Digitale Ebenbilder

Lesedauer beträgt 1 Minuten
Autor: Alexandra Keller

Virtuelle Zwillinge sind die Versuchskaninchen des digitalen Zeitalters. Der Erfolg von operativen Eingriffen und medikamentösen Therapien kann mithilfe originalgetreuer Simulationen gefahrlos erprobt werden.

Die Vision eines digitalen Dummies verspricht verlockendes: Jeder Mensch soll in naher Zukunft einen virtuellen Zwilling erhalten. An dem simulierten Ebenbild können in Zukunft gefahrlos Diagnosen und Therapien auf ihre heilende Treffsicherheit getestet werden. Das Konzept der digitalen Zwillinge gilt als einer der Haupttreiber der angewandten Digitalisierung. Sie sind virtuelle Ebenbilder, geschaffen mithilfe einer unübersehbaren Menge an Daten. Komplexeste Produkte und Prozesse werden so in der virtuellen Welt entwickelt, getestet und optimiert, bevor sie in der realen Welt umgesetzt werden. Digitale Zwillinge beschäftigen weltweit Forschungsinstitute aller Branchen. Industrie 4.0 und Digital Health sind in dieser Hinsicht Kinder derselben Idee. Die Tragweite ist enorm: Die 2018 gestartete Forschungsinitiative „Digi­Twins“ beabsichtigt, von allen EU-Bürgern und -Bürgerinnen einen persönlichen digitalen Zwilling zu erstellen. Und die Initiative ist gereift: Mehr als 200 Partner aus 118 Organisationen in 29 verschiedenen Ländern haben sich bisher an dem von der EU unterstützten Projekt beteiligt. Der Forschungsaufwand ist enorm: Denn das digitale Ebenbild eines Menschen ist kein schlichtes Foto oder ein simples Hologramm, sondern das Ergebnis eines riesigen Pools an individuellen Daten, der ständig geflutet wird. Die Datenvernetzung durch Methoden des Ma­chine Learning und Dataminings mündet idealerweise in Modellen, die das Verhalten ihrer realen Vorbilder zu simulieren wissen. Doch was bei den Spiegelbildern der sachproduzierenden Welt von Industrie 4.0 schon recht umfassend funktioniert, ist beim medizinisch motivierten virtuellen Abbild ungleich komplexer. Der menschliche Körper verfügt über eine schwer fassbare Variabilität, die sich nur schwer über Algorithmen beschreiben lässt. Er ist individuell.

Die menschliche Individualität ist medizinisch betrachtet ein Kostentreiber. Die Forschungsinitiative DigiTwins schätzt, dass unerwünschte Nebenwirkungen von Medikamenten direkt und indirekt 20 Prozent der europäischen Gesundheitsbudgets in Anspruch nehmen. Dies sind 280 Milliarden Euro pro Jahr oder 800 Millionen Euro pro Tag, die gespart werden könnten, würden Medikamente punktgenau wirken. Durch den Einsatz von digitalen Zwillingen soll die Treffsicherheit der medikamentösen Therapien deutlich gesteigert werden. Noch eindrücklicher werden die Sparpotenziale, wenn individuell abgestimmte Präventionsmaßnahmen – wie sie durch digitale Zwillinge möglich werden – in die Betrachtungen miteinbezogen werden. So wird die medizinische Wirksamkeit umfassende Prävention mithilfe von digitalen Zwillingen langfristig um 50 Prozent erhöht. Folgt man den – euphorischen – Berechnungen von DigiTwins, könnten langfristig die Hälfte der Gesundheitskosten eingespart werden, würde jeder Mensch über einen digitalen Zwilling verfügen.
Der Weg zur therapeutischen Kosten- und Wirkungsintelligenz ist allerdings mit Hürden versehen. Die Verarbeitung von Abermillionen Patientendaten verlangt nach speziellen Maßnahmen der Datensicherheit. Und die Fragen der Datenqualität und des Datensammelns sind in vielen nationalen Gesundheitssystemen unbeantwortet.

Der Daten-Zwilling
Ein digitaler Zwilling ist ein virtuelles Abbild eines realen Produkts oder Prozesses. Er enthält nicht nur Informationen zur Form, sondern auch zu den Eigenschaften und Funktionen seines realen Pendants. Damit lässt sich jeder Schritt in der Entwicklung bis hin zum Einsatz virtuell abbilden. Dies geschieht mittels Simulation am Computer in der virtuellen Welt. Dabei wird getestet, wie sich ein Produkt oder Prozess unter realen Bedingungen verhalten wird. Die Anzahl physischer Prototypen oder falscher Ansätze lässt sich damit drastisch reduzieren. Damit kann ohne den Einsatz von Ressourcen und in stark verkürzter Zeit bereits frühzeitig das Produkt oder der Prozess untersucht werden. Im medizinischen Bereich bildet der digitale Zwilling einen realen Menschen ab. An ihm lässt sich vieles erproben. Mit einer Computersimulation kann zum Beispiel festgestellt werden, ob und wie ein bestimmtes Medikament bei Menschen wirken wird. So lässt sich auch der Therapieerfolg in gewissem Umfang vorhersagen und simulieren. Zukünftig soll es möglich sein, sämtliche Informationen über ein Krankheitsbild und einen Patienten in diesem digitalen Zwilling zusammenzuführen. Von dieser lebensechten „Patientenakte“ werden neue Behandlungsansätze und viel passgenauere Therapien für den einzelnen Menschen erwartet.

Entwicklungsstufen

Im November 2021 präsentierten sieben Fraunhofer-Institute den ersten Prototypen für den digitalen Patienten-Zwilling. Sie arbeiten seit Oktober 2019 am Leitprojekt MED²ICIN. Im Zentrum der Forschung steht die Notwendigkeit, die isolierten Datensilos entlang des Patientenpfades aufzubrechen. Bislang sind die Diagnose und Therapie von chronischen Erkrankungen wie Multipler Sklerose, Krebs oder Demenz komplex und kostenintensiv. Ein Grund: Patientendaten wie Anamnesegespräche, MRT-Aufnahmen, Laboruntersuchungen oder Therapieverläufe werden zwar immer besser digital erfasst und vorgehalten, liegen aber unstrukturiert und für die Behandelnden nicht immer greifbar vor. „Eine sinnvolle Aufbereitung, Verknüpfung und Visualisierung der Patientendaten und ein direkter Zugriff auf aktuellste Studiendaten oder Leitlinien für die klinische Entscheidungsfindung ist im Klinikalltag während der Patientenvorstellung nicht möglich“, heißt es in der Presseaussendung der Fraunhofer-Institute.
Das Leitprojekt MED²ICIN verbindet diese Gesundheitsinformationen und gleicht sie mit Parametern aus Populationsstudien und Daten spezifischer Krankheitsbilder wie Diagnostik, Krankheitsverlauf, Medikation oder Therapien anderer Betroffener ab. Ein erstes Pilotprojekt läuft derzeit am Universitätsklinikum Frankfurt am Main, wo es am Beispiel chronisch entzündlicher Darmerkrankungen evaluiert und implementiert wird. Dabei werden Daten von mehr als 600 Betroffenen mit 170 verschiedenen Parametern miteinbezogen. Erste Adressaten des Projekts sind Medizinerinnen und Mediziner im Krankenhaus, die Patienten mit komplexen Krankheitsverläufen behandeln. Im späteren Verlauf werden niedergelassene Fachärztinnen und Fachärzte eingebunden, aber auch die Patientinnen und Patienten sollen Zugänge erhalten. Gleiches gilt für Forschungsinstitute oder Krankenkassen.

Es wirkt nicht überraschend, dass das menschliche Herz einen besonderen Platz in diesem Forschungsbereich einnimmt. Der Medtech-Konzern Siemens Heathineers arbeitet gemeinsam mit dem Institut für Cardiomyopathien am Uniklinikum Heidelberg intensiv am digitalen Spiegelbild des Herzens. In Heidelberg soll der digitale Zwilling nicht nur diagnostisch zum Einsatz kommen, sondern es soll die Wirkung bestimmter Herzmedikamente simuliert werden. Andere Einsatzgebiete sind virtuelle Herzkathetereingriffe und Herzoperationen, die frühzeitig anzeigen, ob es eine realistische Erfolgschance für den Eingriff gibt.

Grazer Auswahlteam.
Das Forschungsteam der BioTechMed-Graz verweist auf große Fortschritte in der Berechnung eines digitalen Herzmodells. Durch Simulation kann der Therapieerfolg eines Herzschrittmachers deutlich gesteigert werden.

Heimische Erfolge

Auf gleichem Gebiet engagiert sich in Österreich der interuniversitäre Forschungsverbund BioTechMed-Graz. Die Forschungskooperation der Karl-Franzens-Universität Graz, der Technischen Universität Graz und der Medizinischen Universität Graz will Schnittstelle für Spitzenforschung aus Biomedizinischen Grundlagen, Technologischen Entwicklungen und Medizinischen Anwendungen sein. Eines seiner Teams entwickelt ein Computermodell eines erkrankten Herzens, mit dessen Hilfe Ärzte erkennen, ob das Einsetzen eines Herzschrittmachers erfolgreich sein wird oder nicht. Im Hintergrund steht die Herausforderung, dass bei rund einem Drittel der Patienten, die einen Herzschrittmacher erhalten, die mechanische Resynchronisation des Herzschlags nicht funktioniert. Das Grazer Herzmodell soll helfen, die Erfolgsprognosen zu steigern. Dabei ist die digitale Abbildung des Herzschlag „herausfordernd“, wie Thomas Pock, Informatiker am Institut für Maschinelles Sehen und Darstellen der TU Graz, in einem Gespräch mit der APA kokettiert. Er forscht gemeinsam mit Gernot Plank (MedUni-Graz) und Thomas Grandits am virtuellen Ebenbild des menschlichen Herzens. „Um einen Herzschlag im Computer zu simulieren, muss man Millionen von Variablen berechnen.“ Komplexe mathematische Verfahren, spezielle Algorithmen und spezielle Hardware kommen zum Einsatz, um die notwendigen Rechenaktionen pro Sekunde ausführen zu können. Die Daten werden aus hochauflösenden bildgebenden Verfahren gewonnen, die vom Herz des jeweiligen Patienten gemacht wurden. Auch wird die Veränderung der Herzanatomie bei jedem Herzschlag durch einen Algorithmus berechnet, der Millionen von Variablen berücksichtigt. So kann die Pumpleistung des Herzens rekonstruiert werden. Daraus wiederum könne man exakt ableiten, wie man den Erregungsablauf therapeutisch verändern muss, so Pock. Die Simulation zeigt zudem, wie das Herz auf einen Schrittmacher reagiert oder auf Ablationstherapien antwortet. Dabei werden gezielt Gewebsveränderungen vorgenommen, um eine Funktionsstörung des Herzens zu beseitigen. Die Grazer Simulations-Software soll noch dieses Jahr in ersten klinischen Validierungsstudien an der Klinischen Abteilung für Kardiologie der Med-Uni Graz zum Einsatz kommen.    //

Links:
DigiTwins
Europäische Kommission unterstützt DigiTwins
BioTechMed-Graz
Fraunhofer Leitprojekt MED²ICIN

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren: