NHS: Kaputt gespart

Lesedauer beträgt 5 Minuten
Autor: Heinz Brock

Es begann mit einer Lüge: Der Brexit bescherte dem britischen Gesundheitsdienst NHS keinerlei frische Mittel. Die Ursachen für die verheerenden Versorgungsengpässe liegen allerdings woanders.

Der staatliche Gesundheitsdienst NHS ist für Briten eines der emotionalsten nationalen Identifikationssubjekte – nach den Royals natürlich. Dementsprechend groß ist der Stellenwert, den das nationale Gesundheitssystem auf der politischen Bühne einnimmt. Im Jahre 2016 warben die Pro-Brexit-Anführer mit einem roten „Vote-Leave“-Bus für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Gemeinschaft. Das auf diesem Bus plakatierte Versprechen, mit den täglich an die EU überwiesenen 50 Millionen Pfund das notorisch unterfinanzierte Gesundheitssystem zu sanieren, verfing bei den Wählern und trug nicht unwesentlich zum Ausgang des Referendums bei.

Heute sieht sich der NHS in der größten Krise seines über 70-jährigen Bestehens. Versorgungsengpässe sorgen landesweit für überlange Wartezeiten und vermeidbare Todesfälle. Orakelnde Europäer sahen und sehen einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Brexit und NHS-Krise. Die Berichte sind zahllos, dass seit dem Referendum ausländische Ärzte und Pflegekräfte die Insel in großer Zahl verlassen hätten. Zudem sei der Zuzug von Gesundheitspersonal aus den EU-Ländern nahezu versiegt. Laut einer Studie der Denkfabrik „Nuffield Trust“ im Auftrag der Zeitung „The Guardian“ fehlen im britischen Gesundheitswesen in den wichtigsten Fachgebieten rund 4.000 Ärztinnen und Ärzte aus EU-Ländern. Der Anstieg des Personals aus der EU und den Ländern der Europäischen Freihandelsassoziation (Efta) habe sich verlangsamt und sei unter die prognostizierten Zuwachsraten gefallen, schreiben die Autorinnen. Demnach war das britische Gesundheitswesen bereits vor dem Brexit auf Ärzte aus der EU angewiesen. Dies betraf insbesondere die Fachbereiche Anästhesie, Pädiatrie, Herz-Chirurgie und Psychiatrie.

Rollendes Blendwerk. Die Milliarden aus Brüssel sind nie eingetroffen. Der Niedergang des NHS begann allerdings schon während der Austeritätspolitik der Regierung Cameron. Ökonomen gehen beim NHS von einer Kapitallücke von 70 Mrd. Euro aus.

Kernproblem Personalmangel

Ein Blick auf die Fakten und Kennzahlen lässt erkennen, dass die Ursachen für die derzeit eskalierende Krise des NHS mit dem Brexit alleine nicht erklärt werden können. Sie reichen weit in die Vergangenheit zurück. Zentraler Kritikpunkt ist die Finanzierung des NHS. Die Austeritätspolitik der Regierungen David Cameron und Theresa May hat seit 2010 zu Kürzungen von NHS-Budgets geführt und somit notwendige Innovationen und Investitionen verhindert. Die Zahl der Krankenhausbetten pro Einwohner beläuft sich auf ein Drittel der österreichischen, ebenso die Zahl der Intensivbetten, was während der Grippewelle 2017 und besonders in der Anfangsphase der COVID-19-Pandemie zu teils dramatischen Engpässen führte. Bettenzahlen mögen als Indikator für die Funktionsfähigkeit eines Versorgungssystems zwar wenig aussagekräftig sein, da sie die Wirksamkeit der Primärversorgung außer Betracht lassen. Jedoch bezeugt die kontinuierliche Reduktion der Krankenhausbetten seit 2010 die harten Eingriffe der britischen Regierungen in das Gesundheitswesen – und zwar lange vor dem Brexit-Referendum. Die Gesundheitsausgaben der Briten waren im Zeitraum von 2010 bis 2019 pro Kopf um 27 Prozent angestiegen (im Vergleich dazu Österreich: 32 Prozent), das laufende NHS-Budget wurde im gleichen Zeitraum um lediglich 19 Prozent angehoben. Eine Analyse der British Medical Association (BMA) geht von einer Finanzierungslücke des Versorgungssystems von rund 70 Milliarden Euro aus.

Die signifikanten Budgeterhöhungen 2020 und 2021 auf Grund der Pandemie und ab 2022 werden noch keinen Effekt auf die Probleme des NHS aufweisen: Der aufgestaute Personalmangel ist kurzfristig nicht zu beheben. Wiewohl das britische Beveridge-Modell für seine Effizienz und Primary Care-Ausstattung Anerkennung verdient, dürfte es im letzten Jahrzehnt die Toleranzgrenzen des Versorgungsbedarfes der Bevölkerung sowie der Belastbarkeit seiner Mitarbeiter überschritten haben. Der NHS für England ist mit 1,5 Millionen Mitarbeitern der fünftgrößte Arbeitgeber der Welt (weitere 350.000 Mitarbeiter sind in den nationalen NHS von Schottland, Wales und Nordirland beschäftigt). Allerdings sind knapp sechs Prozent der Medizinerstellen und knapp elf Prozent der Pflegestellen unbesetzt. Bei den Pflegenden sind die Lücken weiter am Wachsen. Bei den Medizinern und Medizinerinnen waren die Vakanzen in den Jahren vor der COVID-19-Pandemie sogar größer als heute. Um auf diesen Fehlbedarf zu reagieren, setzt der NHS traditionell auf die Anwerbung ausländischer Fachkräfte. Über dreißig Prozent der NHS-Ärzte und über zwanzig Prozent des Pflegepersonals sind Ausländer oder im Ausland ausgebildet.

Der Großteil der ausländischen Fachkräfte stammt aber nicht aus europäischen Ländern, sondern aus Indien, Pakistan und Nigeria. Von den 66.211 Ärztinnen und Ärzten mit ausländischem Diplom kamen im Jahre 2011 lediglich zwanzig Prozent aus EU-Ländern. Im Jahre 2015 ging die Zahl der ausländischen Ärzte und Ärztinnen um etwa sieben Prozent zurück – aus heutiger Sicht eine Anomalie. Zwei Jahre später war das Ausgangsniveau wieder erreicht und stieg seither trotz COVID-19 und Brexit kontinuierlich und jährlich an. Vom Brexit-Referendum 2016 bis zum Jahr 2021 wuchs die Zahl der berufstätigen Ärzte in Großbritannien um vierzehn Prozent (in Österreich um sechs Prozent), die der Pflegekräfte um acht Prozent. Bekanntlich liegt das Vereinigte Königreich im internationalen Vergleich der Industrieländer hinsichtlich des ärztlichen und pflegerischen Fachpersonals deutlich unter dem Durchschnitt und weit unter den Spitzenreitern Österreich und Deutschland. Für ein Anheben des Ärztestandes auf EU-Niveau bräuchte England alleine 46.300 zusätzliche Mediziner. Ein derartig großes Defizit lässt sich am europäischen Personalmarkt keinesfalls ausgleichen – zumal ausnahmslos jedes Land Europas selbst über Ärztemangel klagt.

Mittlerweile setzt sich auch in Großbritannien die Erkenntnis durch, dass der EU-Austritt überwiegend negative ökonomische Auswirkungen zur Folge hat. Die Stimmung in der Bevölkerung ist gedämpft. Die Begleiterscheinungen des Brexit mit bürokratischen Hürden und Unsicherheiten für die Arbeitnehmer sind für eine Linderung der Personalnöte im NHS nicht hilfreich. Die Entwicklung der Mitarbeiterzahlen erlaubt allerdings nicht den Schluss, dass der Brexit einen signifikanten Einfluss auf die derzeitige Versorgungskrise hatte. Die Ursachen sind in einem Bündel von Entwicklungen zu sehen, bei denen nicht oder nicht ausreichend gegengesteuert wurde.

Mit Gloria gegen den Trübsinn. Die Regierung wollte Brot und Spiele. Die Krönung von King Charles III sollte für bessere Stimmung sorgen. Der König selbst wollte es eine Nummer kleiner.

Sparkurs in seichten Gewässern

Die restriktive Finanzierungspolitik riss jährlich wachsende Löcher in das britische Gesundheitswesen. Das summierte sich im Laufe der Jahre zu einem Investitionsstau und einem Personaldefizit, die in Krisen mit erhöhtem Bedarfe wie der Grippewelle 2017 und erst recht während der COVID-19-Pandemie zu offensichtlicher Überforderung des Systems führten. Der vernachlässigte Ausbau der stationären Versorgung und der Rückstau elektiver Operationen während der Pandemie resultierten in explodierenden Wartelisten – im Jänner 2023 fanden sich 7,21 Millionen englische Bürgerinnen und Bürger auf Wartelisten des NHS. Noch schwerwiegender ist die Tatsache, dass auch die Primärversorgung als das stützende Kernelement des britischen Versorgungssystems mehr und mehr unter Druck gerät. Durch Pensionierungen und Teilzeitarbeit ist die Zahl der Vollzeitäquivalente bei Allgemeinmedizinern gesunken. Die Folgen sind gravierend: Die höhere Arbeitsbelastung für den einzelnen Praktiker und die abnehmende Versorgungskapazität für die infolge Alterung betreuungsbedürftigere Bevölkerung bringen das System an seine Leistungsgrenze.

Die moderat erhöhten Budgets und Personalzahlen des NHS waren bislang nicht in der Lage, dem gestiegenen Bedarf zu entsprechen. Die prolongierte Ausnahmesituation der Pandemie hat die Belegschaft des NHS mit dem Gefühl der realen Überlastung und der Frustration infolge erlebter Machtlosigkeit zurückgelassen. Die Übersterblichkeit infolge COVID-19 war in Großbritannien stärker ausgeprägt als in vielen anderen Industrieländern. Das Bedauerliche: Die Übersterblichkeit besteht aber zum Rest der Welt nach der Pandemie weiter. Derzeit ist nicht absehbar, ob und wann die britische Gesundheitspolitik Mittel und Wege findet, die kritische Versorgungslage zu beenden. Einfache und schmerzlose Lösungen wird es wohl kaum geben. Aus österreichischer Perspektive kann man auch keine hilfreichen Ratschläge anbieten, da die Phänomene wie Ärzte- und Pflegemangel, Wartezeiten und überlastete Notfallversorgungseinrichtungen auch hierzulande dominante Themen der Gesundheitspolitik sind, obwohl deutlich mehr Ressourcen in unserem System eingesetzt werden. 

Quellen und Links:

Britischer Gesundheitsdienst NHS – Die Lüge, mit der der Brexit begann

Independent – NHS Crisis

Nuffield Trust – Has Brexit affected the UK’s medical workforce?

OECD Health Statistics 2022

‘Disaster’ is right: Brexit is a self-inflicted wound that cuts dangerously deep

NHS medical staffing data analysis

NHS crisis causing continued higher-than-normal levels of death

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren:

Weiterlesen

360° Patienten­sicherheit: Patienten- und Mitarbeiter­sicherheit geht alle an

Der Herbst 2022 war gut gefüllt mit Projektstarts und Veranstaltungen. Patienten- und Mitarbeitersicherheit betreffen viele Ebenen und dafür setzt die Österreichische Plattform Patient:innensicherheit starke Zeichen.