Entschuldigungen in Pandemie und Politikversagen: ein Essay

Lesedauer beträgt 5 Minuten
Autor: Martin F. Fischmeister

Wenn man gerade einen Angehörigen durch eine COVID-Erkrankung verloren hat und die Erinnerung an den Spitalsaufenthalt, die quälende Atemnot des geliebten Menschen, den allmählichen Verlust des Kontakts zu ihm und an die Ohnmacht der pflegenden und betreuenden Personen noch schmerzend frisch ist, befindet man sich in einer sehr belastenden Situation, besonders wenn noch die Frage dazu kommt, ob man das hätte verhindern können und warum es jetzt wirklich dieses neuerliche Aufbäumen der Erkrankung gab, wenn mit einer und/oder mehreren Impfungen dies zu verhindern gewesen wäre.

Dieser Beitrag beschäftigt sich damit, wie die politischen Entscheidungsträger, aber auch die Organe der öffentlichen Meinung mit dem Thema Entschuldigung umgehen. In einem ersten Schritt soll kurz skizziert werden, was eine Entschuldigung umfassen muss. In weiteren Schritten sollte aufgezeigt werden, was keine Entschuldigung ist und welchen Stellenwert Entschuldigungen in Wirtschaft und Politik haben.

Aaron Lazare war Professor für Psychiatrie und Dean der University of Massachusetts Medical School. Er hat sich in einem Buch „On Apology“ beispielgebend darüber geäußert, was eine Entschuldigung enthalten muss. Dies im Originaltext:

  1. A valid acknowledgement of the offense that makes clear who the offender is and who is the offended. The offender must clearly and completely acknowledge the offense.
  2. An effective explanation, which shows an offense was neither intentional nor personal, and is unlikely to recur.
  3. Expressions of remorse, shame, and humility, which show that the offender recognizes the suffering of the offended.
  4. A reparation of some kind, in the form of a real or symbolic compensation for the offender´s transgressions.

Wendet man diese Grundsätze auf all jene an, die durch ein nicht adäquates Reagieren auf die Pandemie zu Schaden gekommen sind, so würde ein erster Schritt darin bestehen, zuzugeben, dass durch verspätetes Handeln oder sogar durch politische Obstruktion vielen Mitbürgern Schaden, d.h. in diesem Falle Krankheit, Leid und/oder vorzeitiger Tod, zugefügt wurde.

In einem zweiten Schritt sollte dargelegt werden, dass das Handeln keine persönliche Dimension hatte: zum Beispiel – man wollte nicht dem konkreten Angehörigen schaden, und die gesetzten ursächlichen Vorgangsweisen waren nicht willkürlich darauf ausgerichtet, Schaden zu erzeugen.

Im dritten Schritt sollten der oder die Täter den Schaden und das angerichtete Leid anerkennen und dies auch durch einen ehrlichen Ausdruck des Bedauerns zum Ausdruck bringen.

Der vierte Schritt stellt die Frage nach einem echten oder symbolischen Akt der Wiedergutmachung für den erlittenen Schaden.

Eine ganze Reihe von Stellungnahmen ist vonseiten der Politik zur vierten Welle der Pandemie erfolgt:

  1. Es sind Fehler gemacht worden.
  2. Die Situation wurde zu spät erkannt.
  3. Ich bin weder ein Heiliger noch ein Verbrecher und habe natürlich auch Fehler gemacht.
  4. Man hat die Entwicklung nicht richtig eingeschätzt.
  5. Ich entschuldige mich bei allen, die alles richtig gemacht haben und jetzt, weil andere sich nicht impfen haben lassen, in Quarantäne gehen müssen.

In den Stellungnahmen 1, 2 und 4 wurde ein Versagen zwar benannt, aber weder, wer dafür verantwortlich ist, noch wer davon betroffen ist. Damit ist Punkt eins einer sinnvollen Entschuldigung nicht erfüllt – nämlich die Klärung, wer Täter und wer Opfer ist. Die Punkte zwei, drei und vier brauchen somit gar nicht erst erörtert werden.
In der Stellungnahme 3 beruft sich der betreffende Politiker darauf, sich nicht von anderen Staatsbürgern zu unterscheiden (ich bin einer wie Du und ich) und reiht die gemachten Fehler in eine allgemeine Fehlerliste ein, wie z.B. beim Steuerzahlen nicht ganz korrekt zu sein oder einmal zu schnell mit dem Auto zu fahren. Weder wird dabei der Schaden (Krankheit, Leid oder vorzeitiger Tod) bezeichnet, noch die davon Betroffenen benannt. Ein besonderes Bedauern oder eine symbolische oder faktische Wiedergutmachung ist da nicht zu erkennen.

In der Stellungnahme 5 ist zunächst alles für eine korrekte Entschuldigung vorhanden, Täter und Opfer sind benannt, der Schaden (Quarantäne) ebenfalls. Aber die Ursache wird einer anderen Personengruppe zugeordnet und man entschuldigt sich nicht für die medizinischen Folgen der Pandemie, sondern für die wirtschaftlichen Folgen. Das ist so, als verursachte man als Weichensteller ein Zugsunglück mit Toten und Verletzten und entschuldigte sich dann bei den im nächsten Bahnhof Wartenden für die resultierende Zugverspätung.

Betrachtet man die Stellungnahmen der Politik zum Auftreten der vierten Welle der Pandemie, so überwiegen die Schuldzuweisungen an andere mit dem Ziel, einen Sündenbock ausfindig zu machen und damit sich selbst aus dem Zielfeld der wirklich Geschädigten zu bringen.

Wie soll man nun mit Fehlern umgehen? Augenöffnend ist eine Erfahrung, die fast jeder in öffentlichen Institutionen, zum Beispiel Schulen und Krankenhäusern gemacht hat. Zumindest in meiner Generation gibt es kaum jemanden, der sich erinnern kann, dabei gewesen zu sein, wie sich einer seiner Vorgesetzten bei wem auch immer entschuldigt hat. Fehler sind bestraft worden, in der Schule mit schlechten Noten und Beschneidung der Lernkarrieren, im Beruf mit dem Shame, Blame and Train or Punish Zyklus. Lucien Leape, Arzt und Professor an der Havard School of Public Health, spricht sogar von einer pathologischen Kultur unserer Gesellschaft.

In erfolgreichen Organisationen der Wirtschaft werden Probleme offengelegt, gelöst und zu Lernerfahrungen verarbeitet. In der Politik werden Probleme als Munition verwendet, um gegen den jeweiligen politischen Mitbewerber in eine Vorteilsposition zu kommen. Entschuldigungen werden als Schwäche ausgelegt und Eingeständnisse als politische Niederlagen. Dies geht solange, bis das politische Narrativ sich soweit von der Realität entfernt hat, dass die Glaubwürdigkeit desselben nicht mehr reparabel erscheint. Was bleibt, ist eine polarisierte und teilweise frustrierte Gesellschaft, der durch Politikversagen in der Pandemie Schaden zugefügt wurde und die durch dasselbe auseinanderdividiert und entsolidarisiert wurde.

Sich bei jemandem, dem Schaden zugefügt wurde, zu entschuldigen, gehört wie das „Sich-für-etwas-Bedanken“ zu den Grundtechniken menschlichen Zusammenlebens. Man lernt das in jeder funktionierenden Familie. Obwohl das Wissen darüber eine Selbstverständlichkeit sein sollte, lohnt es sich, sich doch damit eingehender zu beschäftigen.

Autor:
Dr. Martin Fischmeister
mfischmeister@gmail.com

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