Österreich droht in der Genmedizin den Anschluss zu verlieren

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Autor: Martin Hehemann

Die MedUni Innsbruck gehört zu einem erlesenen Kreis europäischer Institute, die ein revolutionäres Gerät zur Genomsequenzierung besitzen. Doch die Freude darüber ist gedämpft: Österreich droht in der Genmedizin den Anschluss zu verlieren.

Der Fall stellte die Experten vor ein Rätsel. Ein siebenjähriger Bub aus Südtirol wies in seiner intellektuellen und psychomotorischen Entwicklung deutliche Verzögerungen auf. Um der Ursache auf die Spur zu kommen, führte ein Team von Ärzten und Diagnostikern des Instituts für Humangenetik an der Medizinischen Universität Innsbruck eine sogenannte „Trio-Exom-Analyse“ mit der herkömmlichen Technologie durch. Dabei wurden alle proteinkodierenden Genabschnitte des Kindes mit denen der Eltern verglichen. „Unsere Analyse zeigte im Bereich des selten als Krankheitsursache beschriebenen AP1S2-Gens eine fragliche Auffälligkeit“, so Institutsdirektor Johannes Zschocke, der das Team leitet. Das Problem: „Mit den bisherigen Analyseverfahren konnten wir diese Auffälligkeit nicht interpretieren.“

Diese Schwachstelle wurde behoben. Das Innsbrucker Institut für Humangenetik besitzt mittlerweile den ersten für die genetische Diagnostik verwendbaren „Long-Read-Sequenzierer“ in Österreich – einen „Sequenzierer der dritten Generation“. Damit gehören die Tiroler zu einem erlesenen Kreis von einem geschätzten Dutzend Instituten in Europa, die dieses Gerät angeschafft haben.

Stark nachgelassen. Von den 27 Unterzeichnern der 1-MG-Initiative war bis vor einigen Monaten nur ein Land bei „Genome of Europe“ nicht mit an Bord: Österreich.

Schnipsel oder Seite

Mit allen Zusatzinstallationen kostet der Revio rund eine Million Euro. Ein Betrag, der aus Sicht von Humangenetiker Zschocke gut investiert ist. Das menschliche Erbgut hat ungefähr 3,1 Milliarden Nukleotide, die genetischen Buchstaben. Bei der seit einigen Jahren üblichen Standardmethode, der „Next Generation Sequenzierung“, liest man kleine Schnipsel von 75 bis 150 Nukleoiden und ordnet die erkannten Abschnitte dann den Stellen zu, an denen man sie vermutet. Mit dem neuen Long-Read-Verfahren ist es nun erstmals möglich, das gesamte Genom an einem Stück zu lesen. „Das ist ein revolutionärer Fortschritt“, so Zschocke. Der Gen-Experte vergleicht das Erbgut mit einem „Bücherschrank mit 46 Bänden“: „Bisher konnten wir nur einzelne Zeilen lesen und zusammensetzen und in bestimmten Bereichen Abweichungen von der üblichen Sequenz erfassen“, erklärt Zschocke. „Mit Revio können wir nun ganze Buchseiten lesen. Wir können das Genom sehr viel tiefer und vollständiger verstehen.“

Im Fall des siebenjährigen Buben aus Südtirol waren die Innsbrucker Ärzte für Medizinische Genetik dank Revio in der Lage, eine genauere Diagnose zu erstellen. Durch die Sequenzierung der Erbinformation des jungen Patienten entdeckten sie, dass es sich bei der rätselhaften Auffälligkeit um eine sogenannte „Inversion“ handelt – um die Verdrehung eines großen Chromosomenabschnitts ohne Verlust von Sequenzen. „Man muss sich das so vorstellen, als ob in einem Buch zahlreiche Seiten herausgefallen sind und falsch herum wieder eingeklebt wurden“, erläutert Zschocke. „So eine Veränderung kann ein Gen völlig zerstören, lässt sich aber oft nur schwer nachweisen.“

Mit ihrem Fund betraten die Innsbrucker Medizingenetiker Neuland. Zschocke: „Eine solche Ursache der ohnehin sehr seltenen AP1S2-abhängigen geistigen Behinderung wurde weltweit noch nie beschrieben.“ Von einer wirkungsvollen Therapie dieser Behinderung ist die Medizin leider noch weit entfernt. Die neuartige Untersuchung lieferte den betroffenen Eltern aber immerhin eine wichtige Information. „Wir konnten nachweisen, dass die strukturelle Variante bei dem Buben selbst entstanden ist. Das bedeutet: Die Eltern haben Gewissheit, dass sie bei weiteren Kindern diese Variante nicht vererben würden“, erklärt Zschocke.

Schlüsselsuche. Mit dem neuen Long-Read-Verfahren ist es erstmals in Österreich möglich, das gesamte Genom an einem Stück zu lesen. Für Johannes Zschocke, Chef des Innsbrucker Instituts für Humangenetik, bedeutet dies einen „revolutionären Fortschritt“.

Lösungen in HiFi Solves

Mit der Anschaffung des Revio wurde das Institut für Humangenetik der MedUni Innsbruck Teil des globalen Konsortiums „HiFi Solves“. Zentren in weltweit zehn Ländern arbeiten in diesem Konsortium gemeinsam an Projekten, um den Einsatz des neuartigen Geräts in der Diagnostik voranzutreiben. Die Herausforderung, die enormen Datensätze auszuwerten und für jede Patientin und jeden Patienten zu interpretieren, bleibt jedoch bestehen.

Bei der Erforschung des menschlichen Erbguts liegt generell noch viel Arbeit vor den Genetikerinnen und Genetikern, die sich weltweit damit beschäftigen. Auch die EU unternimmt erhebliche Anstrengungen auf diesem Gebiet. Die EU-Mitgliedstaaten sowie Großbritannien und Norwegen haben 2018 die „1+ Million Genomes“-Initiative (1+MG) gestartet. Mit ihr wollen sie eine gemeinsame europäische Infrastruktur für genomische Daten schaffen. Die Experten der EU-Kommission sind davon überzeugt, dass die Genomik das Gesundheitswesen revolutionieren kann. „Dies könnte zur Entwicklung gezielter personalisierter Arzneimittel, Therapien und Interventionen führen. Es könnte auch eine bessere Diagnostik ermöglichen, die Prävention fördern und knappe Ressourcen effizienter nutzen“, meint die Kommission auf ihrer Website zur 1+MG-Initiative.

Auch Österreich hat die Initiative unterzeichnet. Bislang halten sich die finanziellen Mittel, die die Regierung für die Genomforschung in die Hand nimmt, allerdings in überschaubaren Grenzen. Dies dämpft auch die Freude von Humangenetiker Zschocke über die Anschaffung seines neuen Genomsequenzierung-Geräts. Er bemüht sich derzeit um die Finanzierung des Projekts „Ge­nome of Europe“. Mit diesem Projekt, das zur „1+ Million Ge­nome“- (1+MG) Initiative gehört, wollen die beteiligten Staaten eine umfangreiche klinische Genom-Datenbank errichten.

Als Letzter an Bord

Von den 27 Unterzeichnern der 1-MG-Initiative war bis vor einigen Monaten nur ein Land bei „Genome of Europe“ nicht mit an Bord: Österreich. „Ich bin von einem Kollegen aus den Niederlanden gefragt worden, ob wir das einzige EU-Land sein wollen, das sich nicht an dem Projekt beteiligt“, erinnert sich Zschocke. Der engagierte Humangenetiker hat in der Zwischenzeit eine österreichische Projektgruppe auf die Beine gestellt: Unter Federführung der MedUni Innsbruck werden auch die MedUnis in Wien und Graz sowie das CeMM Research Center for Molecular Medicine in Wien am „Genome of Europe“ teilnehmen. Die notwendige Finanzierung für das österreichische Teilprojekt liegt bei zwei Millionen Euro. Davon sind bislang rund 800.000 Euro gesichert. Die übrigen 1,2 Millionen Euro sind noch offen.

Der Blick auf die budgetären Mittel, die in anderen europäischen Ländern für die Genomforschung und den Aufbau einer genmedizinischen Infrastruktur aufgebracht werden, stimmt den Innsbrucker Arzt allerdings nachdenklich. „Länder wie Großbritannien oder Deutschland investieren jährlich Millionenbeträge im dreistelligen Bereich. In den Niederlanden liegen sie immerhin im zweistelligen Bereich. Und wir kämpfen in Österreich um 1,2 Millionen Euro“, meint Zschocke. „Unser Institut in Innsbruck gehört derzeit zu den führenden medizinisch-diagnostischen Genetikinstituten im deutschsprachigen Raum. Aber ich mache mir Sorgen, dass wir den Anschluss verlieren.“ 

Quellen und Links:

Presseaussendung der MedUni Innsbruck: Die „dritte Generation“ der medizinischen Genomsequenzierung beginnt in Innsbruck

Website der EU-Kommission zur Initiative „1+ Million Genome“

Nature Journal: Medical genomics articles from across Nature Portfolio

National Geographic: Genomforschung: Revolution in der Medizin?

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