In der dritten Ausgabe 2022 der QUALITAS präsentierten wir unser Projekt zur Implementierung einer Gewaltschutzgruppe (GSG) in der a.ö. Krankenhaus St. Vinzenz Betriebs GmbH, das gemeinsam mit einer ehemaligen Studentin der Gesundheits- und Krankenpflege initiiert wurde. Seither konnten einige Fortschritte erzielt werden und so gehen wir diesmal auf die gemeinsam erarbeiteten Prozesse ein, die für die Kolleginnen und Kollegen in der Praxis wichtige Pfade zur Betreuung Gewaltbetroffener darstellen.
Zum historischen Hintergrund unserer Einrichtung ist anzumerken, dass es sich hier um ein Ordenskrankenhaus der Barmherzigen Schwestern handelt, deren Ordensgründer, der Hl. Vinzenz von Paul (geb. 24. April 1581 in Pouy, gest. 27. September 1660 in Paris), zahlreiche Missionen für die Betreuung kranker Menschen, Armendienste, Einrichtungen für Findelkinder u.v.m. gründete.
Mit der Festlegung von Vision, Mission und Strategien als Basis für unser Projekt spannen wir also auch einen geschichtlichen Bogen zu den Grundgedanken des Ordens. Als Mitarbeiter der Organisation und Initiatoren des Projektes sehen wir in der Implementierung der Gewaltschutzgruppe unsere – auch moralische – Mission, Schutzsuchende zu identifizieren und in allen Facetten professionell zu betreuen.
Entwicklung und Ergebnisse der Prozesse
Ein erster Schritt waren ausführliche Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen, die ergaben, dass im Umgang mit Gewaltbetroffenen eine große Unsicherheit herrscht. Sei es bei der Identifizierung der Betroffenen, im Ansprechen auf die gegebene Situation oder wie es nach einer Identifikation weitergehen soll. Die Prozesse stellen somit ein glasklares Orientierungswerkzeug für alle patientennahen Berufsgruppen dar – einen Kompass in der Betreuung von Gewaltopfern, sowohl im Umgang mit ambulanten und stationären Patientinnen oder Patienten als auch mit gewaltbetroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
Uns war es von Beginn an wichtig, dass alle Formen der Gewalt mitberücksichtigt werden müssen, auch die scheinbar unscheinbaren. Was sich einfach anhört, stellte eine Herausforderung in der Umsetzung eines komplexen Prozesses dar. Die multidisziplinäre Zusammensetzung des Gewaltschutzteams und die fächerübergreifende Zusammenarbeit machten es jedoch möglich, einen breiten Blick mit vielen ungeahnten Lösungsansätzen zu erhalten. Wir einigten uns darauf, eine solide Basis mit praxistauglichen und durchdachten Behandlungspfaden zu schaffen, um Schutzsuchende bestmöglich betreuen zu können.
Durch Networking und Recherche standen uns zahlreiche Prozesse und Dokumente zur Verfügung. Es galt, die Unterlagen durch Details an die Bedürfnisse unserer Organisation zu adaptieren. Unsere Abteilung der Kinder- und Jugendmedizin war im Umgang mit Gewaltbetroffenen schon etwas routinierter. Deshalb nahmen wir deren Prozesse zuerst unter die Lupe und evaluierten diese anhand der neuen Anforderungen.

Prozess 1
Begründeter Verdacht bei physischer und/oder psychischer Gewalteinwirkung bei Betroffenen unter 18 Jahren
Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren werden in den meisten Fällen von unseren Experten der Kinder- und Jugendmedizin betreut. Handelt es sich nun um einen begründeten Verdacht einer physischen und/oder psychischen Gewalteinwirkung, so muss unverzüglich ein 4-Augen-Gespräch ohne die Betroffenen bzw. Angehörigen mit einem weiteren Experten (z.B. behandelnde Ärztin bzw. Arzt & DGKP) stattfinden. So will es auch der Gesetzgeber (§ 37, Bundes-Kinder- und Jugendhilfegesetz 2013 – B-KJHG 2016).
Bestehen Zweifel an einer möglichen Gewalteinwirkung, wird das Team der GSG kontaktiert. Hat sich der Verdacht durch die Kollegen verstärkt, ist in einer vertrauensvollen Umgebung mit der Begleitperson bzw. den Eltern der Verdacht weiter zu klären. Dies klingt einfacher als gedacht. Dafür bietet die Checkliste „Fragen für die Gesprächsführung bei bestätigtem Verdacht“ Unterstützung. Wird die Zustimmung für die Untersuchungen zur weiteren Abklärung durch die Eltern bzw. Begleitpersonen oder vom Jugendlichen, sofern er über 14 Jahre ist, verweigert, muss ab hier nun die Kinder- und Jugendhilfe des zuständigen Bezirkes verständigt werden. Gleiches gilt selbstredend, wenn die Gewalteinwirkung durch die weiterführenden Untersuchungen bestätigt wurde.
Zur Dokumentation haben wir uns auf die unveränderte Übernahme des MedPol Dokumentationsbogens (1) des Bundesministeriums für Inneres geeinigt. Wie schon in der letzten Ausgabe festgestellt, ist es uns ein Anliegen, möglichst frühzeitig mit den externen Partnern zusammenzuarbeiten. So haben wir hier die Kinder- und Jugendhilfe unserer beiden Bezirke eingeladen, um diesen Prozess gemeinsam durchzusprechen. Dabei wurde deutlich, dass bei Unklarheiten, wie beispielsweise Zuständigkeiten, Verdachtsfälle etc., das Behandlungsteam eine anonyme Beratung dieser Einrichtung wahrnehmen kann. Mit diesem Angebot wird den Kollegen extrem viel Druck abgenommen, da im Rahmen eines beratenden Gespräches noch keine Meldung an die Behörde erfolgt. Gemeinsam mit der Kinder- und Jugendhilfe werden die weiteren Maßnahmen besprochen und ggf. gleichzeitig die Exekutive verständigt.
Sollte nach Rücksprache mit der Kinder- und Jugendhilfe keine unmittelbare Gefährdung des Kindeswohls vorliegen, wird mit dem Betroffenen ein ambulanter Kontrolltermin vereinbart, um zeitnah die Situation neu evaluieren zu können. Andernfalls wird das Kind bzw. der Jugendliche stationär aufgenommen; auch im Zweifelsfall, denn die Sicherheit des Kindes bzw. des Jugendlichen geht hier vor.
Prozess 2
Begründeter Verdacht der (häuslichen) Gewalt bei erwachsenen, handlungs- und entscheidungsfähigen Patientinnen und Patienten über 18 Jahren
Der Ablauf dieses Prozesses unterscheidet sich eigentlich kaum vom „Kinderprozess“, außer dass hier eben nicht die Kinder- und Jugendhilfe verständigt wird und das Einverständnis für weitere Untersuchungen nur direkt von der betroffenen Person eingeholt werden muss; ebenso bei der Entscheidung, ob eine Anzeige bei der Exekutive erfolgen soll oder nicht. Die Asservate werden, wie im MedPol-Bogen empfohlen, für ein Jahr in unserem Haus archiviert, sollte der Betroffene von einer Anzeige vorläufig absehen. Die besonders sorgfältig durchgeführte, gerichtsverwertbare Beweissicherung und Dokumentation sind besonders im Zusammenhang mit eventuellen Strafprozessen wichtig.
Die Spezifik im Umgang mit nicht entscheidungs- und handlungsfähigen Betroffenen über 18 Jahren wird in einem eigenen Prozess dargestellt, an dem aktuell noch gearbeitet wird. Hier liegt die Herausforderung darin, dass der betroffene Erwachsenenvertreter unter Umständen auch Auslöser der physischen bzw. psychischen Gewalt sein könnte.
Prozess 3
Verdacht auf Kindeswohlgefährdung beim neugeborenen Kind
In der Projektgruppe ist aus gutem Grund auch eine Hebamme dabei: Die werdenden Mütter verbringen im Laufe der zahlreichen Untersuchungen für die Geburtsvorbereitung sehr viel Zeit in der Hebammenambulanz. Hier bauen die Hebammen einen engen Kontakt zur Mutter und dem werdenden Kind auf. Somit könnten mögliche Kindeswohlgefährdungen sehr früh identifiziert und in Rücksprache mit der werdenden Mutter ggf. entsprechende Maßnahmen vorbereitet werden.
Wie ist das nun mit der Anzeigepflicht?
In den bisherigen Projektsitzungen sorgte das Thema der Anzeigepflicht für längere Diskussionen. Fragen wurden gestellt wie: Wer muss die Anzeige durchführen? Wann kann von einer Anzeige abgesehen werden? Was machen wir, wenn der/die Betroffene keine Anzeige machen möchte? Müssen wir als Behandlungsteam bei sexuellen Übergriffen die Anzeige vornehmen?
Hierfür haben wir die gesetzlichen Anforderungen und Rückmeldungen unserer externen Partner analysiert. Dies ist aber noch nicht ganz abgeschlossen. Eine Anzeigepflicht des Behandlungsteams besteht lt. Gewaltschutzgesetz 2019 (hier ÄrzteG 1998 § 54 (4)) immer bei:
■ Tod.
■ Schwerer Körperverletzung. Diese liegt vor, wenn die andauernde Gesundheitsschädigung länger als 24 Tage andauert, ein wichtiges Organ oder Körperteil betroffen ist oder der Heilungsverlauf ungewiss ist.
■ Vergewaltigung.
Von einer Anzeige kann abgesehen werden:
■ bei ausdrücklicher Ablehnung des Patienten, sofern keine unmittelbare Gefahr für diesen oder für eine andere Person vorliegt und die klinisch-
forensische Spurensicherung ärztlich gesichert ist, oder
■ wenn die Anzeige die berufliche Tätigkeit beeinträchtigen würde, sofern keine unmittelbare Gefahr für den Patienten oder eine andere Person gegeben ist, oder
■ wenn die Anzeige bereits erfolgt ist.
Verzichtet der Betroffene auf die Anzeige, so muss dies vom behandelnden Arzt in der Krankengeschichte schlüssig dokumentiert und ein Revers vom Patienten unterschrieben werden. Der empfohlene Wortlaut zur korrekten Dokumentation ist im Prozess entsprechend angeführt und zu entnehmen.
Allgemeines
Um die schnelle Verfügbarkeit aller Checklisten, Formulare und Prozessbeschreibungen in der aktuellen Version zu gewährleisten, werden diese im digitalen Qualitätsmanagementhandbuch bereitgestellt. Ebenso befindet sich dort – für alle Berufsgruppen einsichtbar – das Manual der GSG, in dem die gesamte Aufbau- und Ablauforganisation niedergeschrieben ist.
Weiters werden wir noch mehr Energie in die Kommunikation des Projektes in der Belegschaft investieren müssen, denn wir haben den Eindruck gewonnen, dass Kollegen mitunter die Gewaltschutzgruppe mit dem Deeskalationsmanagement verwechseln. Letzteres ist eine notwendige und dringende Maßnahme, die aber frühestens im März 2023 als Projekt gestartet werden kann. Eine erste Informationskampagne haben wir über einen Jour Fixe mit den Leitungen der Verwaltungsabteilungen und den Bereichsleitungen der Pflege gestartet, gefolgt von einer Projektvorstellung in der Zeitung für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Eine Information über das Intranet wird vorbereitet.
Stolpersteine
Trotz sorgfältiger Projektplanung und ausgearbeiteter Verträge, stolpert man hin und wieder über unvorhergesehene holprige Situationen. Dann wird die Fokussierung auf Vision und Mission des Projektes und deren Durchsetzung erfahrungsgemäß sehr mühsam. Mithilfe der nötigen Erfahrungen und der wichtigen Kenntnisse im Konfliktmanagement konnte jedoch über einen neuen Weg wieder Fahrt aufgenommen werden.
Der bekannte Journalist Christian Wehrschütz (2), der in Kriegsgebieten unterwegs ist, zitiert in seinem aktuellen Buch ein altes Rechtsprinzip: „Audiatur et altera pars!“, was so viel bedeutet wie: „Alle Seiten der am Prozess beteiligten Personen müssen gehört werden.“ Dies ist eine Kommunikationsregel, die wir allen Stakeholdern, die an den Projekten beteiligt sind, sehr empfehlen!
In diesem Sinne an alle Idealisten, die Missionen umsetzen: Viel Kraft und Freude bei der Umsetzung eurer Projekte im Dienste der Menschen, denn dann wird es auch mit den Leitbildern authentischer …!
Ausblick
Einen nächsten Schwerpunkt setzen wir auf die Themen Schulung und Sensibilisierungskampagnen. Wir freuen uns, in der nächsten QUALITAS-Ausgabe wieder über unsere Fortschritte zu berichten.
Literatur:
1) Bundesministerium für Inneres, Österreichische Ärztekammer, ÖGAM (2016): Dokumentationsbogen, [online] https://toolbox-opferschutz.at/sites/toolbox-opferschutz.at/files/inline-files/Anhang%2016_MedPol.pdf [Zugriff: 31.10.2022].
2) Wehrschütz Christian (2022): Mein Journalistenleben zwischen Darth Vader und Jungfrau Maria, Graz: Edition Keiper.

Autorin und Autor:
Barbara Stecher, BsC
Koordination Gewaltschutzgruppe
DGKP Innere Medizin
a.ö. Krankenhaus St. Vinzenz Betriebs GmbH
barbara.stecher@krankenhaus-zams.at
Elmar W. Zormann, MBA
Projektleitung Gewaltschutzgruppe
Leitung Qualitäts- u. Risikomanagement
a.ö. Krankenhaus St. Vinzenz Betriebs GmbH
elmar.zormann@krankenhaus-zams.at
