Mit Flowboard und Huddle

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Autor: Nicole Thurn

In Europa beginnen Spitäler und Pflegeeinrichtungen, nach der Methode des Lean Managements schlanker und effektiver zu werden. Das Uniklinikum Graz macht sich zum ersten Lean Hospital Österreichs.

Die österreichischen Spitäler sind am Limit. Und dies nicht nur wegen der Pandemie. Personalmangel, Überlastung, Mitarbeiterfluktuation. Schnelle Lösungen scheinen weit weg. Während andernorts nur über Ausbildung und Gehaltserhöhungen diskutiert wird, könnte Lean Hospital Management ein Lösungsansatz werden, die systemimmanenten Probleme der heimischen Gesundheitseinrichtungen anzupacken. Der aus der japanischen Autoindustrie stammende Ansatz des Lean Managements verschlankt Arbeits- und Organisationsprozesse und richtet sie am Kunden aus. Seit Toyota mit dem leanen Ansatz zum lange unangefochtenen Weltmarktführer in der automotiven Industrie aufgestiegen ist, haben Indus­triekonzerne aller Branchen Lean Management erfolgreich in ihre Organisationen übernommen.

Was im Fertigungssektor funktioniert, muss auch in anderen Bereichen wirken. Seit den 90ern sickert das Prinzip des Lean Managements in die Gesundheitsbranche ein – zuerst in den USA, in den vergangenen 15 Jahren nach Europa und in die DACH-Region. Der Optimierungsbedarf in den Krankenanstalten und Pflegeeinrichtungen ist groß: Überarbeitung, Bürokratie und ineffiziente Arbeitsschritte lassen den Einsatz an Personal und Kapital verpuffen. „Unsere Messungen in einem Schweizer Spital haben gezeigt: Der durchschnittliche Arzt ist nur zu rund 20 Prozent seiner Arbeitszeit am Patientenbett, die Pfleger sind es zu 30 Prozent“, sagt Alfred Angerer, Professor an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und Autor des soeben erschienenen Buches „New Healthcare Management – 7 Erfolgskonzepte für das Gesundheitswesen“ (siehe Interview). Lean Hospital Management räumt mit zeitraubenden Ineffizienzen und haarsträubender Ineffektivität auf. Richtig umgesetzt, verändert die Managementtheorie den klinischen Alltag.

Patient im Fokus

„Die meisten Stresssituationen im Gesundheitsbereich sind hausgemacht – mit unzähligen Ablenkungen während der Arbeit“, sagt auch Volker Kikel, der für das Bereichsmanagement an sechs Universitätskliniken des LKH Graz zuständig ist. Seit 2015 werden nach und nach Normalstationen in „leane“ Stationen transformiert. Nun soll das Uniklinikum Graz das erste Lean Hospital in Österreich werden. Begonnen hat der „Lean Ambassador“ mit dem Projekt Kinderambulanz am Kinderzentrum: Hier sollte mit einem Umbau eine gemeinsame Kinderambulanz nach Lean-Kriterien geschaffen werden. In einem Zelt vor dem Kinderzentrum wurde in Simulationen durchgespielt, wie die Räume am sinnvollsten und effizientesten gestaltet werden könnten, um den Mitarbeitern unnötige Arbeitsschritte und Wege zu ersparen. Zustande gekommen ist der Umbau bisher nicht. Aber nun soll ein Neubau die Lean-Philosophie von Grund auf verkörpern.

Inzwischen wurde eine weitere Station auf der Kinderchirurgie sowie eine Bettenstation an der Universitätsklinik für Innere Medizin auf lean umgestellt, demnächst sollen welche an der Universitätsklinik für Psychiatrie und im HNO-Bereich folgen. Laut Kikel dauert die leane Transformation im Schnitt sechs Monate. Die Expertise externer Berater will man nach und nach in rein interne Begleitung überführen. „Ab der vierten Station werden wir die Umsetzung ohne externe Hilfe begleiten“, so Kikels Plan.

Das Besondere an dem Ansatz ist die kompromisslose Ausrichtung aller Arbeitsschritte am Patienten: „Der Patient wird nach dem Flussprinzip von der Anmeldung bis zur Entlassung möglichst ohne Wartezeiten durchgeleitet“, so Kikel. Leider sei es in den derzeitigen Strukturen meist so: „Die Prozesse orientieren sich nicht am Patienten, sondern am historisch gewachsenen System oder an einzelnen Personen.“ Auch andere Einrichtungen wie das Lorenz-Böhler-Krankenhaus in Wien wollen Lean Hospital Management einführen.

Die Prinzipien des Lean Hospital MANAGEMENTS

  1. Die Qualität entsteht im Prozess (Jidoka): Alle Prozesse werden auf das Wohl des Patienten ausgerichtet. Im optimierten, abgestimmten Arbeitsfluss wird der Patient von der Aufnahme bis zur Entlassung ohne Wartezeiten durchgeschleust (Flusskonzept).
  2. Eliminierung von Verschwendung (Muda): Alle Verschwendungsarten werden aufgedeckt: Überproduktion und Überarbeitung, unnötige Transporte und Wartezeiten werden eliminiert. Auch die Missachtung des kreativen Potenzials der Mitarbeiter gilt als Verschwendung.
  3. Veränderung zum Besseren (Kaizen): Herzstück ist die tägliche Verbesserung von Arbeitsabläufen. Dazu gehört die Eigenverantwortung: Jeder und jede Einzelne ist in seinem/ihrem Bereich für Verbesserungen zuständig.
  4. Führung als Dienst am Mitarbeiter (Lean Leadership): Wertschätzende Führung, klare Aufgaben sowie Rollen- und Stärkenorientierung sind wesentliche Elemente. Führungskräfte agieren als Coaches, die ihre Mitarbeiter zur Problemlösung befähigen.
  5. Feedback und Selbstreflexion (Hansei): Offenes Feedback, ständige Selbstreflexion und eine offene Fehlerkultur ohne Schuldzuweisungen prägen den neuen Alltag. Feedback wird kontinuierlich von den Patienten eingeholt.
  6. Standardisierung der Routineabläufe: Für die einzelnen Arbeits- und Organisationsschritte werden auf Basis von Analysen konkrete Standards für Zeitpunkt und Zuständigkeit definiert, an die sich alle halten.
  7. Nivellierung: Belastungsspitzen werden durch den Workflow

Leanes Mindset

Beflügelt wird die Lean-Philosophie vom Geist der ständigen Innovation: „Das Ziel ist es, jeden Tag gemeinsam die Arbeit zu verbessern. Voraussetzung dafür ist, dass sich jeder im Team für seinen Aufgabenbereich verantwortlich fühlt“, führt Volker Kikel aus. Dazu werden ganz konkrete Standards zu Arbeitsabläufen geschaffen. „Die Arbeitsprozesse werden durchgetaktet: So gibt es für Visiten klare zeitliche Slots und eine eindeutige Aufgabenverteilung für alle Beteiligten.“ So werde das Pflegepersonal nicht mehr in seiner Arbeit unterbrochen. Auch Spitzenzeiten würden durch die Umorganisation im Patientenmanagement nivelliert, so Kikel: „Ambulanzen haben meist zwischen acht und zehn Uhr einen Peak, in dem sie von Patienten überrannt werden: Man benötigt mehr Ressourcen für Diagnostik, Transporte. Das lässt sich durch entsprechende Steuerung über den Tag verteilen.“

In den sogenannten Huddle- und Flow-Meetings verteilen die Mitarbeiter anstehende Aufgaben und tauschen den Status quo zu Patienten- und Mitarbeiterzufriedenheit aus. Offene Fragen werden binnen weniger Minuten mithilfe von Flow­boards geklärt: Das Board zeigt die gesamte Abteilungssituation, die personelle Besetzung und deren Auslastung, die Bettenbelegung und andere Standards. In den morgendlichen „Huddle“-Meetings – ein Huddle ist im American Football der Moment, in dem die Spieler die Köpfe zusammenstecken, um den nächsten Spielzug zu vereinbaren – reflektiert das gesamte Stationspersonal die Patienten- und Mitarbeiterzufriedenheit. „Mit steigender Routine werden Aufgaben sogar in weniger als einer Minute geklärt. Der große Vorteil ist: Durch diese strukturierte Meetingkultur können die Mitarbeiter in ihrer restlichen Arbeitszeit ungestört arbeiten“, so Kikel. Besonders viel positives Feedback erhält er, weil die Dienstübergabe am Bett beim Patienten erfolgt: „Die Pflegekräfte können so offene Fragen gemeinsam mit dem Patienten klären“, sagt er. Lean Hospital Management bedarf auch einer veränderten Führungskultur und eines eigenverantwortlichen, lösungsorientierten Mindset aller Mitarbeiter. Angedacht ist daher eine Lean Academy am Uniklinikum: „So wollen wir Führungskräften und Mitarbeitern die Lean-Philosophie näherbringen und sie vom Einsteiger bis zum Experten ausbilden“, sagt Volker Kikel.    //

„Durch mehr Effizienz werden die Mitarbeiter entlastet“

Herr Angerer, mit Lean Management aus der Autoindustrie sollen auch in Spitälern Prozesse effizienter und effektiver gestaltet werden. Inwiefern?
Alfred Angerer: Unsere Messungen in ei­nem Schweizer Spital haben gezeigt, wie wenig Zeit Arzt und Pfleger unmittelbar beim Patienten verbringen. Das ist der traurige Alltag in vielen Institutionen und erzeugt eine Lose-Lose-Lose-Situation für Patienten, Mitarbeiter und aus betriebswirtschaftlicher Sicht. Mit Lean schauen wir uns alle Arbeitsschritte dahingehend an, ob sie wertstiftend sind oder Verschwendung. Letzteres versucht Lean zu eliminieren.

Sie haben in Ihrer Forschung viele Best Practices recherchiert. Wie führt man Lean Management am besten ein?
Ziel unserer Forschung ist, zu verstehen, wie man das gesamte Krankenhaus optimieren kann. Die Frage ist, macht man eine radikale Big-Bang-Transformation mit einer Riege externer Berater, bei der kein Stein auf dem anderen bleibt oder rollt man Lean Schritt für Schritt aus. Den Big-Bang-Ansatz gibt es in der Praxis kaum.

Was sind die konkreten ersten Schritte, um ein Pilotprojekt umzusetzen?
Man startet ein Leuchtturmprojekt und unterweist dafür offene Führungskräfte in der Lean-Philosophie. Gemeinsam mit den Mitarbeitern analysiert und misst man die bestehenden Arbeitsschritte und -abläufe. Etwa zeigt sich, dass man X Zeit mit Dokumentation verbringt oder dass Ärzte täglich zehn Kilometer zurücklegen. Dann sammelt man viele kleine Verbesserungsideen und testet sie in Workshops und Simulationsräumen aus.

Wo sehen Sie hier die Hürden in der Umsetzung?
Der durchschnittliche Mitarbeiter im Gesundheitsbereich ist überlastet. Genau das ist die größte Hürde. Das nenne ich das Paradoxon des Ertrinkens, in dem keine Zeit bleibt, um Schwimmen zu lernen. Daher benötigt man als Erstes eine Führungskraft, die Zeit für den Start des Lean-Prozesses schafft – etwa, indem freitags nachmittags keine Patienten mehr einbestellt werden. Dann startet hoffentlich ein positiver Zyklus der Prozessoptimierung, in dem die Mitarbeiter sehen, dass man sich um ihre Überlastung kümmert.

Was sind nun die positiven Effekte von Lean Management?
Die Qualität für den Patienten rückt in den Fokus. Durch mehr Effizienz werden die Mitarbeiter entlastet und machen weniger Fehler. Viele Mitarbeiter berichten von einer ruhigeren, entspannteren Arbeitsatmosphäre. Und die Kosten werden gesenkt.

Zur Person: Alfred Angerer ist ein österreichischer Professor für Gesundheitsökonomie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.

Angerer ist Herausgeber des soeben erschienen Buches: „New Healthcare Management: 7 Erfolgskonzepte für das Gesundheitswesen (MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft/224 Seiten/
ISBN 39546665).

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