Reshoring – Bleibeprämien für Pharma-Werke

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Autor: Josef Ruhaltinger

Reshoring soll langfristig die europäische Versorgung mit Medikamenten sichern. Ökonomen halten das Konzept für teuer, langwierig und wenig erfolgversprechend. Wichtiger sei es, die noch existierenden Pharmawerke in Europa zu halten.

Für Touristen ist die 9.000-Seelen-Stadt Roussillon eher ein Ort zum Durchfahren als zum Verweilen. Das Bemerkenswerteste an dem Städtchen ist sein Industriegebiet mit dem irreführenden Namen „Vallée de la Chimie“. Und doch ist die Gemeinde im französischen Departement Isère dabei, Industriegeschichte zu schreiben. Ein neues Werk des Pharmakonzerns Seqens soll an den Ufern der Rhone ab 2025 10.000 Tonnen Paracetamol jährlich produzieren. Die Menge repräsentiert ein Drittel des europäischen Verbrauchs dieses Schmerzmittels. Damit wird Seqens – 3.300 Mitarbeiter, 1,35 Milliarden Euro Umsatz 2022, 70 Prozent der Stimmrechte liegen bei einem US-Fonds – das einzige Unternehmen sein, das Paracetamol in Europa herstellt. Umweltstandards spielen bei dem Projekt eine besondere Rolle: Paracetamol wurde in Roussillon schon einmal hergestellt, bis neue Umweltvorgaben kamen, wie die deutsche „Wirtschaftswoche“ schreibt. Der Eigentümerkonzern Rhodia machte den Standort dicht.

Das neue Seqens-Werk profitiert vom französischen Wiederaufbau-Programm „France Relance“, das die Regierung Macron im Herbst 2020 ausgerufen hat. 100 Millionen Euro sollen die Entwicklung des Verfahrens und der Bau der Fabrik kosten. Der französische Staat übernimmt davon 30 – 40 Prozent durch Subventionen und günstig verzinste Finanzierungen. Für Präsident Emmanuel Macron ist das Projekt Phoenix, wie das Roussillon-Vorhaben intern genannt wird, Teil eines Reindustrialisierungsprogramms, das seinem Land die „pharmazeutische Souveränität“ zurückgeben will. Weitere Projekte flankieren die Maßnahmen. 160 Millionen Euro stehen in Summe zur Verfügung, um Frankreich langfristig bei der Versorgung mit rund 450 wichtigen Wirkstoffen autark zu machen. Zu gern hätte Macron für den Aufbau der neuen Pharma-Werke die finanzielle Unterstützung aus der EU. Dort gibt es aber Zweifel, ob der Bau wirklich im europäischen oder doch mehr im französischen Interesse geschieht.

Last man standing. In Kundl steht das letzte integrierte Antibiotika-Werk Europas. Sandoz-Österreich-Chef Peter Stenico implantiert gerade eine Kapazitätserweiterung um 200 Mio. Euro. Der Output in der Fermentation wurde seit 1973 um 2.700% gesteigert.

Reshoring als Kind der Not

Versorgungsprobleme bei Medikamenten sind kein Resultat der Pandemie. Lieferschwierigkeiten bei Arzneien sind seit der zweiten Hälfte der Zehner-Jahre an der Tagesordnung – und zwar in ganz Europa. Seither hat sich die Situation kontinuierlich verschärft – auch in Österreich. Das 2018 beim zuständigen Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen BASG angelegte „Vertriebseinschränkungen Register“ wies für den 12. September dieses Jahres 594 Arzneien aus, die nicht oder nur eingeschränkt verfügbar waren. Exakt ein Jahr vorher waren es 409 Medikamente, die von den Herstellern als knapp eingemeldet wurden. Fakt ist: Die Versorgungsmängel häufen sich. Sobald auf der Welt Krisen auftreten, reißen die sehr feinen Glieder der Pharma-Lieferketten. Die Verteil- und Versorgungsprobleme betreffen fast ausschließlich die generischen Billigarzneien, deren Wirkstoffe zu 66 bis 80 Prozent – die Angaben schwanken je nach Studie – aus Indien und China kommen.

Einprägsam waren die Versorgungsprobleme im Winter des vergangenen Jahres, als die „Tripledemie“ losrollte, bestehend aus Covid-19, Influenza und dem Respiratory Syncytial Virus (RSV), der bei kleinen Kindern Bronchiolitis verursacht. Flüssige Arzneimittel für Kinder mit den Wirkstoffen Ibuprofen und Paracetamol waren in ganz Europa nicht verfügbar. Gesundheitsminister Rauch bezeichnete in einer ORF-Pressestunde Ende September die Engpässe des vergangenen Winters als „nicht vertretbar“. Er wolle nicht mehr hinnehmen, dass „Eltern mit ihren Kindern in den Apotheken keine Medikamente bekommen“. Erleichterungen bei der magistralen Zubereitung in den Apotheken und eine verstärkte Bevorratung sollen eine Wiederholung der Notsituation unterbinden.

Aber werden diese Maßnahmen reichen? Die Zeichen stehen auf Wiederholung. Die Präsidentin der Apothekerkammer, Ulrike Mursch-Edlmayr, berichtet in einem Gespräch mit dem Ö1-Morgenjournal von „schleppenden Lieferungen für die Winterbevorratung“. Sie befürchtet, dass „der Winter wieder schwierig wird“. Ulrike Mursch-Edlmayr fordert „Rohstofflager, damit die Apotheker durch eigene Zubereitungen Spitzen abfangen können“. Minister Johannes Rauch greift tiefer. Im April sagte er im ÖKZ-Interview: „Wir haben bei manchen Wirkstoffen eine Abhängigkeit von 90 % bei zwei chinesischen Herstellern. Das vorrangige Thema wird daher lauten, europäische Standorte zu sichern oder wiederzubeleben. Es gilt, die Produktion wieder nach Europa zu bekommen.“ Rauch folgt dabei der Annahme: Eine Produktion im europäischen Einflussbereich könne nicht aus nationalen Gründen stillgelegt werden. Emmanuel Macron lässt grüßen.

Die Pandemie hat für massiven Leidensdruck gesorgt. Indien, mittlerweile neben China der Hauptakteur im globalisierten Pharmamarkt, hat bei Ausbruch der Pandemie im März 2020 unverzüglich eine Exportbeschränkung für fast alle Virenmedikamente erlassen, die im Land erzeugt werden: Die Anfangstage der Pandemie bewiesen weltweit, dass in extremen Zeiten nationale Interessen sämtliche zivilen und völkerrechtlichen Verträge zur Makulatur machen. Reshoring, wie die Rückholaktion ganzer Branchen aus den asiatischen Märkten genannt wird, ist der logische Reflex auf diese Erkenntnis. TV-Talk-Runden, politische Reden und die digitalen Stammtische sind sich da einig.

Umsiedlung eines ganzen Biotops

Macrons Alleingang bei der Rückholung der Pharmaproduktion erhält außerhalb der französischen Grenzen nur sehr, sehr leisen Applaus. David Francas ist Professor für Logistik und Informationssysteme an der Hochschule Heilbronn und wissenschaftlicher Leiter des Healthcare Supply Chain Institute. Seine Studien zum Reshoring der Wirkstoffproduktion (siehe Quellen und Links) definieren in Deutschland die Zahlengrundlagen für einschlägige Diskussionen. Francas Urteil über nationale Rückholaktionen ist eindeutig: „Nebelkerzen“. Neben ökonomischen Herausforderungen warten auf die neuen Pharmawerke jede Menge Hürden im Bereich der Umweltverträglichkeit und der Medikamentenzulassung. Auch müssen die Frage der Rohstoffzulieferung und der Fachkräfte geklärt werden, wobei er jetzt schon „Mangelwirtschaft und deutlich höhere Kosten prophezeien“ könne. Bei echten Green-Field-Projekten hält er „eine Anlaufphase von fünf Jahren für das Minimum“. Und er will wissen: „Wer zahlt das Geld, das für Reshoring-Projekte zugeschossen werden muss?“ Auch Thomas Czypionka, Gesundheitsökonom am Institut für Höhere Studien, hält das Konzept der Rückholung ganzer Industriezweige für „langwierig und teuer“. Ob dadurch die Versorgung verbessert werde, sei nicht gesichert: „Der Staat müsste dazu die Verteilungshoheit haben.“ Czypionka sieht das Hauptproblem bei der Versorgungsfrage in der mangelnden Transparenz: „Welche Wirkstoff-Produktionen wollen wir heimholen?“ Und nach welchen Kriterien werde diese Frage entschieden? Geht man nach Mortalität? Oder der Anzahl der Betroffenen? Letztendlich fehle es an Transparenz bei Markt und Produkten. Auch gäbe es keinen nationalen und schon gar keinen europäischen Überblick über die Lagerbestände bei den Herstellern, in den Apotheken oder in den Kliniken. Czypionka: „Wenn wir ehrlich sind, müssten wir erst klären, wovon wir reden, bevor wir nachdenken, wie wir das Versorgungsproblem lösen.“

Morris Hosseini bringt etwas Licht in die Blackbox. Der Berliner Berater von Roland Berger berechnete 2018 die Kosten einer Wiederaufnahme der Produktion von Penicillin in Höchst. Dort war ein Jahr zuvor die Herstellung des Antibiotikums Cephalosporin eingestellt worden – nach Amoxicillin der zweitwichtigste Wirkstoff in der Gruppe der Penicilline. Noch 2015 war kräftig in den Ausbau der Fermentierungsanlage investiert worden, um die nötigen Skaleneffekte zu erzielen. Die chinesischen Wettbewerber reagierten auf die Produktionsfortsetzung und senkten ihrerseits die Preise. Corden BioChem, die die Anlage 2016 von Sandoz übernommen hatten, machten dicht: Kein Abnehmer wollte sich länger als ein Jahr auf Preise und Mengen festlegen. Sandoz Kundl war damit das letzte integrierte Antibiotika-Werk Europas.

Morris Hosseini: „Dies war ein typisches Beispiel, wie die Absiedelung der europäischen Pharmaindustrie sukzessive hingenommen wurde.“ Hosseini simulierte 2018 in einer Studie den Business Case einer Wiedereröffnung. Sein Ergebnis war eindeutig: Im Vergleich zu den chinesischen Mitbewerbern würden bei einer Produktion von 500 t Cephalosporinen – dies entspräche dem Bedarf von ganz Europa – ein operativer Verlust (EBIT) von 78 Millionen Euro eingefahren werden. Jährlich. Bei einem einzigen Wirkstoff. „Es würde mich sehr wundern, wenn heute die Zahlen besser aussehen würden“, so der Berater. Für die Einkäufer der öffentlichen Hand hätte es einen Bruchteil der Wiederansiedlungskosten gebraucht, um den Antibiotika-Standort in Höchst zu halten. Flexiblere Einkaufskonditionen mit verlängerten Laufzeiten seitens der Einkäufer hätten gereicht. So bedienten sie sich weiterhin beim Preissieger und winkten dem Antibiotika-Standort Höchst zum Abschied. Hosseini: „Es gibt auf dem Markt keine Planbarkeit.“ Die reine Preisfixierung beim Einkauf führe zwar zu sinkenden Medikamentenpreisen, habe aber die Abwanderung der Generikahersteller in den letzten fünfzehn Jahren „geradezu provoziert“. Hosseini: „Europas Gesundheitssysteme müssen sich klar werden, was Versorgungssicherheit wert ist.“ Auch Thomas Czypionka meint, „dass ein Vergabeverfahren mit reiner Preisorientierung die Medikamentenversorgung in Zukunft nicht sicherer machen werde“. Er regt an, „Pharma-Anbieter mit europäischen Produktionsstandorten oder speziellen Versorgungsgarantien mit Vorteilen in eine Ausschreibung zu schicken“.

Immunisierung gegen Abwanderung. David Francas ist mehrfacher Studienautor zum Thema Pharma und Reshoring. Ein Comeback der abgewanderten Generika-Produktion hält er für Wunschdenken. Klüger wäre es, die noch verbliebenen Werke zu sichern – mit welchen Mitteln auch immer.

Halten, was noch da ist

Reisende sind schwer zu halten. Nationale Programme wie jene von Emmanuel Macron oder die Bemühungen der EU-Kommission, einen europäischen Schulterschluss für ein Comeback der europäischen Generikaindustrie in den östlichen Mitgliedsländern zu schaffen – dorthin gehen die ersten Überlegungen –, beseitigen kurz- und mittelfristig keine Medikamentenengpässe. Der Zug hat den Bahnhof verlassen. David Francas: „Es ist deutlich smarter, wenn Europa die noch vorhandenen Produktionskapazitäten absichert und nicht die gleichen Fehler macht, die die generische Produktion nach Asien hat gehen lassen.“

Bei allem Abwanderungsgeschrei: Europa verfügt immer noch über eine nennenswerte Pharmaproduktion. 440 Standorte weist eine aktuelle Studie der GÖG im Auftrag der Kommission aus (siehe Tabelle oben). Vor allem im Bereich der Biopharmazeutika (und bei Originals) existieren große europäische Kapazitäten. Wo in den letzten Jahren bei der Versorgungssicherheit der Schuh drückt, sind Arzneien aus der Gruppe der Generika. Die höherwertigen Biopharmaceuticals hatten bislang noch keine Zeit zum Auswandern. Mittlerweile erhält der Markt der Bio­similars – Nachfolgeprodukte ohne Patentschutz – zunehmend Druck aus China. „Wir bemerken, dass sich bei den billigeren Biosimilars die gleichen Prozesse abspielen wie vor 15 Jahren bei den Generika.“ Waren in den Nuller-Jahren die (wenigen) Zulassungen bei Biosimilars noch zu zwei Drittel europäisch, so lag der globale Anteil des Alten Kontinents 2016 bis 2020 nur mehr bei 30 Prozent. Die europäische Vormacht bröckelt. Roland Berger-Analyst Morris Hosseini will rasches Handeln sehen: „Wenn wir Standorttreue und Versorgungssicherheit wollen, müssen wir Anreize liefern.“ Deutlich differenziertere Preisbildungsverfahren seien ein Anfang. Wer liquide Vorratshaltung betreibt und in Europa produziert, soll gegenüber seiner asiatischen Konkurrenz preislich im Vorteil sein. Die Einkäufer in den nationalen Gesundheitssystemen müssen ihre Vorsicht gegenüber der Pharmaindustrie nicht über Bord werfen. Ein befragter Ökonom griff – leider nicht zitabel – zu einer eindrücklichen Metapher. Es gilt, das Pferd zu zähmen, nicht zu erwürgen. 

Quellen und Links:

Produktion von Biosimilars: Wer Reshoring möchte, muss Offshoring vermeiden
Anzahl der Wirkstoffe in Deutschland

Studie zur Versorgungssicherheit mit Antibiotika: Wege zur Produktion von Antibiotikawirkstoffen in Deutschland bzw. der EU

Roland Berger: Global pharma winners – focus and efficiency matter

Resilienz pharmazeutischer Lieferketten

Potential measures to facilitate the productions of active pharmaceutical ingredients (APIs)

Pharmig – Daten und Fakten 2022

Weiterlesen:

Das ganze Interview mit Peter Stenico, Chef von Sandoz Österrreich, lesen Sie hier.

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