„Der Tod ist in einer Klinik ein ständiger Gast“

Lesedauer beträgt 11 Minuten
Autor: Josef Ruhaltinger

Der deutsche Psychiatrieprofessor Karl-Heinz Beine hat sich wie kein anderer mit Tötungen in Kliniken beschäftigt. Er erklärt, wie überlastete Systeme Heiler zu Mördern machen und wie das Krankenhausmanagement vorbeugen kann.

Herr Professor Beine, Sie sind Autor des Buches „Tatort Krankenhaus“ und Ihre Habilitation führte den Titel „Krankentötungen in Kliniken und Heimen“. Warum haben Sie sich als klinischer Psychiater auf dieses sehr spezielle Thema konzentriert?
Karl H. Beine:
Der Ursprung liegt in einer persönlichen Erfahrung, die ich leider machen musste. Ein Pfleger hat in dem Krankenhaus, in dem ich mal gearbeitet habe, Patienten getötet. Und einige Patienten kannte ich. Dies war für mich eine derartig unfassliche und abgründige Erfahrung, dass ich ab diesem Zeitraum in dieses Thema hineingewachsen bin. Es ist beiläufig zu einem Lebensthema geworden. Damit wir uns richtig verstehen: Es ist nie so gewesen, dass ich mich hauptberuflich mit Krankentötungen beschäftigt habe. Das wäre unaushaltbar. Aber es ist so, dass es immer und immer wieder neue Tötungsserien gab, die mich nicht losgelassen haben.

Abgesehen von der emotionalen Betroffenheit, die eine derartige persönliche Erfahrung mit sich bringt: Welchen wissenschaftlichen Fragen sind Sie bei Ihren Arbeiten nachgegangen?
Die eigentliche Kernfrage war und ist: Wie lässt sich ein solches abgründige und unfassliches Geschehen verhindern? Was kann man tun, um das Risiko von solchen Übergriffen so gering zu gestalten wie irgend möglich? Daneben gibt es Fragen nach dem Täterprofil. Was sind arbeitsplatzbezogene Risikofaktoren, die zu solchen Tötungen führen? Was sind Umstände, die die Opferzahlen erhöhen und die Tatzeiträume verlängern? Mit anderen Worten: Es geht um ein Mehr an Aufklärung und Wissen über dieses Thema. Wenn solche Tötungsserien bekannt werden, laufen immer die gleichen Schemata ab: Die öffentliche Empörung ist groß und die Repräsentanten des Systems treten in Kombination mit den politischen Spitzen vor die Presse und sagen, was sie immer sagen: Es handle sich um Einzelfälle. Vor kriminellen Einzeltätern könne man sich nicht schützen. Und das ist ein weiteres Ziel meiner Arbeit: Ich plädiere für qualifizierte Dunkelfeldstudien, bevor wir solche steilen Thesen in die Welt setzen, die wir nicht beweisen können. Es wird der Versuch unternommen, Menschen in einer Sicherheit zu wiegen, die keine Sub­stanz hat, ohne dass wir gewissenhaft wissenschaftlich geforscht haben.

Zur Person: Professor em. Dr. med. Karl H. Beine, geboren 1951, war bis 2020 Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke und Chefarzt am St. Marien-Hospital Hamm. Er forscht seit vielen Jahren zu Tötungsserien in Kliniken und Heimen. Für seine prämierte Arbeit „Praxis der Sterbehilfe durch Ärzte und Pflegekräfte in deutschen Krankenhäusern“ hat Beine zwischen September und Dezember 2018 online 2683 Pfleger sowie 2507 Ärzte anonym befragt, ob und in welcher Form sie in den vergangenen 24 Monaten Sterbehilfe geleistet hätten. Die Studie wurde mehrfach ausgezeichnet.

In den 80er-Jahren erschütterte der Fall rund um vier Krankenschwestern in Lainz die Republik Österreich. Sie wurden 1991 für insgesamt 20 Morde und 28 Mordversuche verurteilt. Seither sind keine weiteren Serientötungen in Österreichs Kliniken bekannt geworden. In Deutschland sind im gleichen Zeitraum mehrere derartige Vorfälle vor Gericht gekommen. Meine Frage ist einfach: Gibt es in Österreich keine derartigen Taten oder fällt es uns nur nicht auf?
Herr Ruhaltinger, das ist eine unbeantwortbare Frage. In Österreich ist der Fall Lainz gerichtsbekannt geworden. Und danach ist nach Kriterien von Serientötung kein weiterer Fall aufgetreten. Darunter verstehe ich einen Täter, mehr als zwei Opfer und unterschiedliche Tatzeitpunkte. Und ich habe mich ausschließlich auf gerichtsbekannt gewordene Vorfälle fokussiert und kann diese Frage nicht beantworten. Und würde mich auch ungerne an Spekulationen beteiligen. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass es auch in Kliniken in Österreich ein Dunkelfeld gibt, diese Wahrscheinlichkeit ist groß.

Was ist damit gemeint?
Für ein größeres Dunkelfeld in Kliniken spricht, dass kaum an einem anderen Ort Menschen mit mehr Vertrauen, Arglosigkeit und Hilfsbedürfnis eine Lokalität betreten wie in Krankenhäusern. Ärzte, Krankenpfleger, Krankenschwestern und Ärztinnen sind Berufsgruppen, die im Berufsprestige ganz oben angesiedelt sind und von denen man derartige Verbrechen am allerwenigsten erwartet. Außerdem ist das Sterben und der Tod in einer Klinik ein ständiger Gast. Die „Tötungsmittel“ sind leicht verfügbar, weil Ärzte und Schwestern direkten Zugang haben, sowohl zu Patienten als auch zu Medikamenten. Und last not least ist es so, dass Krankenhäuser Orte sind, an denen ein Leichnam kein Aufsehen erregt. Und insofern gibt es erhebliche Unterschiede zwischen „normalen“ Tatorten, an denen Leichen, tote Menschen, entdeckt werden, und Krankenhäusern. Das sind Indizien dafür, dass die Dunkelziffer dort vermutlich höher ist.

Sie haben 2018 eine sehr große Studie aufgesetzt, in der Sie rund 5000 Pfleger und Ärzte zum Thema Sterbehilfe befragten. Verliert der Tod in Gesundheitsberufen das Tabuhafte?
Der Tod im Krankenhaus ist für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein häufiges Phänomen. Und wie jeder Beruf die Menschen verändert, so verändert natürlich auch die berufliche Erfahrung die Krankenschwester, Pfleger, Arzt, Ärztin, alle, die diesen Beruf ergreifen. Und um der eigenen psychischen und physischen Stabilität Willen muss sich das Verhältnis zur Endlichkeit zwangsläufig verändern. Ich hoffe darauf, dass sich die Haltung in dem Sinne verändert, dass die Ohnmacht im Angesicht von bestimmten Leidenszuständen nicht unerträglich wird. Ja, das Berufsfeld verändert Menschen, und ja, die gesunde Veränderung besteht darin, dass ich in der Lage bin, die Grenzen professionellen Handelns gut zu differenzieren von dem, was an mich an Belastendem von außen herangetragen wird.

Der Untertitel Ihres Buches lautet: „Ein kaputtes System macht es den Tätern leicht“. Wo muss sich das „System Krankenhaus“ verbessern?
Die Mitarbeitenden in den Kliniken haben keine Zeit für Gespräche, keine Zeit für gewissenhafte Beobachtung und keine Zeit für kollegialen Austausch. Dies sind Umstände – und dies ist meiner Auffassung nach gut belegt –, die die Opferzahl erhöhen und die Tatzeiträume verlängern. Also in dem Augenblick, wo Pfleger und Pflegerinnen, Ärztinnen und Ärzte ihre Arbeit am Limit verrichten und sich einen Tunnelblick zulegen müssen, um mit der Arbeit zurecht zu kommen, in dem Augenblick läuft das System Gefahr, dass es in seiner Obsorge für Mitarbeiter und Patienten versagt. Es ist eher die Regel als die Ausnahme, dass derjenige, der Beobachtungen mitteilt, ein Problem bekommt. Oder die Mitteilung versickert. Die Meldeketten verhindern Ergebnisse.

Die Tötungen sind ein Ergebnis des überlasteten Systems?
Wir dürfen uns nicht missverstehen: Niemand muss zu einem Täter werden, weil die Arbeitsbedingungen schlecht sind. Aber wenn jemand entgleitet, dann ist das Risiko in einem am Limit laufenden System hoch, dass er länger unentdeckt bleibt. Die Arbeitsbelastung ist dafür ein entscheidender Faktor. Wichtig ist auch die Achtsamkeit, die Menschen im Krankenhaus entfalten. Es braucht eine couragierte Krankenhausleitung, die eine Atmosphäre abbildet, in der offen mit Fehlern und Unzulänglichkeiten umgegangen wird. Sonst sind Vertuschungen die unabwendbare Folge.

Macht es Sinn für das Krankenhaus­management, ein Meldesystem oder Frühwarnsystem zu installieren?
Meldesystem ist so ein administrativ-technokratischer Begriff. Ich bin nicht sicher, ob er greift. Am Ende wird es darauf hinauslaufen, dass Menschen Beobachtungen machen und diese Beobachtungen kommunizieren. Wie diese Kommunikation dann aufgenommen wird, das kriegen Sie mit einem sogenannten Meldesystem nicht geregelt. In aller Regel ist es so, dass diejenigen, die die Fehlermeldung in CIRS (Critical Incident Reporting System, Red) hausintern auswerten, die gleichen Verantwortlichen sind, die für die Fehlentwicklungen einstehen müssen oder sollten. Entsprechend gering ist die Akzeptanz bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Ich stoße bei meinen Befragungen meist auf die Haltung: Ob ich in das Meldesystem etwas reinschreibe oder ob in China eine Currywurst platzt, das ist so ziemlich das Gleiche.

Was kann ein Krankenhausmanagement trotzdem unternehmen, um diesen Vorfällen vorzubeugen?
Ohne Zivilcourage der Kolleginnen und Kollegen geht es nicht. Ganz entscheidend ist aber die Atmosphäre, wie offen in einem Haus mit Fehlern umgegangen wird. Die Zivilcourage des Mitarbeiters und die Zivilcourage der Führung müssen zusammenpassen. Wenn Sie ein Management haben, das den öffentlichen Renommee-Schaden höher bewertet als die Patientensicherheit und die Aufklärung von fraglichen Umständen, wird es verzögerte oder gar keine Aufklärung geben. Aber wenn die Vorstände hellhörig bleiben, gibt es gute Chancen, auffällige Todesfälle frühzeitig zu entdecken, vielleicht sogar schon in statu nascendi. Das Wichtigste ist, dass Mitarbeiter und Klinikleitungen es nach den zahlreichen Tötungsvorfällen in Krankenanstalten endlich für möglich halten, dass so etwas überhaupt passieren kann.

Sie schreiben in Ihrem Buch über den umfangsreichsten deutschen Tötungsfall. Dem Krankenpfleger Niels H. wurden 87 Morde nachgewiesen. Obwohl schon verdächtigt, konnte der Pfleger mit einem guten Zeugnis von einem Krankenhaus in Oldenburg in ein anderes wechseln – wo er weiter getötet hat. Dies erinnert an die Taktik der katholischen Kirche, missbrauchsverdächtige Priester in eine andere Pfarre zu versetzen. Sind sich die Systeme ähnlich?
Man kann Lehren daraus ziehen. Wenn ein solcher Verdacht wie der in Oldenburg entsteht, die Fakten aber im Unklaren bleiben, dann sollte man trotzdem eins nicht tun: dem Verdächtigen ein gutes Zeugnis schreiben. Niels H. hat sofort einen Job bekommen und 57 weitere Menschen getötet. Nachweislich. Das, was man aber tun sollte, ist, denjenigen die Ermittlungen zu überlassen, die professionelle Ermittler sind. Polizisten und Staatsanwälte. Das sind diejenigen, die dafür ausgebildet sind. Das Krankenhausmanagement sollte sich im Rahmen der Unschuldsvermutung vor den Mitarbeiter stellen, aber den Ermittlungen ihren Lauf lassen. Arbeitsrechtliche Konsequenzen kann es später geben.

Wie sieht Ihr Idealfall für den Umgang mit einem Verdachtsfall aus?
Lassen Sie mich erzählen. In Essen, hier in Nordrhein-Westfalen, ist vor Kurzem ein Arzt wegen der Tötung eines Patienten mit Kaliumchlorid verurteilt worden. Der wurde bei dieser Injektion von einem Pfleger beobachtet. Dies geschah an einem Freitag. Dieser Pfleger ist in den Feierabend gegangen und hatte ein schlechtes Wochenende. Anfang der nächsten Woche ging er zu seiner Pflegedienstleitung und die ist zu ihrer Leitung gegangen. Und dann gab es eine Konferenz. In dieser Konferenz wurde entschieden, dass die Ermittlungsbehörden eingeschaltet werden müssen. Der Arzt ist jetzt retrospektiv wegen weiterer Fälle angeklagt, das Urteil ist auch noch nicht rechtskräftig. Das ist für mich das Gegenbeispiel zu Oldenburg.

Sie haben sich in Ihren Arbeiten immer mit Klinik-Organisation und -Management beschäftigt. Die Idee, Tötungen auf der eigenen Station für möglich zu halten, provoziert das Gegenargument des Generalverdachts. Wo ziehen Sie für die Belegschaft die Grenze zwischen Vertrauen und Misstrauen?
Das Krankenhausmanagement muss glaubhaft und präsent sein. Ich rede nicht über Hochglanz-Broschüren und über schick gestaltete Internetauftritte. Ich rede über den gelebten Arbeitsalltag vor Ort. Das Management muss mit den Leuten in Kontakt sein. Und es muss dafür stehen, dass nicht der Erlös und die Bettenauslastung Priorität Nummer 1 haben, sondern die Patientensicherheit und die Qualität. Das geht nur mit einer guten Personalausstattung – quantitativ und qualitativ. Und sie muss klar dafürstehen, dass sie jedem Mitarbeiter lautere Absichten unterstellt. In dem Augenblick, wo Fehlverhalten vermutet wird, muss es Rückmeldungen an die betroffene Person geben. Das Wissen um die Aufmerksamkeit wird neue Taten erschweren. Und wenn sich die Anschuldigungen nicht erhärten, ist nichts oder wenig passiert. Das Krankenhausmanagement und die Belegschaft müssen die Balance finden zwischen unkritischem und blindem kollegialen Vertrauen und einem überzogenen Kontrollwahn, der glaubt, dass bürokratische Veränderungen eine tatsächliche Minimierung solcher Risiken bewirken.

Wie soll sich ein Kollege verhalten, der eine verdächtige Beobachtung macht?
Ich kann als Arzt nicht arbeiten, ohne meinen Kollegen zu vertrauen. Aber es ist auch Bestandteil guter Kollegialität, dass ich jemanden beiseite nehme und sage: „Das ist mir aufgefallen. Wie kann ich mir dein Verhalten erklären?“ Die Täter hier in Deutschland und auch Waltraud W. und Irene L. in Lainz sind während des gesamten Tatzeitraumes, der sich in Wien über sechs Jahre erstreckte, nicht ein einziges Mal angesprochen worden: Eine Frage wie „Was macht ihr denn da?“ hätte vielleicht viel verhindert.

Und wenn der Kollege mit der Erklärung seiner Beobachtung nicht zufrieden ist?
Dann kann ich immer noch erklären, dass ich das für nicht mehr verantwortbar halte und ich mich an die Vorgesetzten wende. Auf alle Fälle sollten sich Klinikmanager nicht so verhalten wie die Pflegedirektorin einer berühmten Berliner Klinik, die vor Gericht ausgesagt hat, sie konnte eine Meldung wegen Arbeitsüberlastung nicht bearbeiten. Das war in tiefem Sinne tödlich.    //

Karl H. Beine: Tatort Krankenhaus
– Ein kaputtes System
macht es den Tätern leicht;
Droemer-Knaur, 2017

Die „Todesengel“  von Lainz

Am 29. März 1991 wurden nach insgesamt 17 Verhandlungstagen die Urteile im Prozess gegen vier Stationsgehilfinnen gesprochen. Der Fall der „Todesengel von Lainz“ ging weltweit durch die Boulevardblätter. Die vier Angeklagten wurden für insgesamt 20 Morde und 28 Mordversuche zu langjährigen Haftstrafen rechtskräftig verurteilt. Heute haben sie ihre Freiheitsstrafen verbüßt. Nach Aussage einer der Täterinnen begann die Mordserie 1983. Erst fünf Jahre danach wurde eine Hilfsschwester erstmals verdächtigt, einem Patienten den als Schlafmittel eingesetzten Wirkstoff Flunitrazepam (Handelsname: Rohypnol) verabreicht zu haben. Der Verdacht drang bis zum Oberarzt vor, der Anzeige erstattete. Polizeiliche Ermittlungen verliefen jedoch zunächst ergebnislos. Als 1989 ein Patient plötzlich an einer Unterzuckerung litt, obwohl er nicht zuckerkrank war, erstattete der Oberarzt neuerlich Anzeige. Zunächst wurden die vier Stationsgehilfinnen nur beurlaubt, nach einer Untersuchung im Krankenhaus am 7. April 1989 verhaftet. Nach anderer Lesart führte ein zufällig mitgehörtes Gespräch im Schwesternzimmer zur Verhaftung der vier Täterinnen. Ein schon damals fahrlässiges Detail: Eigentlich durften die Stationsgehilfinnen keine Spritzen verabreichen, doch die überlasteten Ärzte im Nachtdienst zeigten den jungen Hilfsschwestern, wie sie die Spritzen zu setzen hatten. Die vier Verurteilten verfügten nur über einen absolvierten Kurs zur Stationsgehilfin, tlw. wurde die Diplomausbildung begonnen und nach kurzer Zeit abgebrochen.

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