erhalten. Viele Menschen mit Long Covid erhalten nach wie vor keine eindeutige Diagnose bzw. werden nur einzelne Symptome voneinander unabhängig bekämpft.

Long-Covid-Ambulanzen überfüllt

„Das größte Problem ist: Nach wie vor gibt es nur ganz wenige Stellen, wo die Diagnose gestellt wird, und es fehlen dann Konzepte für eine nachfolgende, standardisierte Therapie“, kritisiert Stephanou. In Österreich gibt es am AKH Wien und LKH Graz (Standort Eggenberg) Long-­Covid­-Ambulanzen. Erstere ist laut Gerald Gingold von der Ärztekammer Wien bis Jänner 2022 ausgebucht. Er fordert für die Bundeshauptstadt zumindest zwei weitere Ambulanzen, eine im Norden und eine im Süden. Dazu kommt, dass die Ambulanz am AKH aktuell „umgewandelt“ wird. Wie sich diese Station weiterentwickeln wird, ist ungewiss. Von einem „landesweiten Ambulanznetzwerk“, wie es die Leiterin der Long-­Covid-­Ambulanz in Wien, Mariann Gyöngyösi, schon im März einforderte, ist nach wie vor nichts zu sehen.

Am Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern Wien sowie im Herz­Jesu­-Krankenhaus werden zumindest spezielle Programme angeboten, bzw. ist im Letzteren der Aufbau einer spezialisierten Tagesklinik geplant, die auch auf psychische Probleme in Zusammenhang mit Long Covid ausgerichtet sein soll. In Tirol beschloss der Landtag im Mai die Etablierung eines integrierten, multidisziplinären Behandlungspfads für Long Covid, ausgerichtet u.a. am vorbildlichen Herz-Mobil­-Projekt für Menschen mit Herz-­Kreislauf­-Erkrankungen. „Nun ist die Landesverwaltung an der Reihe, gemeinsam mit den Tirol Kliniken ein Projekt auf die Beine zu stellen. Derzeit finden auch österreichweit Diskussionen mit den Kassen statt, wie eine Versorgungsstruktur aussehen kann; konkrete Ergebnisse sind momentan noch keine zu sehen“, so Gebi Mair von den Tiroler Grünen. Stephanou ergänzt aus Erfahrungsberichten, dass es in Graz nötig ist, viele Befunde schon mitzubringen, „obwohl ja genau das das Schwierige und Nervenaufreibende ist.“

Keine offiziellen Reha-Programme

Wie die ÖKZ berichtet, haben einige Rehabilitationseinrichtungen Programme für Menschen mit Long Covid eingerichtet. „Das stimmt schon, aber es gibt nach wie vor kein offizielles Post­ oder Long­-Covid-­Rehabilitationsprogramm“, erwidert Stephanou. Daher müssen die offiziellen PVA-­Programme etwa für Lungenkrankheiten oder neurologische Beschwerden adaptiert und mit teils erheblichem Aufwand argumentiert werden. Von der PVA wird das Fehlen einheitlicher Programme mit der Vielfältigkeit der Symptomatik begründet, womit standardisierte Vorgangsweisen nicht möglich seien. Für Stephanou ist es ein Skandal, dass die adäquate Behandlung vom Engagement der Rehaklinik und einzelner Mitarbeiter abhängt, bzw. von der Vehemenz, mit der ein Patient ein spezialisiertes Programm einfordert.

Der niedergelassene Arzt Franz Mayrhofer spricht für die Ärztekammer Wien: Auch er wünscht sich klare Richtlinien in der Behandlung von Menschen, die mit verdächtigen Symptomen kommen. Momentan würden auch eindeutige Laborbefunde fehlen. Es sei wichtig, die neue Leitlinie zu Long­-Covid weiterzuentwickeln. „Long Covid ist ein sehr breiter Begriff. Das muss von fachlich versierten Leuten im diagnostischen System veror­tet werden. Dass es für die Betroffenen keine klare Prognose gibt, bedeutet eine zusätzliche Belastung“, so Mayrhofer. Stephanou betont, dass es schon seit mehreren Wochen den Versuch gibt, u.a. mit der Österreichischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin ÖGAM eine solche Leitlinie zu entwickeln (www.oegam.at). Diese wurde Ende Juli auf einer Pressekonferenz vorgestellt (siehe Kasten). Mayrhofer sieht die Leitlinien als Work in Progress und wünscht sich, dass die Umsetzung eine wesentliche Verbesserung in der Betreuungsqualität vorantreiben wird.

Keine Richtlinien für Krankschreibungen

Für Mayrhofer sind auch klare Leitlinien für die Rehabilitation sowie eindeutige Richtlinien für die Krankschreibung von Bedeutung. Dazu sagt Stephanou: „Keineswegs selbstverständlich ist, dass Menschen mit Long Covid eine längerfristige Krankschreibung bekommen.“

Mayrhofer sieht weitere Defizite: „Wohin schick ich Patienten, wenn ich mit meinem Latein am Ende bin? Zum Psychiater? Der Patient bekommt dann einen Termin in drei, vier, fünf Monaten. Unter Umständen ist das für die Betroffenen eine Katastrophe.“ Nach der Abklärung bei einschlägigen Experten wie Pulmologen, Internisten und Neurologen sollten spezialisierte Abteilungen für die Betroffenen bereitstehen, nach dem Vorbild von Schmerzambulanzen. Mayrhofer fordert generell einen massiven Ausbau von Einrichtungen für Diagnose und Therapie von Long Covid, diese müssten unbedingt multidisziplinär ausgerichtet sein: „Ich denke, dass die Krankenkasse das auch finanzieren wird. Weil eine langfristige Chronifizierung wesentlich teurer kommt, menschlich als auch ökonomisch.“ Weiters seien Maßnahmen am Arbeitsmarkt nötig, durchaus auch in Richtung Umschulungen für Betroffene und Unterstützung beim langsamen Wiedereinstieg in die Berufswelt. Aktuell wird Long Covid nur dann als Berufskrankheit anerkannt, wenn jemand in einer Gesundheitseinrichtung und verwandten Einrichtungen (Pflegeheime, Labore, Apotheken etc.) tätig ist. Wolfgang Panhölzl, Leiter der Abteilung Sozialversicherung der AK Wien, fordert eine generelle Anerkennung und gleichzeitig deutliche Erleichterungen beim Nachweis, ob die Infektion beruflich erworben ist.

Vorbilder im Ausland

„Ja, Österreich hat ein gutes Gesundheitssystem, aber wenn es Änderungen braucht, dauert das meist unerträglich lang“, analysiert Stephanou. England und die Niederlande verfügen über viele vorbildhafte Initiativen. So auch Anlaufstellen wie den C­ Support, die Betroffene informieren – auch mittels höchst aktueller WebSites –, sie bei der Suche nach Diagnose und Therapie unterstützen und niederschwellige Unterstützung im Alltag organisieren. „Alles Dinge, die wir auch tun. Nur sind wir selbst Betroffene, die bis an die Grenzen des Machbaren gehen.“ Auch hier fordert Stephanou einen raschen Systemwechsel in Österreich. Denn Long Covid wird das Gesundheit-s­ und Sozialsystem zumindest die nächsten drei bis fünf Jahre weiter intensiv beschäftigen. Und dies ist die optimistische Prognose, die von einem weiteren massiven Abnehmen der Neuinfektionen ausgeht …

„LONG COVID“: DIE NEUE LEITLINIE S1

Ende Juli präsentierten Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein und die Vizepräsidentin der ÖGAM, Susanne Rabady, eine 50-seitige Leitlinie, an der verschiedenste medizinische Fachgesellschaften mitgewirkt hatten. Stephanou kritisiert, dass die Stimmen der Betroffenen kaum gehört wurden. Selbsthilfegruppen wie „Long Covid Austria“ blieben außen vor. „Dabei würden gerade wir hier viel an Expertise einbringen können!“

Zielgruppe der Leitlinie sind Hausärzte sowie Ambulanzen. „Das Hauptgewicht liegt auf der Einordnung, Differenzialdiagnostik und Weiterbehandlung meist mehrdeutiger Symptome“, heißt es in der Leitlinie. Dort wird Long-Covid definiert und mögliche Symptome aufgelistet. Diese werden dann in Leitsymptomen im Detail betrachtet, bezogen u.a. auf die Atemorgane, auf Kardiologie, HNO, Dermatologie, neurologische sowie psychiatrische Aspekte. Ebenso wird unter diesen Aspekten die Zielgruppe Kinder und Jugendliche betrachtet. Umfassend behandelt wird dann die Differenzialdiagnostik, als Unterstützung der Abgrenzung zu anderen Krankheitsbildern. Jeweils empfohlen werden mögliche Behandlungs- und weitere Abklärungsschritte. Ein Schwerpunkt ist dabei das Pacing, also das Abstimmen der Behandlungsmaßnahmen auch in ihrer Intensität auf die individuelle Situation der Patienten – dies wird auch für den Rehabereich eine wichtige Bedeutung haben. (https://oegam.at/artikel/long-covid-leitlinie-s1-kurz).

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