Estland, Lettland und Litauen: Das Baltikum als Versuchslabor

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Autor: Heinz Brock

Estland, Lettland und Litauen werden oft in einen Topf geworfen. In den meisten gesellschaftlichen Bereichen gehen die drei Staaten jedoch ihre eigenen Wege – auch im Feld der Gesundheit.

Der organisatorische Aufbau der Gesundheitssysteme ist in den drei Ländern Estland, Lettland und Litauen ähnlich. Steuergelder finanzieren eine zentrale Institution, die als Einkäuferin von Gesundheitsleistungen bei öffentlichen und privaten Anbietern agiert. Krankenhäuser sind zum größten Teil im öffentlichen Eigentum, ebenso Primary Care Centers. Niedergelassene Allgemeinmedizin- und Facharzt-Praxen werden dagegen privat betrieben. Gemessen am Prozentanteil des Bruttoinlandsproduktes, der für die Finanzierung der Gesundheitsversorgung aufgewendet wird, liegen die baltischen Staaten noch weit unter dem EU-Durchschnitt – und dies, obwohl im letzten Jahrzehnt hohe Zuwachsraten zu verzeichnen waren. Dass es sich dabei immer noch um eine Unterfinanzierung handelt, zeigt auch der hohe Anteil an privaten Zuzahlungen für die medizinische Versorgung. Ein Viertel der gesamten Gesundheitsausgaben in Estland, jeweils ein Drittel in Lettland und Litauen müssen Privatpersonen „out of pocket“ bezahlen. In Estland sind etwa fünf Prozent der Bevölkerung nicht krankenversichert, da die Versicherung an ein Beschäftigungsverhältnis gebunden ist. In Lettland ist die Gesundheitsversorgung verfassungsgesetzlich allen Bürgern garantiert, der Leistungsumfang der staatlichen Krankenversicherung ist allerdings limitiert und Zuzahlungen sind üblich. Im Gegensatz zu den beiden anderen baltischen Staaten bietet Litauen ein umfassendes Leistungspaket für alle Bürgerinnen und Bürger, allerdings sind dabei ebenfalls private Kostenübernahmen die Regel.

Relativ erfolgreich war die Politik der drei Länder bei der Ambulantisierung der Medizin. Während in der EU der stationäre und der ambulante Sektor etwa den gleichen Finanzierungsanteil erhalten (in Österreich nimmt der stationäre Sektor noch immer den größeren Anteil ein), hat der konsequente Aufbau der Primärversorgung im Baltikum dafür gesorgt, dass die stationäre Behandlung mittlerweile weniger Finanzmittel in Anspruch nimmt als der ambulante Sektor. Vermeidbare Krankenhauseinweisungen von Patienten, die adäquat (oder vielleicht sogar besser) ambulant behandelt werden können, finden in Estland und Lettland seltener statt als in den meisten EU-Ländern.

Karge Mittel. Die Gesundheitssysteme der drei baltischen Staaten leiden allesamt unter chronischem Geldmangel. Sie suchen den Ausweg im forcierten Einsatz digitaler Versorgungskanäle – mit Erfolg.

Verschiedene Ausbildungspolitik

Interessante Unterschiede zeigen sich in der Personalentwicklung der Gesundheitsdienstleister. Estland und Lettland verfügen über deutlich weniger ärztliches und pflegerisches Personal als der Durchschnitt der EU. Unterschiedliche Prioritätensetzungen führten allerdings dazu, dass die Zahl der Graduierungen in Estland sowohl bei Ärzten als auch bei Pflegekräften in den letzten Jahren weiter abnahm, was für die zukünftige Performance des Versorgungssystems wohl keine sehr günstige Prognose erlaubt. Lettland hingegen erhöhte die Ausbildungskapazitäten für Mediziner signifikant und setzte finanzielle Anreize, damit Ärzte einerseits im öffentlichen Sektor tätig blieben und andererseits auch die Versorgung der schwachen ländlichen Regionen übernahmen. Ein völlig anderes Bild bietet sich in Litauen: Mit einer Ärztedichte über dem EU-Schnitt und einer Pflegepersonalausstattung auf EU-Niveau kann Litauen sein vergleichsweise aufwendiges Krankenhauswesen noch gut betreiben. Der zunehmend spürbare Pflegemangel wird aber auch hier in Zukunft größere Probleme bereiten. Eng mit den personellen Ressourcen korrelieren Erfahrungen der Bevölkerung bezüglich des Zugangs zu Versorgungsleistungen. Im europäischen Schnitt sind 1,7 % der Menschen durch lange Wartezeiten, weite Wegstrecken oder finanzielle Gründe an der Inanspruchnahme einer notwendigen Behandlung gehindert (in Österreich 0,3 % im Jahr 2019). Estland nimmt in dieser Statistik europaweit mit 15,4 % den negativen Spitzenplatz ein, Lettland liegt mit 4,3 % auf dem vierten Platz, wobei bei ersterem alle Einkommensschichten durch lange Wartezeiten gleichermaßen betroffen sind, bei zweiterem finanzielle Hürden den Weg zur Versorgung verstellen und Menschen mit geringerem Einkommen wesentlich stärker betroffen sind. Litauen hat aufgrund seiner besseren Personalsituation hingegen einen sehr niederschwelligen Zugang zu Gesundheitsleistungen.

Die Strukturkennzahlen der baltischen Gesundheitssysteme geben bereits klare Hinweise auf deren weiten Weg bis zum Erreichen europäischer Standards. Noch deutlicher werden die Qualitätsunterschiede, wenn Outcome-Daten verglichen werden. Sowohl bei den durch Prävention vermeidbaren Todesfällen als auch bei den durch rechtzeitige und richtige Behandlung vermeidbaren Todesfällen sind die drei Länder in der absteigenden Reihenfolge Estland, Litauen und Lettland am unteren Ende des EU-Rankings zu finden. Diese bedauerlichen Zustände sind einerseits der hohen Prävalenz von Risikofaktoren wie Übergewichtigkeit, Alkohol- und Nikotinabusus geschuldet, andererseits aber auch den fehlenden personellen Ressourcen sowie den Defiziten bei der Ausstattung der Gesundheitseinrichtungen. Besonders im diagnostischen Bereich sind große Diskrepanzen zum europäischen Standard gegeben.

Einwohner des Baltikums haben eine signifikant kürzere Lebenserwartung als der Rest Europas, wobei der immense „gender gap“ mit einer rund neun Jahre geringeren Lebenserwartung der Männer auffällt. Zusätzlich bestehen große gesundheitliche Ungleichheiten regional, aber auch zwischen den sozioökonomischen Bevölkerungsschichten.

Knappe Budgets forcieren digitalen Fortschritt

Trotz aller offensichtlichen Schwächen der baltischen Gesundheitssysteme darf deren positive Entwicklung seit der Unabhängigkeit der Staaten 1991 und ihrem Beitritt zur EU 2004 nicht geringgeschätzt werden. Die Lebenserwartung in Estland stieg zwischen 2000 und 2020 um 7,5 Jahre – stärker als in jedem anderen Land Europas. Lettland hat seine Gesundheitsausgaben seit 2010 um 75 % erhöht und Litauen dämmte mit Public Health Kampagnen den extrem hohen Alkohol- und Tabakkonsum einigermaßen erfolgreich ein. In allen drei Staaten zielen langfristige Strategien auf die Reduktion der Gesundheitsrisiken und die Verbesserung der Versorgungsqualität. Leider scheitern viele der ambitionierten Pläne schlichtweg am Fehlen der dafür notwendigen Geldmittel.

Die beschränkten finanziellen Möglichkeiten haben andererseits aber auch zu beispielhaften Innovationsleistungen gezwungen. So gilt Estland seit Jahren als Vorreiter auf dem Sektor E-Health. Das estnische Gesundheitsinformationsaustauschnetzwerk ENHIS, das ausnahmslos alle Ärzte, Krankenhäuser und Apotheken vernetzt, beinhaltet die gesamte Krankengeschichte aller Bürgerinnen und Bürger. E-Rezept und elektronische Patientenakten sind gesetzlich verpflichtend, Videokonsultationen und Ferndiagnosen sind in die ambulante Versorgung integriert. Über ein Gesundheitsinformationsportal kann jeder Bürger seine persönlichen Gesundheitsdaten einsehen, Informationen einholen und Termine bei niedergelassenen Ärzten online buchen. Dabei behalten die Patienten als Eigentümer der Gesundheitsdaten die volle Kontrolle darüber und können frei entscheiden, welcher Arzt sie einsehen darf und welcher nicht.

PVE entlasten Kliniken. Die Primärversorgung ist verantwortlich, dass Spitäler geringere Finanzmittel in Anspruch nehmen als der ambulante Sektor. Im Bild der Eingang des Pauls Stradins Clinical University Hospital in Riga, Lettland.

Die Nutzung der Daten für wissenschaftliche Studien oder Statistiken ist erlaubt. In Zukunft sollen auf dieser Basis Big-Data-Analysen zur Verfügung stehen, um Therapien und Diagnostik zu verbessern und Qualitätskontrollen effizienter durchführen zu können. ENHIS stützt sich auf eine landesweit sichere Plattform für den Datenaustausch und auf die Anwendung der höchsten Sicherheitsstandards für Systemzugänglichkeit und Benutzerauthentifizierung, was für die IKT-Akzeptanz im Gesundheitssektor essenziell ist. Für die Vernetzung und den Datenaustausch war weiters wichtig, dass einheitliche Klassifikationen, Standards und Terminologien zur Beschreibung und Codierung von Krankheiten, Symptomen und Zuständen entwickelt und veröffentlicht wurden. Teil der Umsetzung der E-Health-Strategie war auch ein entsprechendes Bildungsprogramm. Die meisten Universitäten und medizinischen Fakultäten bieten Digital-Health-Kurse für die Studierenden an und die Technische Universität Tallinn führt sogar ein „Health Care Technology“-Masterprogramm durch. Das erklärte Ziel, durch Digital Health das gesamte Gesundheitssystem hin zu einer partizipativen, präventiven und persönlichen Versorgung zu reformieren, scheint in Estland in nächster Zukunft durchaus realisierbar zu sein. Dabei stand die Digitalisierung im Gesundheitsbereich nie in der öffentlichen Diskussion. Sämtliche E-Health-Dienste wurden zentral vom Staat angeboten und eingeführt. Die medizinischen Einrichtungen wurden einfach angeschlossen und mussten selbst keine finanziellen Mittel aufwenden.

Die Gesundheitssysteme der drei baltischen Staaten verdienen unsere Aufmerksamkeit: Sie entwickeln unter restriktiven wirtschaftlichen Rahmenbedingungen innovative Strategien der Gesundheitsdienstleistungen. Die langfristigen Effekte von Digitalisierung, Ambulantisierung und diversen präventiven Maßnahmenpaketen lassen sich dabei ähnlich einem groß angelegten Feldversuch verfolgen. 

Quellen und Links:

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