Training am 3D-Modell

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Autor: Alexandra Keller

Ein originalgetreues Abbild des menschlichen Brustkorbs dient Operateuren als Übungsobjekt. Aus den Daten eines Röntgenbildes wird eine exakte Kopie des Thorax im 3D-Druck gezaubert.

Die Idee des Thorax-Modells wurde geboren, als ich bei einer Patientin mit einem OP-Roboter einen Tumor aus der Aorta operieren wollte – direkt über dem Zwerchfell. Ich musste überlegen, an welchen Stellen ich die OP-Instrumente in den Brustkorb einbringe, um den Tumor zu entfernen“, erzählt Thorsten Walles. Walles ist Leiter der Thoraxchirurgie der Universitätsmedizin Magdeburg (Otto-von-Guericke-Universität). Er lieferte den zündenden Funken für ein spannendes Projekt, mit dem sich Chirurgen künftig auf schwierige Operationen vorbereiten.

Auf den Spuren des menschlichen Körpers

Schon aus dem 3. Jahrhundert vor Christus sind Sektionen des menschlichen Körpers belegt. Trotzdem bestimmten über ein Jahrtausend hinweg die Erkenntnisse des Claudius Galen das Wissen um den menschlichen Körper. Er hatte seine Erfahrungen aus Tiersektionen auf den Menschen übertragen und etablierte eine unanfechtbare Dogmatik der Heilkunde. Bis ins Mittelalter galt die Sektion menschlicher Körper als verpönt und sündhaft. Für seine anatomischen Studien stahl Leonardo da Vinci bei Nacht und Nebel Leichen auf Friedhöfen und erst nachdem der Chirurg Andreas Vesalius im Jahr 1542 mit seinem Werk „Vom Bau des menschlichen Körpers“ die wissenschaftliche Anatomie begründete, war wissenschaftliche Neugier wieder erlaubt. Im 17. Jahrhundert strömten die Menschen in Scharen zu Autopsien in anatomische Theater oder betrachteten mit fast voyeuristischem Schauer Kunstwerke wie Rembrandts „Anatomie des Dr. Tulp“. Diese Begeisterung wurde im 20. Jahrhundert mit der Ausstellung „Körperwelten“ wieder geweckt. Die anatomische Wissenschaft ging einstweilen einen anderen Weg: Sie hatte sich längst auf den mikroskopischen Bereich konzentriert. Während die großen medizinischen Herausforderungen im Entschlüsseln der biochemischen Prozesse und Zusammenhänge stecken, wurde die Anatomie zunehmend zu einem Stiefkind der Wissenschaft. Man glaubte, schon alles zu wissen. Zu Unrecht, wie es scheint.

Minimalinvasive Lungenoperationen gelten unter Chirurgen als knifflig. Die natürlichen „Schutzwälle“ des Körpers müssen überwunden werden, ohne viel zu zerstören. Der Brustkorb bewahrt mit seinem Knochengerüst aus Rippen, Brustbein und Wirbelsäule die hochempfindlichen inneren Organe vor Verletzungen. Bei einer Thorax-Operation wird die Bedeckung des Brustkorbs durchdrungen. Bei der minimalinvasiven Methode, die zunehmend die „offenen“ Operationen verdrängt, werden die Instrumente durch ein bis drei kleine Schnitte in den Brustkorb eingebracht. Die psychomotorischen Fähigkeiten, die Operateure dabei beherrschen müssen, sind enorm.

Komplexe Eingriffe verlangen nach speziellen Methoden

Die minimalinvasive Brustkorbchirurgie ist mittlerweile ein Behandlungsstandard. Gegenwärtig werden mehr als die Hälfte aller Operationen am Brustkorb minimalinvasiv durchgeführt. „Selbst bei großen Tumorresektionen wird mittlerweile jede dritte Operation minimalinvasiv durchgeführt“, so Walles. Die roboterassistierte Thoraxchirurgie ist ein weiterer Ansatz, minimalinvasive Brustkorboperationen präzise umzusetzen. Alle Methoden, mit denen eine „offene Operation“ umgangen werden können, benötigen von den Operateuren perfekte Fertigkeiten. Diese werden außerhalb des OP-Saals erlernt.
Minimalinvasive Operationen an der Lunge oder im vorderen Mediastinum sind gut standardisiert. „Das gilt auch für die roboterassistierte Chirurgie. Jedoch kommt es vor, dass Tumore operiert werden müssen, die nicht an den ‚typischen‘ Stellen liegen“, beschreibt Walles die schwierigen Herausforderungen. Um diese Tumore mit einer minimalinvasiven Operation zu erreichen, müssen die Chirurgen von den bewährten Standards abweichen und sich neue Zugangs- und Operationsstrategien überlegen. Bislang setzten die Thoraxchirurgen dafür Modelle der Bauchchirurgie ein, die der komplizierten Situation im Brustkorb jedoch nicht gerecht werden.

Mastermind des digitalen Drucks.

Thorax-Spezialist Thorsten Walles ärgerte sich, für eine komplexe OP kein geeignetes Versuchsmodell zu haben. Mit 3D-Druckern können auf Grundlage von Röntgenbildern Modelle des Brustkorbs hergestellt werden – theoretisch auch individualisiert.

„Als Arzt und Chirurg haben Sie ein 3D-Modell im Kopf, wie ein menschlicher Brustkorb aufgebaut ist. Ingenieure können ein solches Modell herstellen, wissen aber nicht, wie es aussehen muss“, beschreibt Walles einen ersten Knackpunkt bei der Entwicklung des Thorax-Modells. Die Röntgen-Bildgebung, die Grundlage für die Herstellung des Modells ist, zeigt Querschnitte durch den Brustkorb, die für Laien nach einer kompakten Masse aussehen. Walles: „Der Arzt weiß, wo zwischen anatomischen Strukturen natürliche Grenzflächen bestehen, die trotz modernster Röntgentechnik nicht sichtbar sind. Die Herausforderung des Konzeptionierungs-Prozesses war deshalb, die nicht sichtbaren anatomischen Grenzen der Organe und Gewebe zu definieren, zu erklären und in das Modell einzuarbeiten.“

Zusammen mit Ingenieuren des Instituts für Fertigungstechnik und Qualitätssicherung der Universität Magdeburg tüftelte Walles an einer Lösung, die ein exaktes Thorax-Modell in Lebensgröße abbilden kann. Die Grundlage dafür lieferten anonymisierte Patientendaten aus Bildgebungen und Computertomografen der Uniklinik. Die Forschungsarbeit bestand zu einem Großteil darin, die Parameter einzulesen, zu verarbeiten und so aufzubereiten, dass ein handelsüblicher 3D-Drucker damit gefüttert werden kann. Der Printer macht sich dann an die Arbeit: Er druckt Schicht auf Schicht aus widerstandsfähigem Kunststoff (PETG), bis das rund 50 mal 40 Zentimeter große Brustkorbmodell fertig ist. Das Modell wird mit gedruckten Abbildungen von Organen ergänzt und mit einer stabilen Außenhülle „ummantelt“, die Muskeln und Weichteile exakt „kopiert“. Anfang 2022 wurde der Trainingsthorax offiziell präsentiert.

Mehrere Zielgruppen

Je nach geplantem Einsatzgebiet sind Modifikationen oder Erweiterungen des Modells notwendig. So stellt ein Ausbilder von Ärzten und OP-Personal andere Anforderungen an einen OP-Trainer als ein Hersteller von Knochenimplantaten. „Die Anregungen der Fachwelt werden in den Weiterentwicklungen des Modells berücksichtigt“, macht Walles auf die Potenziale aufmerksam. Ingenieure und Mediziner des Spin-Offs entwickeln Grundlagen, um auf unterschiedliche Anforderungen reagieren zu können. Ein kleinerer weiblicher und ein kindlicher Brustkorb stehen auf dem Plan. Sie sollen Editha und Liudolf heißen und gemeinsam mit dem Prototypen „Otto“ quasi die Trainingsthorax-Familie bilden, für die entsprechende Produktionskapazitäten aufgebaut werden. Der Produktionsstart des serienreifen Magdeburger Thorax-Modells ist für Herbst 2022 geplant. „Dies ist eine spannende Zeit für uns“, meint Walles. Niemand darf glauben, über den menschlichen Körper schon alles zu wissen.    //

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