Jenseits des Durchschnitts

Lesedauer beträgt 8 Minuten
Autor: Roland Schaffler

Hugo – treue QUALITAS-Leserinnen und erfahrene Leser erinnern sich vielleicht an ihn, also der Hugo mit dem „ü“, weil er aus Lyon stammt, schlenderte allein durch die in diesem Jahr wieder nicht verschneiten Straßen seiner Stadt. Und es war wieder der Erste Advent.

Hugo war nicht mehr Koch. Hugo war inzwischen System-Gastronom gewesen. Schließlich wurde er Berater für Führung und QM in der Gastronomie und gab eine Fachzeitschrift für diese Themen heraus.

Im Laufe der Jahre (die QUALITAS-Redaktion durfte ihn ja dabei begleiten) hatte er nicht nur viel erlebt in der Entwicklung des QM in der Gastronomie, den Veränderungen in den gesetzlichen Rahmenbedingungen und den Moden im Management (interessierte Abonnenten haben über das QUALITAS-Archiv auf www.gesundheitswirtschaft.at auch online Zugriff auf diese fünf QUALITAS-Beiträge, wenn sie geruhen, unter „Hugo“ zu suchen). Er hatte selbst in seinen verschiedenen Rollen und Aufgaben alle Entwicklungen mitgemacht …

Winter war nicht zu spüren in der Rue de la Platiére. Lyon hatte Hugo, unseren Koch, Konzernchef und Enkel einer kochkundigen Großmutter wieder. Die alte Küche seiner Oma war sein Ziel und genügend Zeit hatte er mitgebracht.

Erschöpfung

Seine Geschwindigkeit war in den Monaten davor immer geringer geworden. Es war kein bewusstes Innehalten, das diese Langsamkeit bedingte. Es war die Last, der Widerstand eines zähen Mediums, in dem er sich bewegte. Je mehr er sich bemühte, Fahrt aufzunehmen, desto mühsamer war es, weiterzukommen. Er hatte endlich seine Geschwindigkeit angepasst: Vom fröhlichen Spaziergang mit forschem Schritt in der Frühlingsluft zum Schwimmtempo in seinem stolzen Pool war er jetzt langsam wie in Honig unterwegs – mit der maximalen Grenzgeschwindigkeit, die klebriger Honig bei Zimmertemperatur eben zuließ, und kurz vor der völligen Erstarrung.

Einige seiner liebsten Kollegen, die über die Jahre zu Freunden geworden waren, waren schon in Pension. Hugo hatte in dieser Riesen-Babyboomer-Generation eine Menge an Freunden und viele von diesen hatten aus dem Nichts ein Restaurant, eine Kette oder einen Konzern aufgebaut – allein durch die Begeisterung fürs Kochen, die Kraft ihrer Teams mit gemeinsamen Zielen und den selbst gemalten Bildern von der Zukunft der Gastronomie.

Auf dem Weg durch seine Stadt erinnerte sich Hugo an ein lang vergangenes Gespräch mit seinem Freund Pascal, der sich vom Koch zum Jockey verändert hatte und so unverschämt glücklich mit dieser Veränderung war:

„Und das Kochen, geht dir das gar nicht ab?“, Hugo war sehr nachdenklich. „Kochen ist schön“, erwiderte Pascal, „aber in einer Organisation gefangen zu sein – und da macht es nicht wirklich einen Unterschied, ob du der bist, der mit dem Chauffeur in die Arbeit fährt, oder der mit dem moto – in der du nur mehr funktionieren musst, wo es keinen Unterschied macht, was du tust oder lässt, sondern andere dir vorgeben, was du wie zu tun hast, das macht keine Freude. Das kostet Lebenskraft; mehr Lebenskraft als volle Netze einzuholen oder ungestüme Hengste zu reiten. Es ist diese Vorgabe der Mittelmäßigkeit, die sich kein Mensch gefallen lassen sollte.“

Hugo hatte als Konzernchef und Systemgastronom ja einst seinen eigenen Fehler der Vereinheitlichung der Mittelmäßigkeit erkannt und das persönliche Besser-Werden-Wollen seiner Mitarbeiter zu neuem Leben erweckt. Ihr internes Bistro-QM-System und lebendige PDCA-Zyklen mit selbst gewählten Zielen hatten dieses Wollen mit Methode unterstützt. Hugo und seine Kollegen wollten die Besten sein. Das brachte Sinn in die Arbeit, machte großen Spaß und förderte den Einzelnen und das Team durch ständiges Fordern seitens des Publikums. Die Konkurrenz schlief nicht. Das war damals kein Problem. Es war der Treibstoff für ihre gemeinsame Weiterentwicklung.

Entwicklungen

Qualität interessierte nicht mehr so wie noch ein paar Jahre zuvor. Hugo hatte den Eindruck gewonnen – vielmehr erzählte er sich selbst diese Geschichte. Sogar der Beratermarkt legte weniger Augenmerk auf das Thema. War es, weil die Gäste in der Gastronomie heute schon damit zufrieden und glücklich waren, überhaupt noch ein Restaurant zu finden, das für sie geöffnet hatte und warme Küche bot? War es, weil die Menschen froh waren, in ihrem Stammlokal einen Platz zu ergattern, seit die Anzahl der Tische aufgrund des immer weiter um sich greifenden Personalmangels reduziert worden waren?

Hugo meinte, dass das stetige Wachstum der Ketten, Konzerne und Kommandozentralen in der Gastronomie eine Verhaltensänderung bedingt, die Sicherheit in den Mittelpunkt stellte. In großen Organisationen war es immer wichtiger geworden, selbst keinen Fehler zu machen als Erfolg zu haben. Fehler förderten eigenes Fortkommen und Karriere keineswegs. Das führte einerseits zu Entscheidungskarenz, denn wer keine Entscheidungen trifft, kann auch keine falschen treffen. Andererseits führte dies zu aufwendiger Dokumentation des eigenen Handelns, um im Fall eines Fehlers beweisen zu können, selbst nicht daran schuld zu sein. Bestenfalls fand man in den unbeeinflussbaren Rahmenbedingungen wie Demographie, Klima oder Weltwirtschaft eine Ursache für Probleme. Manchmal musste auch ein schlecht vorbereiteter Kollege sein Amt als Sündenbock niederlegen.

In Wirklichkeit sind das Bilder, die wir zeichnen, malen und erzählen, erkannte Hugo, unsere Bilder von der Wirklichkeit. Und diese Bilder sind nie durchschnittlich, sie schmerzen, bringen Freude, fordern Lösungen, zeigen Probleme und Wege.

Erinnerungen

Hugo war so sinnierend in der Küche seiner Großmutter angekommen. Das Licht, das alte Geschirr und der Duft, der in der Luft lag, weckten in Hugo die Erinnerung an lang vergangene Tage im ersten eigenen Bistro:

Es war der Erste Advent. Und es war der erste weiße Erste Advent seit Jahren. Die Klimaerwärmung war wohl daran schuld. Es war aber denkbar, dass es die erhitzten Gemüter der Klimaschützer waren, die den Schnee nicht recht bleiben ließen in den letzten Jahren. Sei’s drum, der weiße Erste Advent brachte die Gäste in das kleine Bistro in der Stadt am großen Strome, im Land der Äcker und der Dome.

Für Hugo war das die willkommene Gelegenheit, zu zeigen, was er alles konnte. Die Vorbereitung der Gewürzmischungen, der feinen Saucen und Fonds und die Einkäufe hatten seine letzten Novembertage erfüllt. Jetzt flogen die aiguelles à piquer, die bouquets garni, die cassolettes und cocottes Jonglierbällen gleich durch Hugos kleine Küche, die er sich genauso eingerichtet hatte, wie die Küche seiner Großmutter.

Und aus der Küche flogen in elegantem Schwung, denn gelernt ist gelernt, die duftenden Gerichte des chef de cuisine: feine crêpes, heiße bouillabaisse, delikate pâté de campagne, frischer salade niçoise, herzhaftes chateaubriand und süße tartes. Um die Gäste und den Wein kümmerten sich Jean, der wie Hugo auch aus Lyon kam, und Marie, ein freches blondes Geschöpf aus der Provence.

Die Gäste waren selten nur zufrieden. Meistens waren sie begeistert von Hugos Kreationen und der warmen, behaglichen Stimmung, die Jean und Marie verbreiteten. Sie kamen immer wieder und manche brachten auch ihre besten Freunde mit. Und diese kamen wieder mit ihren besten Freunden und so fort. Hugo musste sich schon lange keine Sorgen um sein Auskommen machen. Er konnte sogar jedes Jahr einen Monat im Sommer in Lyon verbringen.

Erleuchtung

Hugo erinnerte sich auch an die dunkle Erleuchtung, die ihm das Gespräch mit eben jenem Stammgast bescherte, der im Gesundheitswesen (von dem sich Hugo die Idee der Zertifizierung für die Gastronomie ausgeborgt hatte) arbeitete:

Ein paar Tage vor den nächsten Weihnachten hatte Hugo dann von einem treuen Stammgast, der in einem Spital arbeitete, erfahren, dass es nach Meinung der Spitalsmitarbeiter offensichtlich gar nicht so weit her sei mit der Qualität im Gesundheitswesen. Hugos Bistro könne er jederzeit einem guten Freund empfehlen – meinte der Stammgast – und sich sicher sein, dass dieser ebenso begeistert sein werde von den Speisen, den Weinen und der Gastlichkeit wie er selbst. Wenn aber einer seiner Freunde oder jemand aus der Familie ins Spital müsse, würde er, wie alle seine Kollegen auch, unverzüglich damit beginnen, zu telefonieren. Spitalsmitarbeiter würden Spitälern nicht trauen; unbedeutend wie zertifiziert sie auch seien.

Ja, er müsse dann dafür sorgen, setzte der Gast fort, dass sein Freund nicht zu lange und womöglich an der falschen Stelle warte. Er würde sich für ihn erkundigen, welcher Arzt am besten kann, was sein Freund brauchte, und den richtigen Arzt bitten, nach seinem Freund zu sehen, ihn zu untersuchen oder ihn zu operieren. Er würde dafür sorgen, dass er nicht zu lange auf einen Termin für eine Behandlung oder Untersuchung warten müsse und sein Zimmer nicht allzu viele Betten und Patienten beherberge. Er würde jeden auf der Station wissen lassen, dass sein Freund sein Freund sei. Zur Sicherheit; man wisse ja nie. Er würde sich für ihn genau erkundigen für den Fall, dass er etwas nicht verstanden habe, was ihm die Ärzte über seine Krankheit gesagt haben. Für Patienten blieben immer viele Fragen im Spital. Er würde es regeln, dass zu Hause dann alles bereit stehe, wenn er wieder aus dem Spital entlassen werde. Er würde für ihn noch vor dem Wochenende das Rezept vom Arzt und die Medikamente von der Apotheke holen. Das Gesundheitswesen funktioniere am Wochenende fast gar nicht. Und er würde seinem Freund einbläuen, so oft wie möglich seinen Namen zu sagen und zu fragen, was jetzt gerade mit ihm geschehe, denn zu oft würden Verwechslungen von Patienten oder Pillen vorkommen.

Hugo empfahl dem Gast damals, die Mitarbeiter zu fragen. Sie wüssten nach seiner Schilderung doch offensichtlich ganz genau, was alles wo und wie zu verbessern sei.

Epilog

Hugo stand in der Küche seiner Großmutter und sann nach einem Rezept, das die eigene Erstarrung, die Erschöpfung der Menschen rundum und die Entwicklungen in die Sackgassen kurieren könnte. Pascal sein Freund, der vom Koch zum Jockey geworden war, hatte ihm doch damals beim Verabschieden da noch etwas mitgegeben:

Pascal gab Hugo am weißen Zaun der Pferderennbahn die letzte Lektion: „Sieh dir die Pferde und ihre Reiter an. Wären sie so schnell, so kraftvoll, glückselig und entschlossen, wenn nicht jeder von ihnen der Erste sein wollte? Wie würden Pferderennen und Fischfänge aussehen, wenn es da jemanden gäbe, der ihnen Zeiten oder Fanggewichte vorgeben würde!? Was passiert mit Menschen, denen du ein Mindestmaß, einen zu erreichenden Durchschnitt vorgibst? Der Durchschnitt muss mit den Jahren sinken. Besondere Ideen, Können oder Mut werden nicht mehr belohnt, weil sie keinen Sinn mehr machen. Jeder hätte zwar das trügerische Gefühl, auf der sicheren Seite zu sein und die Vorgabe, die ja für alle erreichbar sein müsste, wohl erfüllen zu können. Es gäbe keine neuen Rekorde mehr, keine neuen Erfindungen und keinen persönlichen Erfolg. Am Ende empfiehlt sich die Begeisterung. Die Menschen werden stumpf, traurig oder zynisch; jeder nach seinem Naturell. Minimalvorgaben und Durchschnittsvergleiche sind nicht sozial, sie sind abgrundtief asozial, weil sie den Menschen unbemerkt die Begeisterung rauben. Am Ende ist es auch asozial gegenüber ihren Kunden und Gästen: wenig Fische und langsame Pferderennen.“

Das Rezept brauchte also Begeisterung – egal in welcher Farbe, in welcher Verpackung oder mit welchem Markennamen – der Wirkstoff war Begeisterung! Hugo suchte unter all den emaillierten Gewürzdosen in der alten Küche seiner Großmutter nach der mit der Aufschrift „Begeisterung“ …

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