Telemedizin ist die Zukunft der ambulanten Erstversorgung

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Autor: Josef Ruhaltinger

Bernhard Wurzer, Generaldirektor der Österreichischen Gesundheitskasse, erklärt, warum telemedizinische Erstversorgung in Österreichs Randregionen zum Standard werden wird und was bei den ersten Primärversorgungs-Netzwerken schiefgelaufen ist.

Herr Wurzer, wir haben in Österreich nach Griechenland die höchste Ärztedichte pro 100.000 Einwohner Europas. Und dennoch betragen in Wien die Wartezeiten bei bestimmten niedergelassenen Fächern zwei Monate und mehr. In einigen ländlichen Regionen ist es noch schlimmer. Was stimmt nicht im System?
Bernhard Wurzer: Ich bleibe dabei: Wir haben eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. Aber wir haben auch Verbesserungsbedarf. Dafür gibt es nicht eine Lösung, sondern ein Bündel an Lösungen. Es ist richtig: Wir sind ein Land, in dem es im Vergleich zur Bevölkerung sehr, sehr viele Ärzte gibt. Es gibt dabei aber ein Problem der regionalen Verteilung und des Generationswechsels. Die Pensionierungswelle der Babyboomer-Generation wird bis circa 2024/25 andauern. Dann ist der personelle Umbruch verdaut. Wir merken aber, dass viele Medizinerinnen und Mediziner keine Eile haben, eine Kassenstelle anzunehmen. Etliche Ärztinnen und Ärzte warten auf jene Stelle, die ihnen am meisten zusagt.

Ich hake nach: Haben wir zu wenig Ärzte?
97 Prozent aller Kassenstellen in Österreich sind besetzt. Wir haben punktuell bei manchen Stellen Besetzungsprobleme, weil nicht mehr jeder Interessent eine Landarztpraxis akzeptiert. Wir haben aber auch Stellen, wo wir immer noch 30, 40 Bewerber und Bewerberinnen haben.

Wie wollen Sie die Attraktivität der weniger begehrten Stellen steigern?
Es ist nicht das Honorar, das die Ärztinnen und Ärzte lockt. Es sind manchmal die kassenumsatzstärksten Stellen, die wir nicht besetzen können. In Tirol mussten wir eine der einkommensträchtigsten Ordinationen des Landes mit Hausapotheke eineinhalb Jahre lang ausschreiben, bis wir die Nachfolge regeln konnten. Die Gemeinde war zu abgelegen. Es braucht kooperative Versorgungsformen.

Sind Gemeinschaftspraxen der Ausweg aus allen Nöten?
Junge Ärztinnen und Ärzte zeigen zunehmend wenig Interesse, allein in einer Ordination zu stehen. Sie sind aus dem Krankenhaus gewohnt, im Team zu arbeiten und sich auszutauschen. Dazu kommt der unbedingte Wunsch nach verlässlichen Arbeitszeiten. Auch Kooperationen mit Spitalsambulanzen bewähren sich, wo es entsprechende Ambulanzen gibt. Die volkswirtschaftlich teuerste Ambulanz ist jene, in der keine Patienten behandelt werden.

Argumentieren Sie so, weil die Kassen nur einen kleinen Anteil an den Spitalskosten übernehmen müssen?
Nein. Die Kassen zahlen den gleichen Anteil an den Spitalskosten wie vor der Pandemie (rund 45 Prozent, Red). Wir haben nur die Situation, dass viele Krankenhäuser seit Corona die Ambulanzen runtergefahren haben. Sie kommen ihrer ambulanten Versorgungsaufgabe nur mehr in verringertem Ausmaß nach. Öffnungszeiten wurden reduziert, Laborleistungen werden wie in Mistelbach nicht mehr angeboten. Wir müssen im extramuralen Bereich zusätzliche Leistungen bereitstellen, weil in den Spitalsambulanzen nicht mehr behandelt wird.

Sollten Sie sich als Vertreter des Kassensystems nicht Gedanken über die Kassenflucht machen?
Natürlich machen wir uns Gedanken. Aber wir können das Problem nicht lösen, indem wir unseren Kassenärzten dieselben Stundensätze bezahlen, die Wahlärzte am privaten Gesundheitsmarkt verrechnen. Es ist grotesk, Einzelpositionen aus dem Kassenkatalog herauszunehmen und sie mit dem Honorarsatz von 150 Euro des Wahlarztes zu vergleichen. Ein Kassenarzt kann während der gleichen Konsultation 20 Einzelpositionen aus unserem Honorarkatalog leisten und verrechnen. Der Wahlarzt berechnet Zeit, das Kassensystem berechnet Leistungen.

Das müssen Sie erklären …
Ich hatte mal eine Ärztin, die unzufrieden war, weil sie für eine halbe Stunde Beratungsgespräch nur einige wenige Euro bekomme. Mein Argument war, dass sie in einer Stunde genauso 20 Rezepte unterschrieben habe und dabei für jeden Patienten den gleichen Tarif verrechnen könne. Unsere Kassenhonorare bauen darauf auf, viele Leistungen einzeln abzurechnen. Die Abrechnung einer Konsultation besteht meist aus mehreren Leistungspositionen. Das ist seit 1955 so. Wir würden gerne verstärkt nach Pauschalen abrechnen. Das ist bis jetzt immer am Widerstand der Ärztekammer gescheitert.

Wir haben die Situation, dass viele Krankenhäuser seit Corona die Ambulanzen runtergefahren haben. Sie kommen ihrer ambulanten Versorgungsaufgabe nur mehr in verringertem Ausmaß nach.

Themenwechsel: Welche Rolle kommt Primärversorgungszentren bei der Neuordnung der ambulanten Versorgung zu?
Primärversorgungseinheiten sind ein ganz großer Teil der Lösung. Auf einer Skala von 1-10 sind sie sicher eine 7.

Wir reden von 70 PV-Einheiten. Interne Berechnungen in Ihrem Haus sprechen mittlerweile von 90 PVE, die in den kommenden Jahren gegründet werden sollen. Bei insgesamt 10.147 Kassenstellen in Österreich sind diese Zahlen doch nur Randnotizen, oder?
Wir befinden uns – wie immer im Gesundheitswesen – in einer Entwicklung. Aktuell vergeht kein Monat, an dem sich nicht ein Interessent oder eine Interessentin meldet. Ich denke, dass die Gewissheit in der Ärzteschaft immer größer wird, dass das Konzept der Primärversorgungszentren funktioniert.

Wo brauchen wir PVE?
Ballungszentren sind vorranginge Versorgungsgebiete für PVE – bis zur Größe einer Bezirksstadt, in der mindestens drei Ärzte gebraucht werden. Und in den ländlichen Regionen werden sich Ordinationsnetzwerke bilden.

Die Primärversorgungsnetzwerke sind im Gegensatz zu den Zentren keine Erfolgsgeschichte. Alle entsprechenden Gründungen haben nach kurzer Zeit angefangen zu straucheln. Was muss man besser machen?
Aktuell stehen wir bei vier Netzwerken bei insgesamt 36 PVE. Da gibt es auch Herausforderungen. Ich glaube, da müssen wir selbstkritisch sein. Zu Beginn der Idee waren wir überzeugt, dass das Wesen eines Primärversorgungsnetzwerks der Austausch der Patientendaten ist. Inzwischen haben wir gelernt, dass Patientendaten nicht gerne geteilt werden. Dadurch haben die bisherigen Projekte schnell Schlagseite bekommen. Ich stelle mir bei den Primärversorgungsnetzwerken die Frage, ob man das nicht wachsen lassen muss. Wir müssen nicht mit einer Komplettvernetzung starten. Da sollten wir ein bisschen flexibler werden – vonseiten der Sozialversicherung als auch vonseiten der potenziellen Netzwerkpartner.

Was braucht es außer PVE noch, um den ambulanten Bereich zukunftsfähig zu machen?
Wir benötigen eine kluge Kanalisierung in der Erstversorgung. Es ist für kein Gesundheitssystem praktikabel, wenn Patienten mit leichten Krankheitssymptomen unkoordiniert das Spital aufsuchen. Darum benötigen wir heute schon Telemedizin vor ambulanter und stationärer Versorgung. 1450 ist im Zuge der Pandemie zur Corona-Nummer geworden. Aber 1450 bietet den Anrufern eine Erstversorgung mithilfe eines detailliert ausgearbeiteten Fragenkatalogs – und dies von 0-24 Uhr, von Montag bis Sonntag. Und 1450 sagt den Patienten, ob es reicht, am Morgen zum niedergelassenen Arzt zu gehen oder die Ambulanz aufzusuchen. Vielleicht schickt der Operator auch gleich die Rettung. Der nächste Schritt der telemedizinischen Erstversorgung sollte sein, dass über einen Link ein videogestütztes Gespräch mit einem Arzt oder einer Ärztin vermittelt wird.

Wird die Patientenschaft die technischen Voraussetzungen akzeptieren?
Das ist eine Generationenfrage. Heute 70-Jährige mussten in ihrem Arbeitsleben wenig oder kaum mit PC oder Smartphone zurechtkommen. Die heute 60-Jährigen schon. In zehn Jahren ist diese Generation die Hauptzielgruppe unseres Gesundheitssystems – und wird keinerlei Probleme haben, einen Link zu verarbeiten. Telemedizin ist die Zukunft der ambulanten Erstversorgung – vor allem in Regionen mit geringer Bevölkerungsdichte.

Bewohner des Waldviertels oder des Mühlviertels werden nur mehr per Video einen Arzt zu Gesicht bekommen?
Wir müssen uns auf Entwicklungen gefasst machen, wo nicht mehr jede Gemeinde rund um die Uhr eine Ärztin oder einen Arzt im Ort hat. Ein Versorgungsansatz ist, dass ein Mediziner nur an bestimmten Tagen in der Woche ordiniert. Eine andere Variante ist die Ärztebereitschaft, die einen Mediziner bei Bedarf ins Haus schickt – nach vorheriger Telefon- oder Videokonsultation. Wer keinen Computer hat, kann im Gemeindehaus oder in anderen öffentlichen Einrichtungen Zugang erhalten, um mit einem Arzt zu reden. Es gibt etliche Szenarien für dünn besiedelte Regionen, in denen Telemedizin und mobile ambulante Versorgung kombiniert werden können. Das sind die Themen der Zukunft.

Ich stelle mir bei den Primärversorgungsnetzwerken die Frage, ob man sie nicht wachsen lassen muss und sie von einem geringen Grad der Kooperation sukzessive auf einen höheren Level bringen soll.

Unser Gesundheitssystem funktioniert sehr gut, wenn man schon krank ist, aber es trägt wenig dazu bei, gesund zu bleiben. Die WHO spricht von 6-8 Prozent, die ein Gesundheitssystem für Prävention ausgeben soll. In Österreich sind es zwei Prozent. Warum macht man nicht mehr in der Vorbeugung, um nachher mehr einzusparen?
Das Problem bei der Prävention ist, dass wir ganz große Schwierigkeiten haben, an die richtigen Leute heranzukommen. Ich behaupte, die Ausgaben in der Gesundheitsförderung in Österreich sind bedeutend. Wir haben in den letzten Jahren Programme aufgesetzt, die toll sind. Angenommen haben sie aber nur Menschen, die ohnehin gesundheitsbewusst leben. An den Couch-Potatoes, die wir mobilisieren wollen, da marschieren wir vorbei.

Alles nur eine Frage des Marketings?
Wir haben als ÖGK unsere Kraft gebündelt. Wir diskutieren nicht mehr, welche Kasse welches Gesundheitsförderungsprogramm übernimmt. Daran sind wir in der Vergangenheit oft gescheitert. Hätten wir früher versucht, bei neun Gebietskrankenkassen und 21 Sozialversicherungsträgern vor einem Fußballmatch einen Beitrag zur Gesundheitsförderung zu bringen, hätten wir wahrscheinlich drei Jahre gestritten, welches Logo darunter steht. Die Zeiten sind vorbei.

Der burgenländische Landeshauptmann Hans Peter Doszkozil meinte, dass die ÖGK ohne jeden Nutzen sei. Im Kern steckt die Botschaft, dass wir im Gesundheitsbereich durch die Aufteilung auf Bund, Land und Kassen extrem intransparente Geldflüsse haben. Was spricht gegen ein rein steuerfinanziertes Gesundheitssystem – ohne Sozialversicherungsträger?
Zu dieser Aussage ist alles gesagt. Jeder Euro, der bei uns reinkommt, geht zu 98 Prozent wieder an die Beitragszahler und deren Gesundheit zurück. Zwei Prozent entsprechen unserem Verwaltungsaufwand. Ich arbeite seit 2006 in der Sozialversicherung. Und seit ich da bin, diskutieren wir immer ums Geld. Ich bin nicht der Meinung, dass Finanzierung aus einer Hand das Entscheidende ist. Ich bin der Meinung, dass Versorgung aus einer Hand das Entscheidende ist. Dem Patienten ist es egal, woher das Geld kommt, das für eine Herzoperation nötig ist.

Herr Wurzer, hat sich die Kassenreform gelohnt? Der Rechnungshof ist nicht dieser Ansicht.
Ja, die Kassenzusammenlegung hat sich organisatorisch zu 100 Prozent ausgezahlt. Das merkt man schon jetzt. Wir sind bundesweit organisiert, wir haben ein Organisationssystem mit bundesweiten Fachbereichen aufgebaut, die österreichweit sämtliche Verhandlungen mit den Landesärztekammern steuern. Und dass die Mitarbeiterzahlen in manchen Zählbereichen angestiegen sind, liegt an der Zuordnung einstiger Planstellen. Im Gesetz steht, dass durch die Reform keine Mitarbeiter freigesetzt werden dürfen. 

Bernhard Wurzer (48) ist seit Jänner 2020 der erste Generaldirektor der neugestalteten Österreichischen Gesundheitskasse. Er ist seit 2006 im Bereich der Sozialversicherungen tätig – erst als Büroleiter, ab 1. April 2013 Generaldirektor-Stellvertreter im Hauptverband. 1996 – mit 22 Jahren – wurde der damalige Student stellvertretender Bundespartei-Obmann der Jungen ÖVP (JVP-Obmann war damals Werner Amon) und Gemeinderat von St. Pölten. 2013, nach sieben Jahren als Stadtrat und VP-Klubobmann, verabschiedete sich Wurzer aus der Kommunalpolitik.

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