„Viele Diabetiker müssten nicht im Spital landen“

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Autor: Josef Ruhaltinger

Die Gesundheitsreform 2024 ist beschlossen. IHS-Gesundheitsökonom Thomas Czypionka analysiert das Gesetzespaket und erklärt, warum er keine Angst vor der „Konzernisierung“ des heimischen Gesundheitssystems hat.

Herr Czypionka, wie gesund ist Österreichs Gesundheitssystem?
Thomas Czypionka: Es ist fit, aber es gibt Probleme in der Patientenversorgung. Das sind Symptome einer Entwicklung, die viele andere Konsequenzen mit sich bringt. Damit wir uns richtig verstehen: Wir haben in Österreich nach wie vor ein sehr gutes Gesundheitssystem. Aber es existieren Fehlentwicklungen, die sich auswachsen. Wenn eine Spitalsabteilung Personalprobleme hat, dann leidet die Atmosphäre. Niemand will einen Arbeitsplatz, in dem er oder sie überdurchschnittlich belastet werden –, wie dies in einer dünn besetzten Abteilung notgedrungen der Fall ist. Eine Folge davon ist, dass die Fluktuation zunimmt und zuletzt fehlt so viel Personal, dass die Station nicht mehr betrieben werden kann. Dasselbe gilt für OPs. Wenn dieser Teufelskreis losgetreten wird, beginnen sich die Probleme zu türmen.

Können eine intensivere Rekrutierung und attraktivere Gehälter das Pflegeproblem lösen?
Wir werden das Organisationsproblem nicht lösen können, indem wir einfach nur mehr Menschen für die Pflege mobilisieren –, was schwierig genug ist. Es sind Fragen der Organisation und Führung in den Spitälern, die bestimmen, ob sich die Mitarbeiter wohlfühlen und ob die Patienten ohne große Leerläufe durch das System gehen. Die Prozesse arbeiten nicht optimal. Das frustriert alle Beteiligten und verheizt Ressourcen.

Analyst und Kritiker. Thomas Czypionka und sein Team erforschen das heimische Gesundheitssystem seit Jahren. Die Stimme des IHS-Ökonomen zählt auf seinem Fachgebiet zu den prominentesten des Landes.

Die finanziellen und organisatorischen Parallelwelten des ambulanten und stationären Gesundheitsbereiches gelten als zentrales Strukturproblem des österreichischen Gesundheitssystems. Hat die Gesundheitsreform 2024 daran etwas verändert?
Die Schnittstellenproblematik existiert unverändert. Zwischen dem niedergelassenen Bereich, dem Spitalsbereich und zwischen Spitalsbereich zu Reha und Pflege gibt es viele Reibungsverluste. Es wurde zwar einiges verbessert. Aber das Hauptproblem der fehlenden Integration der Systeme ist geblieben. Die Diabetesversorgung ist für die entstehenden Herausforderungen ein gutes Beispiel: Es bedarf für eine umfassende Betreuung eines chronischen Diabetikers vieler Professionen. In unserem System arbeitet aber jedes Fach für sich. Außerhalb bestimmter Zentren gibt es bei uns keine integrierte Versorgung im Bereich der Primärversorgung. Als Ergebnis landen viele Diabetiker im Spital, die es eigentlich nicht müssten.

Für eine große Strukturreform mit einer Änderung der Zuständig­keiten für den niedergelassenen und den stationären Bereich hätte es eine Einigung zwischen Bund und Ländern sowie Gesetze im Verfassungsrang gebraucht. Unter den politischen Gegebenheiten waren diese Hoffnungen unrealistisch. In welchen Bereichen wird die Gesundheitsreform Wirkung zeigen?
Die Sozialversicherung erhält mehr Geld – vielleicht nicht so viel, wie sie gerne hätte und auch bräuchte. Aber sie bekommt mehr Geld. Und es ist in der Gesundheitsreform auch ein klares Bekenntnis zur Stärkung der integrierten Versorgung enthalten. Es gibt außerdem den Glauben an den verstärkten Einsatz digitaler Technologien. Wenn die richtigen Maßnahmen eingeleitet werden, werden die Prozesse beschleunigt. Digitale Maßnahmen werden helfen, die Patientenströme besser zu lenken. Und es wurde die Vorgabe bestärkt, im fachärztlichen Bereich übergreifende Strukturen zu schaffen. Das heißt, dass im ambulanten fachärztlichen Bereich multiprofessionelle Versorgungseinheiten möglich werden. Zentren oder Ambulanzen – egal wie Sie das nennen – werden von mehreren fachärztlichen Professionen und auch anderen nichtärztlichen Gesundheitsberufen besetzt, die sich auf die Betreuung von speziellen chronischen Krankheiten wie Schmerz oder Diabetes spezialisieren. Das entspricht exakt dem, was Patientinnen und Patienten wollen und brauchen: Hilfe und Versorgung von mehreren Fachrichtungen an einem Ort zu einem Termin. Will heute ein Diabetiker sein jährliches Screening absolvieren, muss er eine Vielzahl von Terminen bei unterschiedlichen Fachärzten wahrnehmen. In einem Diabeteszentrum lassen sich die Termine an einen Tag legen. Das ist für den Patienten leichter und erhöht die Compliance. Es ist aber auch für das System einfacher, weil alle Health Professionals wissen, was die anderen machen und wie der Prozess abläuft. Wenn es gelingt, multiprofessionelle fachärztliche Zentren nach dem One-Stop-Shop-Prinzip aufzubauen, dann werden wir in der Versorgung der Chroniker effizienter und gleichzeitig besser werden. Das wäre dann ein großer Schritt.

Picken wir uns ein paar der Positionen innerhalb der Reform heraus. Schon im Sommer hat es geheißen, dass 100 Kassenstellen zusätzlich kommen sollen. Was können 100 Kassenstellen mehr bewegen?
Die Maßnahme ist mehr als Signal zu verstehen. Das Versprechen einer Praxisgründungspauschale bis zu 100.000 Euro hat ja zu einer Flut an Bewerbungen geführt. Aber nicht jede ausgeschriebene Kassenstelle ist gleich stark nachgefragt. Da gibt es enorme Unterschiede. Danach werden sich die Anreize richten müssen. Man muss aber weiterhin am Image des niedergelassenen Allgemeinmediziners arbeiten und den ÖGK-Gesamtvertrag so flexibel machen, dass er unterschiedliche Arbeitsmodelle anbieten kann. Interessen und Bedürfnisse von Ärztinnen und Ärzten sind nicht mehr so homogen wie noch vor dreißig Jahren. Der klassische Einzelkämpfer, der alles allein schultert, ist nicht mehr die Regel. Man wird kreativ denken müssen: Man kann Infrastruktur und Praxisbetrieb getrennt denken, die Partnerkonstellationen sollten überdacht werden. Oder ich erlaube verstärkt Anstellungen im niedergelassenen Bereich. Die Vertragsanbieter werden sich etwas einfallen lassen müssen.

Sehr stark wahrgenommen wurde bei der Reform der Punkt, dass die Ärztekammer bei den Stellenplänen kein Vetorecht mehr hat. Ist das so wesentlich, wie es medial dargestellt wurde?
Ich halte den Punkt für sehr wichtig. Das Vetorecht der Kammer hat den gesamten Prozess, wie das System auf geänderte Versorgungsbedürfnisse reagiert, sehr langwierig gemacht. Es gibt Veränderungen in der Bevölkerung, in der Zusammensetzung der Einwohner, wir haben Urbanisierungstendenzen, wir beobachten die Vorverstädterung und Abwanderung im ruralen Bereich. Die Kassen und die für die Gesundheitsversorgung zuständigen Stakeholder müssen darauf antworten. Wenn jede Reaktion Jahre dauert, dann leidet die Versorgung zwangsläufig. Da­rum war es wichtig, das Gewicht im Besetzungsprozess stärker von der Ärztekammer wegzubewegen.

Dr. Thomas Czypionka ist stellvertretender Direktor des Instituts für Höhere Studien und Leiter der Forschungsgruppe Health Economics und Health Policy. Er lehrt an mehreren Universitäten und ist außerdem als Berater in der Gesundheitspolitik tätig. Er ist ausgebildeter Mediziner (Doktorat sub auspiciis praesidentis), Volkswirt und Absolvent einer Zusatzausbildung in Gesundheitsökonomie.

Die Ärztekammer warnt vor der „Konzernisierung“ des österreichischen Gesundheitssystems, wie sie in einer Aussendungen formuliert: Private Investoren würden nach dem Auslaufen des Kammer­vetos heimische Praxen aufkaufen. In Deutschland ist dies tatsächlich der Fall. Werden Versicherungskonzerne und kommerzielle Gesundheitsdienstleister den heimischen niedergelassenen Bereich aufrollen?
Ich glaube, dass die wenigsten Entscheider in der Gesundheitspolitik eine Kommerzialisierung in dieser Art und Weise wollen. Es gibt weiterhin die Kapazitätsplanung im RSG, wir haben weiterhin im Grunde ein Primat des Gesamtvertrags. Da sehe ich keine Kommerzialisierungsgefahr. Sollte sich da irgendwas einschleichen, wird man reagieren. Ich denke auch nicht, dass die gesetzliche Lage Anlass zu derartigen Befürchtungen gibt. Und wenn eine Bankentochter oder ein anderer Investor Immobilien errichtet und an niedergelassene Mediziner und Medizinerinnen vermietet, dann halte ich das nicht für bedenklich.

ELGA ist Sinnbild der Digitalisierung des heimischen Gesundheitssystems. Das Budget soll von 25 auf 51 Millionen aufgestockt werden. Was sollte mit dem Geld geschehen?
In der 15a-Vereinbarung steht sehr viel zu dem Thema. Die Frage ist, ob die Ankündigungen tatsächlich umgesetzt werden. Wir haben die Problematik, dass wir bei ELGA eine gute Infrastruktur haben, aber die Informationen, die eingemeldet werden, viel zu dürftig sind. Fakt ist: Der niedergelassene Bereich muss seine Befunde nicht in ELGA einstellen. Auch die Spitalsambulanzen stellen ihre Befunde nicht in ELGA. Dadurch geht uns unglaublich viel Information verloren. Selbst wenn wir Gesetze haben, heißt das nicht, dass die Inhalte implementiert werden. Der Prozess ist nicht damit erledigt, dass ich Ärzteschaft und Ambulanzen dazu verdonnere, die Befunde einzugeben. Wenn ELGA ihren Sinn erfüllen soll, dann muss jedes Spital einen Befund in standardisiertem Format einstellen. Das ist aber schwierig, weil die Spitäler unterschiedliche Krankenhausinformationssysteme haben, mit denen sie die Dinge sehr verschieden erfassen. Wir müssen die Systeme umstellen, damit man die richtigen Daten in ELGA nach einheitlicher Logik erfasst. Das ist kein einfacher Umstellungsprozess. Gerade deshalb sollte er schon seit Jahren laufen.

Sie haben in einer Begutachtung zu den Gesetzesentwürfen im Rahmen des Reformpakets kritisiert, dass die Forschung wieder keinen Zugang zu den Gesundheitsdaten haben wird. Was ist das Problem?
Österreichs Gesundheitspolitiker stehen vor vielen Herausforderungen, die sie nur lösen können, wenn sie über alle Phasen der Patientenkarriere – die Patient Journey – Informationen haben und Analysen durchführen. Das gibt aber unsere Datenlage nicht her. Wir haben in vielen wichtigen Bereichen nur Hochrechnungen und Simulationen. Die Gründe sind bekannt: Die Daten liegen bei den verschiedenen Stakeholdern, die zuständig sind. Und wir haben die Hürden mit der Datenschutz-Grundverordnung und deren österreichischen Umsetzung deutlich erhöht. Wir sehen in unserer täglichen Forschungsarbeit, dass die Informationen zu verschiedenen Fragestellungen gar nicht vorhanden sind. Und jetzt schafft man zwar ein Repositorium, ein Datenlager, das aber nur für die Stakeholder gedacht ist. Die Wissenschaft hat zu den gesammelten Gesundheitsdaten keinen Zugang.

Eine Datenblockade von Kassen und Ländern?
Ich kann die Motivation schon erklären. Die Stakeholder wollen aus Gründen, die man auch analysieren kann, einander die Daten nicht geben. Da wird aber jetzt eingegriffen: Jetzt ist vorgesehen, dass die Daten in ein zentrales Datencenter eingespeist werden. Das allein ist schon ein großer Schritt. Wenn dann aber auch noch quasi „Hinz und Kunz“ das beforschen dürfen, dann scheint die Duldsamkeit der Stakeholder ausgereizt. Da hat sich das Ministerium entschlossen, dass die Stakeholder die Daten zusammenführen, aber nicht freigeben müssen, sonst wäre das Vorhaben insgesamt infrage gestellt gewesen. Politisch ist das verständlich, aber sachlich ist es problematisch.  

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