Rektor der Medizinischen Universität Wien Markus Müller: „Besser das Loch im Kübel stopfen“

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Autor: Martin Hehemann

Markus Müller, Rektor der Medizinischen Universität Wien, warnt, die Zahl der Medizinstudenten zu erhöhen. Im Interview mit der ÖKZ spricht er über einen defekten Wasserkübel, den Weltrekord im Gewichtheben und warum Kollegen aus den USA ihm nicht glauben.

Herr Müller, der Wiener Gesundheits­stadtrat Peter Hacker fordert nahezu eine Verdopplung der Studienplätze für Medizin in Österreich. Die Rektoren der MedUnis wehren sich geschlossen dagegen. Warum eigentlich?
Markus Müller: Wir glauben, dass das der völlig falsche Ansatz ist. Wir bilden in Österreich genug Ärzte aus.

Herr Hacker sieht das offenbar anders. Und er ist nicht allein. Die Spitäler klagen über einen Mangel an Ärzten. Es gibt offene Stellen in der Anästhesie, der Chirurgie, der Notfallmedizin und der Kinderpsychiatrie – und das nicht nur in Wien.
Wir bestreiten nicht, dass es in verschiedenen Bereichen Probleme gibt und auch in manchen Fächern Ärzte fehlen. Das Symptom ist offensichtlich. Wir sind nur anderer Meinung, was die Ursachen der Krankheit betrifft und wie man sie kuriert. In Mangelfächern wie Kinderpsychiatrie gibt es zum Beispiel seit Jahren zu wenig Ausbildungsstellen. Das ist aber ein Thema nach dem Studienabschluss. Ich möchte hier noch zwei wesentliche Punkte ansprechen. Erstens: Am Wiener AKH können bis zu 30 Prozent der OP-Kapazitäten nicht genutzt werden. Wissen Sie warum?

Spontan hätte ich gesagt: Es gibt zu wenig Ärzte. Aber damit liege ich vermutlich daneben?
So ist es. Es fehlt nicht an Ärzten. Es fehlt am Pflegepersonal. Die Ärztinnen und Ärzte können nicht operieren, weil die Patientinnen und Patienten während und nach der Operation nicht betreut werden können. Der Mangel an Administrations- und Pflege-Personal führt auch dazu, dass Ärzte – vor allem die jungen – zahlreiche nicht-ärztliche Aufgaben übernehmen müssen. Da bleibt dann natürlich weniger Zeit für die Aufgaben, für die sie ausgebildet worden sind und benötigt werden.

Markus Müller – im Bild beim „White Coat Welcome“ mit Erstsemestrigen – ist Professor für innere Medizin und klinische Pharmakologie. Seit 1. Oktober 2015 ist Müller Rektor der Medizinischen Universität Wien.

Stadtrat Hacker argumentiert weniger mit der Gesamtzahl der Ärzte, sondern vor allem damit, dass die Zahl der niedergelassenen Kassenärzte in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist.
Die Gesamtzahl hat sich in Österreich seit 1990 mehr als verdoppelt – von rund 20.000 auf mehr als 47.000 Ärzte. Laut OECD hat nur Griechenland mehr Mediziner pro Einwohner als Österreich. Der Rückgang bei den Kassenärzten ist tatsächlich ein Problem. Die Ursache liegt aber in den Strukturen der Sozialversicherung und der Länder mit ihrer starken Krankenhauslastigkeit. Auf diese Strukturen stoßen die Absolventen nach ihrem Studium. Kassenarzt zu werden, ist immer unattraktiver geworden. Daher entscheiden sich viele für den Gang ins Ausland, oder sie werden Wahlarzt.

Ich hatte Sie unterbrochen. Sie wollten noch einen zweiten Punkt ansprechen.
Mein zweiter Punkt betrifft die Ausbildung nach dem Studium. Hier hat man mit der sogenannten „Basisausbildung“ vor einigen Jahren ein Nadelöhr geschaffen, das es in anderen Ländern in dieser starren Form nicht gibt. Ich höre von unseren Absolventinnen und Absolventen, dass sie oftmals bis zu einem Jahr auf einen Basisausbildungsplatz warten. Vielen von ihnen verlassen uns ins Ausland. Daher sollte die Basisausbildung ersatzlos gestrichen werden.

Ich höre Ihre Argumente. Ich verstehe aber immer noch nicht, warum man deshalb die Zahl der Studienplätze nicht erhöhen sollte?
Weil wir damit das Problem nicht lösen würden. Wir haben weder zu wenig Ärzte noch zu wenig Studienplätze – im Gegenteil: Österreich liegt auch hier im Spitzenfeld. An den öffentlichen Universitäten beginnen pro Jahr 1.850 junge Menschen das Medizinstudium. Dazu kommen noch rund 200 an den privaten Universitäten. Das macht gut 2.000 und wird in den nächsten Jahren sukzessive auf rund 2.200 erhöht. In Deutschland sind es etwa 13.000. Deutschland hat aber fast zehnmal so viele Einwohner. Die Rechnung überlasse ich Ihnen.

13.000 durch zehn ergibt 1.300.
Genau. Ich nenne Ihnen noch ein Beispiel: Von den 1.850 Neueinsteigern pro Jahr stemmen wir an der MedUni Wien 760. Wenn ich im Ausland mit meinen Kollegen spreche, frage die mich öfters: „Wieviel neue Studenten lasst Ihr pro Jahr zu?“ Ich sage dann: „760.“ Sie antworten: „Du irrst dich. Das ist die Gesamtzahl der Studierenden.“ Ich sage: „Ich irre mich nicht. Das sind die Neueinsteiger.“ Sie sagen: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass man mit so einer hohen Zahl von Studierenden ein Studium mit einer vernünftigen Qualität anbieten kann.“ Ich antworte: „Das wissen wir.“ Wissen Sie, wie viele neue Studierende renommierte US-Universitäten wie Havard oder Cornell pro Jahr zulassen?

Da muss ich leider passen.
Zirka 150.

Ihr Argument ist also, dass die österreichischen Universitäten am Limit sind und gar nicht mehr Studierende ausbilden können?
Jedenfalls nicht mit den Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen. Wissen Sie, wo der Weltrekord im Gewichtheben liegt?

Das lässt sich leicht googeln. Moment… Es sind 263 Kilogramm in der Teildisziplin Stoßen.
Jetzt stellen Sie sich vor, Sie sind der Weltrekordhalter im Stoßen und man sagt Ihnen, Sie sollen bitte schön 400 Kilo in die Höhe bringen. Ich muss Ihnen nicht erklären, dass Sie das nicht hinbekommen werden. Dazu kommt, dass diese Leistung nicht viel bringt. In anderen Worten: Selbst wenn wir die Zahl der Medizinstudierenden verdoppeln und es dennoch schaffen würden, weiter ein qualitativ akzeptables Studium anzubieten, würden wir den Ärztemangel nicht beheben. Da ist es besser, wir stopfen das Loch im Kübel, damit wir nicht noch mehr Wasser verlieren.

Worin besteht das Loch im Kübel?
Es muss gelingen, den Arztberuf für den Nachwuchs wieder attraktiver zu machen. Dazu gehört vor allem, sie von adminis­trativen Aufgaben zu befreien. Es kann nicht sein, dass ein Arzt stundenlang herumtelefoniert, um ein freies Bett auf einer Station zu finden. Es gibt hier eine aufschlussreiche Zahl: In der Schweiz kommen auf einen Arzt zirka vier Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger. In Österreich sind es zirka zwei. Hier sollte man ansetzen. Es ist notwendig, die Arbeitsbedingungen für die Jung-Mediziner zu verbessern und um sie zu werben: „Wir wollen Euch und bieten gute Arbeitsbedingungen.“ Stattdessen müssen sie sich von diversen Politikern anhören, dass sie nicht empathisch sind und sowieso ins Ausland gehen. Das ist eine paradoxe Art, um Personal zu werben.

Dieser Vorwurf zielt in Richtung der sogenannten deutschen Numerus-Clausus-„Flüchtlinge“. Viele von ihnen
gehen nach dem Studium wieder zurück nach Deutschland.

Leider verlieren wir nicht nur viele deutsche Kollegen, sondern auch eine ganze Reihe von einheimischen Absolventen und viele der rund 150 Österreicher pro Jahr, die im Ausland Medizin studieren. Der von manchen Politikern erfundene, polarisierende Begriff Numerus-Clausus-„Flüchtlinge“ ist hochproblematisch. Aber Sie sprechen hier einen weiteren heiklen Aspekt an: Die EU hat Österreich eine Ausnahmeregelung gewährt: Die Zahl der nicht-österreichischen Studierenden darf auf 25 Prozent beschränkt werden. Wenn wir die Zahl der Studierenden drastisch erhöhen, wird diese Regelung höchstwahrscheinlich kippen. Die EU wird sagen: „Jetzt könnt Ihr niemandem mehr erzählen, dass Ihr zu wenig Ärzte im Land habt.“ Die Konsequenz daraus ist auch klar.

Klären Sie mich auf.
Wir produzieren noch mehr Absolventen für ausländische Gesundheitssysteme. 

Quellen und Links:

„Meduni-Wien-Rektor für stärkere Steuerung bei Fächerwahl von Ärzten“

Rektorat der MedUni Wien

Gastkommentar von Meduni-Innsbruck-Rektor Wolfgang Fleischhacker im Der Standard

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