Selbst bei jährlich steigenden Gesundheitsbudgets kann jeder Euro nur einmal ausgegeben werden. Jede öffentliche Finanzierung neuer Leistungen hat daher Auswirkungen auf die Versorgung von Patientinnen und Patienten in anderen Bereichen. Das spielt besonders bei hochpreisigen Technologien eine Rolle, wo es aufgrund von Budgetdruck zu Verdrängungseffekten kommen kann. Diese bleiben aber oft unsichtbar. Die Niederlande machen vor, wie mehr Transparenz bei diesem Thema möglich ist.
Die Ausgaben für eine neue Technologie könnten immer auch anderswo investiert werden, möglicherweise mit mehr gesundheitlichem Nutzen. Dieses Prinzip bezeichnet die Gesundheitsökonomie als Opportunitätskostenprinzip. Nun ist schon das generelle Bewusstsein für die Existenz von Opportunitätskosten gering. Kaum jemals beschäftigen wir uns aber damit, wie hoch die Kosten durch die entgangenen Alternativen tatsächlich sind und welche Patientengruppen davon betroffen sind, also an Gesundheit verlieren.
In den Niederlanden wurde eine Methode entwickelt, um die Opportunitätskosten der Refundierung einer neuen Technologie sichtbar zu machen, der sogenannte Opportunitätskostenrechner. Die Anwendung auf den Fall Orkambi®, ein Präparat zur Behandlung von zystischer Fibrose, für das ein Budgetbedarf von 84,4 Millionen Euro geschätzt wurde, zeigte folgendes Bild: Dem Gesundheitsgewinn durch das Medikament, der mit 210 qualitätsbereinigten Lebensjahren (QALYs) berechnet wurde, steht ein deutlich höherer Verlust an 1.145 qualitätsbereinigten QALYs anderswo gegenüber. Der Rechner zeigt überdies, dass es primär zu Verdrängung bei neurologischen Erkrankungen, Augen- und Ohrenerkrankungen sowie Hautkrankheiten kommt, wenn Orkambi® aus dem Regelbudget finanziert werden muss. Vordergründig ist das ein Effizienzthema: Die Finanzierung des Medikaments führt beim damaligen Preis zu einem Netto-Gesundheitsverlust für die Bevölkerung und entspricht somit keiner sinnvollen Ressourcenverwendung, wenn wir uns am Prinzip der Maximierung der Gesundheit orientieren.
Es ist aber auch ein Gerechtigkeits- und Verteilungsthema, denn die Profiteure und Verlierer sind nicht ausgewogen verteilt, was die Krankheitsgruppen betrifft, wohl aber auch bezüglich anderer Merkmale wie Geschlecht oder Alter. Niederländische Begleitforschung zum Thema ‚Verdrängungseffekte‘ zeigte auf Basis von 80 Experteninterviews aus Praxis und Verwaltung, dass es durch den Budgetdruck zwar zu keiner expliziten Rationierung bei einzelnen Patientinnen und Patienten kommt, sehr wohl aber ein diffuser Veränderungsprozess zu beobachten ist: subtile Umstrukturierungen in einzelnen Krankenhäusern, Bevorzugung einzelner Patientengruppen (z.B. onkologische), Verschiebung anderer in andere Häuser oder längere Wartelisten bei bestimmten Indikationen, insbesondere bei elektiven Eingriffen.
In einer anderen Anwendung des Rechners zeigte die Forschung, dass eine eingehende Evaluierung und Preisverhandlungen den Zugang zu neuen, teuren Medikamenten zwar etwas verzögern, auf Bevölkerungsebene dadurch aber mehr Gesundheit und ein geringerer Netto-Budget-Impact erreicht werden. Würden nämlich die neuen Therapien unmittelbar nach Zulassung zu den von der Industrie definierten Preisen erstattet werden, ginge der damit umso höhere Budgetbedarf mit Einsparungen anderswo einher. Das hätte höhere Verluste an Gesundheit zur Folge als mit den neuen Therapien unmittelbar an Gesundheit gewonnen wird.
Nun sind diese Methoden, wie die Entwickler selbst anmerken, mit vielen Unsicherheiten behaftet. Sie geben jedoch jenen Patienten eine Stimme, die von Refundierungsentscheidungen indirekt betroffen sind und die im lauten Ruf von Industrie und (oft von ihr gesponserten) Patienteninitiativen nach schnellem Zugang zu neuen Technologien meistens untergehen. Entscheidungsträgern, die im Sinne des Gemeinwohls agieren müssen, sollte diese andere Seite der Medaille nicht egal sein. Es ist ein Ausdruck des Willens zu Transparenz und rationalem Umgang mit derzeitigen Herausforderungen, die Auswirkungen von neuen Technologien im Gesundheitssystem umfassend zu beleuchten und explizit zu benennen. Ein Blick über den nationalen Tellerrand, mit welchen methodischen Ansätzen das unterstützt werden kann, ist angebracht.
Referenzen:
• Boer et al. 2023. Effecten van des sluis. Onderzoek naar de effecten van des sluis voor intramurale geneesmiddelen.
https://www.zorginstituutnederland.nl/publicaties/rapport/2023/08/16/onderzoeksrapport-equalis-over-effecten-van-de-sluis-voor-dure-geneesmiddelen.
• Adan et al. 2018. Verdringingseffecten binnen het Nederlandse zorgestelsel. https://www.zorginstituutnederland.nl/publicaties/rapport/2015/11/20/verdringingseffecten-binnen-het-nederlandse-zorgstelsel-op-weg-naar-transparantie-rapport-radboud-umc.
• IQ Scientific Center for Quality of Healthcare. 2018. Point 1.0. POINT 1.0 – Verdringingseffecten zichtbaar maken. https://www.iqhealthcare.nl/nl/kennisbank/tools/point-10-verdringingseffecten-zichtbaar-maken/.
Autorin:
Dr. Ingrid Zechmeister-Koss,
stellvertretende Institutsleiterin der HTA Austria – AIHTA GmbH