Im Niemandsland zwischen Körper und Verband

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Autor: Norbert Peter

Eine Schweizer Entwicklung verspricht Fortschritte in der Wundbehandlung: Der neuartige Verband aus Polymerfaser setzt selbstständig keimtötende Mittel frei, sobald sich eine Wunde entzündet hat.

Das klügere Pflaster gibt nach“, heißt es auf der Webseite der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa). Das zum Bereich der ETH gehörende Forschungsinstitut arbeitet unter anderem mit Polymerfasern, die ein keimtötendes Mittel freisetzen. Die Fasern werden auf nahezu wunderbare Weise weich, wenn eine Entzündung der Wunde für Erwärmung sorgt.

„Diese Methode ist besonders für chronische Wunden geeignet, in denen Bakterien eine Infektion und damit eine Erhöhung der Temperatur in der Wunde verursachen“, erklärt Katharina Maniura, Head of the Laboratory Biointerfaces bei der Empa in St. Gallen. Die Innovation nutzt die Schnittstelle von synthetischem Material und biologischen Systemen: „Die Inspiration kam durch Veränderungen, die in Wunden bekannt sind – kombiniert mit Kenntnissen zu responsiven Polymeren“, führt die Biologin aus. Das Problem: Der Heilungsprozess unter dem Pflaster ist von außen nicht zu beurteilen. Verheilt die Wunde problemlos? Sind Keime in die Wunde eingedrungen und haben eine Entzündung verursacht? Aktuell wird unter dem Verband mit Antibiotika und Salben vorbeugend desinfiziert, auch wenn dies nicht immer nötig ist. Das Ergebnis bedeutet Verschwendung der Medikamente mit dem für Hygieniker wichtigen Effekt, dass der Ausbreitung multiresistenter Keime Vorschub geleistet wird.

Präzise Behandlung

Hier setzt die Forschung bei der Empa an: In den Laboren „Biointerfaces“ und „Biomimetic Membranes and Textiles“ wird der Verband entwickelt, der nur dann Antibiotika abgibt, wenn dies tatsächlich erforderlich ist.
Die Grundidee des interdisziplinären Teams um Qun Ren und Fei Pan war, den Verband mit Medikamenten aufzuladen. Gleichzeitig sollte die Wundversorgung imstande sein, auf Umweltreize zu reagieren. „Auf diese Weise könnten Wunden präzise und im richtigen Moment behandelt werden“, erläutert Fei Pan. Als Umweltreiz diente dem Team der durch eine Entzündung verursachte Anstieg der Temperatur. Eine Hautwunde kann sich durch eine Infektion um bis zu fünf Grad erwärmen. Entsprechend waren Materialien gefragt, die in diesem Temperaturbereich ihre Konsistenz ändern und dadurch wirksame Substanzen abgeben können.

Das Ergebnis der Forschungen war ein hautverträglicher Polymer-Verbundstoff aus mehreren Komponenten. Dazu gehört Acrylglas (PMMA), das auch schon für Brillengläser und in der Textilindustrie verwendet wird, und Eudragit, ein bioverträgliches Polymergemisch, mit dem beispielsweise Tabletten überzogen werden. „Mittels Elektrospinnen ließ sich das Kunststoffgemisch zu einer feinen Membran aus Nanofasern verarbeiten“, heißt es in einer Aussendung der Empa. Als medizinisch wirksame Komponente konnte schließlich Octenidin in die Nanofasern eingekapselt werden. Octenidin dient als Desinfektionsmittel, das raschen Erfolg gegen Bakterien, Pilze und manche Viren verspricht. Zum medizinischen Einsatz kommt es auf der Haut, auf Schleimhäuten und zur Desinfektion von Wunden.

Die richtige Mischung

„Damit die Membran als smarter Verband wirkt und das Desinfektionsmittel auch tatsächlich freisetzt, wenn sich die Wunde aufgrund einer Infektion erwärmt, haben wir das Polymergemisch aus PMMA und Eudragit so zusammengestellt, dass wir die Glasübergangstemperatur passend einstellen konnten“, erklärt der Wissenschaftler Fei Pan. Wenn der Wärmegrad erreicht wird, an dem der Aggregatzustand des Kunststoffs sich von einer festen Konsistenz in einen gummi-artigen Zustand wandelt, tritt der gewünschte Effekt ein: Bei einer Entzündung erwärmt sich die Haut über ihre normale Temperatur hinaus. In Laborexperimenten konnte das Team der Empa beobachten, wie das Desinfektionsmittel bei 37 Grad aus dem Polymer freigesetzt wurde, nicht jedoch bei der Normaltemperatur der Haut. Obendrein zeigte sich, dass der Prozess reversibel ist und bis zu fünfmal wiederholt werden kann. Bei Abkühlung der lokalen Wundumgebung wird der Vorgang des Freisetzens beendet, startet aber bei Wiederanstieg der Temperatur neuerlich. Nun steckt man sich höhere Ziele: Die Temperaturunterschiede, bei denen der „smarte Verband“ aktiv wird, sollen verringert werden.

Die Forschung im Niemandsland

Weitere Laborexperimente mit Nanofaser-Membranen brachten weitere Ergebnisse. Teamleiterin Qun Ren befasst sich seit Langem mit Keimen, die sich in den Grenzschichten zwischen Oberflächen und der Umwelt einnisten, wie zum Beispiel auf einer Hautwunde: „In diesem biologischen Setting, einer Art Niemandsland zwischen Körper und Verbandsmaterial, finden Bakterien eine perfekte biologische Nische“, erklärt die Biotechnologin. Staphylokokken oder Pseudomonas-Bakterien können schwere Wundheilungsstörungen verursachen. Der smarte Polymer-Verband zeigte auch hier seine Wirkung: Wenn der Verband Octenidin freisetzte, verringerte sich die Zahl der Bakterien um den Faktor 1.000. „Mit Octenidin ist uns ein ‚Proof of Principle‘ für die kontrollierte Medikamentenfreisetzung durch einen externen Reiz gelungen“, unterstreicht Empa-Forscherin Qun Ren. Künftig lasse sich die Technologie auch für andere Arten von Medikamenten einsetzen. Dadurch könnte die Effizienz und Genauigkeit bei deren Dosierung gesteigert werden.

Sensible Wundversorgung.
Die Empa-Forscherin Qun Ren entwickelt mit ihrem Team ein Pflaster, das bei einer Hauttemperatur von 37 Grad Desinfektionsmittel freisetzt. Der Wundverband behandelt selbsttätig Entzündungen.

Die Umsetzung dieser Fortschritte im medizinischen Alltag lässt allerdings noch etwas auf sich warten. An den Forschenden liegt es nicht. „Wir suchen mögliche Partner und Interessenten. Aber es wird wohl einige Jahre dauern, um die entscheidenden Schritte Richtung Anwendung zu machen“, beschreibt Katharina Maniura die Situation.

Andere Forschungswege

Das smarte Octenidin-Pflaster ist nur ein Weg, den Empa-Forschende zur Verbesserung der Wundbehandlung untersuchen. In einem weiteren Projekt werden flüssige Sensoren entwickelt, durch die sich der Verband verfärbt, wenn eine Wunde schlecht verheilt. Kritische Glukose- und pH-Werte dienen als Biomarker. Mit UV-Lampe könnte der pH-Wert in der Wunde überprüft werden, ohne das Pflaster zu entfernen.

Damit bakterielle Infektionen direkt an der Wunde bekämpft werden können, arbeitet man bei der Empa auch an einem Polymerschaum, der mit entzündungshemmenden Substanzen beladen ist. Auch eine hautfreundliche Cellulose-Membran wird entwickelt: Sie ist mit antimikrobiellen Eiweißbausteinen ausgestattet und zeigt sich in Labortests sehr effizient. In Zellkulturexperimenten hat das Team rund um Katharina Maniura nachgewiesen, dass die Peptid-haltigen Membranen für menschliche Hautzellen gut verträglich sind, für Bakterien in schlecht heilenden Wunden jedoch das Ende bedeuten.
Und auch die Digitalisierung zeigt Wirkung in Sachen Effizienz: Empa-Forschende entwickeln digitale Zwillinge der Haut, die die Steuerung und Vorhersage des Therapieverlaufs mittels Modellierung in Echtzeit erlauben.    //

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