Der bekannte Virologe Florian Krammer hat im Frühjahr eine Teilzeitprofessur an der MedUni Wien angetreten. Nebenbei baut er das neue Ignaz Semmelweis-Institut auf. Er erzählt, warum er die Impfpflicht im Nachhinein für einen Fehler hält.
Herr Krammer, Sie haben mit 1. März eine Professur für Infektionsmedizin an der MedUni Wien angetreten. Bekommen Sie die Unterstützung, die Sie brauchen?
Florian Krammer: Ja. Die große Herausforderung besteht darin, herauszufinden, wie man Dinge in Österreich organisiert. Das bürokratische System ist hier komplett anders als in den Staaten. Aber ich verfüge über Laborfläche, ich habe ein Büro, einen sehr kompetenten Assistenten und ich werde jetzt Leute anstellen. Die Organisation von Visa und das Einholen von Arbeitsbewilligungen bringt für mich eine steile Lernkurve mit sich. Ich bin optimistisch, dass wir ab Juni operativ werden.
Ihr Team umfasst vier Mitarbeiter. Klingt überschaubar.
Für die Startphase ja. Aber ich bin zuversichtlich, dass die Mannschaft recht schnell wachsen wird. Ich bin schon fleißig dabei, Forschungsförderungsanträge in Österreich zu schreiben. Am Anfang klopfen wir bei den österreichischen Institutionen an, aber es ist fest eingeplant, in naher Zukunft EU-Gelder zu mobilisieren.
Sie sind seit 2019 – jetzt zitiere ich – „Professor of Vaccinology in the Department of Microbiology at the Icahn School of Medicine at Mount Sinai“ – in fußläufiger Nachbarschaft zum Central Park und zum Guggenheim-Museum. Zu 80 Prozent werden Sie weiterhin dort tätig sein, bei Ihrem Engagement in Wien handelt es sich um eine 20-Prozent-Stelle. Wie kann diese Arbeitsteilung zwischen New York und Wien funktionieren?
Natürlich ist es stressig. Aber ich habe immer schon gerne gearbeitet. Die Icahn School of Medicine at Mount Sinai und speziell unser Department sind bekannt dafür, dass die Leute wirklich, wie man so schön sagt, unter Strom stehen. Sich viel im Labor aufzuhalten, ist nichts Besonderes. Ich kann mich erinnern, wie mein Chef Peter Palese (gebürtiger Linzer, weltweit anerkannter Virologe, Direktor des Departments für Microbiology des Mount Sinai, Mentor von Florian Krammer, Anm. d. Red.) irgendwann an einem Sonntag nachgefragt hat, wie es mit dem Mausexperiment ausschaue, das wir zuvor besprochen hatten. Er wusste, dass ich am Sonntag früh im Labor war, so wie er selbst. Da ist die ganze Zeit was los. Du gehst am Wochenende arbeiten, ohne dass dich wer hinschickt, und triffst den Chef im Büro. Das ist normal. Und ich mache das gerne so.
Als misanthropischer Mitteleuropäer frage ich sofort: Brennen Sie nicht aus?
Solange mir die Arbeit Freude macht, ist daran nicht zu denken. Ich habe während der Pandemie wahnsinnig viel gearbeitet und letztes Jahr ein bisschen mehr Freizeit gehabt. Ich habe meine vier Wochen Urlaub genommen, das war noch nie der Fall. Ich habe mir auch am Wochenende gelegentlich freigenommen und bin wandern gegangen. Das wird sich jetzt wieder aufhören. Aber ich glaube, ich habe ein Jahr gebraucht, um mich auszurasten.
Laissez faire hat ein Ende. Florian Krammer hat voriges Jahr das erste Mal seit Langem Urlaub genommen. Das will er wegen seines Wien-Engagements wieder einstellen.
Was ist das Ziel Ihrer Arbeit in Wien?
Es gibt viele Pläne. Jetzt stehen Aufgaben in Zusammenhang mit der Vogelgrippe am Start. Ich frage mich, wieviel Resistenz es gegen Vogelgrippestämme in der Bevölkerung bereits gibt. Es gibt Ähnlichkeiten zwischen Vogelgrippestämmen und humanen Influenzastämmen, gegen die wir schon Immunität haben. Die langfristige Zielsetzung ist, das Semmelweis-Institut zu einer weltweit angesehenen Institution zu entwickeln, die im Bereich der Pandemic Preparedness internationale Standards setzt. Im Konkreten geht es dabei um Fragen der Infektionsbiologie und Impfstoffentwicklung. Das ist aber die Langzeitvision.
Sie meinten in einem Interview, dass es nicht die Frage ist, ob, sondern wann die nächste Pandemie kommt. Wird es wieder ein Grippevirus?
Folgt man der Geschichte, ist das sehr wahrscheinlich. Wir hatten in den letzten etwa hundert Jahren 1918, 1957, 1968 und 2009 Influenzapandemien. Und in der gleichen Zeit hatten wir eine einzige Coronavirus-Pandemie. Ich glaube nicht, dass irgendein Virus komplett aus dem Unbekannten auf uns zu kommt. Bei den Coronaviren gab es auch zwei Warnschüsse: SARS-CoV-1 im Jahr 2003 und der zweite war dann MERS CoV im Jahr 2012.
Warum war die Wahrnehmung der Influenza-Wellen so unterschiedlich zu jener der Corona-Pandemie? Wir sprechen hier wie dort von zehntausenden Toten.
Wenn man auf die Wellen 1968 oder 1957 zurückschaut, hatten wir jeweils 2-3 Millionen Tote zu verzeichnen. Aber die Leute vergessen sowas. Ich habe einmal meine Großeltern gefragt, ob sie sich an die 1968er-Pandemie erinnern können. Da gibt es keine Wahrnehmung. Die letzte Influenzapandemie 2009 war relativ leicht. Da hatten wir aus früheren Epidemien eine Restimmunität in der Gesellschaft. Das H1N1 von 2009 hat weltweit etwa 250.000 Tote gefordert. Das ist jetzt – in globaler Sicht – nicht viel. Die Mechanismen der Restimmunität macht die Fragestellung so spannend, wie viel Immunität gegen Vogelgrippe-Stämme es schon gibt.
Eines der Ergebnisse der Pandemie ist, dass sehr viele Menschen die Glaubwürdigkeit von Wissenschaft infrage stellen. Ist das ein Versagen der Wissenschaftskommunikation?
Teilweise ja. Ich glaube, man hat den Fehler gemacht, sich bei Dingen festzulegen, für die es noch keine ausreichende Evidenz gab. Und dann haben die Aussagen nicht gehalten. Und es sind von den Vertretern der Wissenschaft teilweise auch sehr patscherte Fehler gemacht worden. Ich erinnere an Tony Fauci, der irgendwann einmal gesagt hat, Masken helfen nichts. Er wusste, dass dies falsch ist. Die Aussage kam am Anfang der Pandemie, weil es weder für Ärzte und Krankenschwestern noch für die Menschen, die in den öffentlichen Verkehrsbetrieben arbeiten, Masken gab – und er wollte keinen Run provozieren. Das hängt ihm bis heute nach.
Im Nachhinein gefragt: Waren die Lockdowns nötig?
Ja. Ich glaube, Österreich hat am Anfang der Pandemie sehr gut reagiert. Man muss alles in Zusammenhang mit dem damaligen Wissensstand beurteilen. Es gab den Ausbruch in Bergamo mit vielen Toten. Dann ist es in New York losgegangen wie in einem Wirbelsturm. Im Iran war schon die Hölle los. Und Österreich: Die erste Welle ist komplett glimpflich verlaufen. Da ist nicht viel passiert. Und das ist aus meiner Sicht, was zählt. Der erste Lockdown war keine Hysterie. Der hat gut funktioniert.
Florian Krammer (42) schloss seine Ausbildung in Biotechnologie 2010 an der Universität für Bodenkultur in Wien ab. Seine Spezialisierung liegt im Bereich der angewandten Virologie. Nach seinem Studium zog es Krammer in die USA, wo er als Post-Doc unter dem österreichischen Virologen Peter Palese an der Icahn School of Medicine am Mount Sinai Krankenhaus in New York arbeitete. Dort widmete er sich vor allem der Entwicklung eines universellen Influenza-Impfstoffes, der derzeit in klinischen Versuchen getestet wird. Für seine Forschung erhielt er 2019 eine Förderung von 132 Millionen Dollar von den National Institutes of Health (NIH). Seit 2019 ist Krammer Professor für Vakzinologie am Mount Sinai Krankenhaus. Er ist Autor von über 100 Fachartikeln.
Ab wann hatten Sie Hoffnung auf einen Impfstoff?
Im Frühjahr und Sommer 2020 gab es schon Impfkandidaten, deren Phase I- oder II-Resultate gezeigt haben, dass sie im Menschen immunogen und sicher sind. Im späten Frühling war klar, dass es einen Impfstoff geben wird. Im Herbst sind dann die ersten Phase III-Resultate herausgekommen. Die Entwicklung der Impfstoffe war der Turning-Point in der Pandemie.
War es ein Fehler, den Menschen zu erzählen, dass die Impfstoffe nicht nur vor schwerem Verlauf, sondern vor
Ansteckung schützt?
Nein. Am Anfang hat es gestimmt, die Impfung hat auch Infektionen verhindert. Und es stimmt nach wie vor – aber eben nur mehr mit sehr geringer Effizienz. Man muss das im Kontext sehen: In den USA hat die FDA angekündigt, jede Covid-Impfung zuzulassen, die zu 50 % vor dem Tod schützt. Das war die ursprüngliche Erwartungshaltung. Bei den Phase III-Resultaten ist herausgekommen, dass man bei etwa 95 % Effizienz gegen symptomatische Erkrankungen liegt – was weit über den ursprünglichen Erwartungen lag.
Impfgegner nahmen die Ansteckungen als Argument für die Wirkungslosigkeit der Impfung. In Ihrer Eigenschaft als Forschungskommunikator: Hat man den Menschen zu viel versprochen?
Mit den ersten Impfstofflieferungen ist es zu einer Euphorie gekommen. Der Schutz vor Ansteckungen war ja gegeben – aber nur teilweise. Für die nächste Pandemie müssen wir sicher lernen, so zu kommunizieren, dass das nicht alles schwarz oder weiß ist. Das Problem ist, dass Graubereiche nicht leicht zu erklären sind. Und die Menschen schalten bei Differenzierungen und langen Erklärungen ab. Aber es ist Fakt, dass Erwartungen geweckt wurden, die nicht zu halten waren. Das hat viele Menschen sehr frustriert.
Die Frustration hat die latente Impfskepsis in der österreichischen Bevölkerung befeuert. Das Impfthema wurde hochpolitisch – in Österreich, aber auch in vielen anderen Staaten. Wie ist aus Impfgegnerschaft eine politische Richtung geworden?
Man kann sich das am Beispiel der USA anschauen. In den Staaten waren die Republikaner immer wissenschaftsfreundlich. Das hat sich während der Pandemie und unter dem Präsidenten Trump gedreht. Dieses Lagerdenken wurde zu einem Riesenproblem, das man heute schwer wieder wegkriegt. In Österreich sehe ich sehr ähnliche Entwicklungen. Der Transfer der Impfskepsis in politische Lager ist aber kein rein rechtes Problem. Man sieht gleiche Statements auch auf der extrem linken Seite. Vielleicht wird es dort nicht so stark wahrgenommen, aber Impfgegnerschaft gibt es auch dort.
War die Impfpflicht ein Fehler?
Wahrscheinlich.
Sagt dies jetzt der Virologe oder der Staatsbürger?
Aus der Sicht des Virologen ist eine Impfpflicht nie ein Fehler. Aus der Sicht des Staatsbürgers und in Kenntnis, welche Auswirkungen die Impfpflicht auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt hatte, war die Impfpflicht wahrscheinlich falsch.
Können Sie das erklären?
Wenn man Menschen in so einer privaten Angelegenheit zu einem bestimmten Vorgehen zwingt, provoziert der Zwang Opposition. Es wollen weniger mitmachen als vorher.
Gibt es für Sie eine Lehre für die nächste Pandemie?
Es braucht detaillierte Pläne mit verschiedenen Szenarien. Und diese Pläne sollen nicht nur Epidemiologen und Virologen erstellen, sondern Experten aus allen Bereichen der Gesellschaft. Wir müssen die Szenarien aus allen Richtungen beleuchten. In dem Punkt waren wir sicher zu eindimensional unterwegs. Wir müssen fragen: Welche Auswirkungen haben Lockdowns und andere Maßnahmen für die Wirtschaft, wie reagiert die Psyche der Menschen? Was bedeuten Schulschließungen für die Kinder psychologisch, bildungsmäßig, sozial? Es ist klar: Es wird nicht alles konfliktfrei gelöst werden können. Keine der Entscheidungen wird jeden zu 100 Prozent glücklich machen können. Aber die gesellschaftlichen Kosten müssen dem Bedrohungsszenario entsprechen.
Was meinen Sie damit?
Ein Pandemieplan muss vorgeben, wie wir mit den geringsten Verlusten – in jeder Hinsicht – durch die Pandemie kommen. Wenn wir es mit einem Virus zu tun haben, das 70 % der Bevölkerung tötet, wird man nicht groß nachdenken können, ob ein Lockdown gerechtfertigt ist. Aber wenn wir einem Virus begegnen, das relativ mild verläuft und trotzdem hochinfektiös ist, ist der Handlungsspielraum deutlich größer.
Es gibt das Sprichwort – in Abwandlungen –, dass jeder Plan mit dem Beginn der Krise obsolet wird. Wird dies in einer kommenden Pandemie nicht auch so sein?
Wir brauchen erstmal gute Pläne, die kann man dann immer noch modifizieren. Wenn es mal losgeht, dann ist Feuer am Dach und dann ist keine Zeit mehr, detailliert zu planen.
Wo sollten wir noch klüger werden?
Beispiel: Die Schulschließungen waren aus virologischer Sicht richtig. Heute sehen wir, dass es pädagogische, soziale und psychologische Auswirkungen bei den Kindern und Jugendlichen gibt, die wir in einer Gesamtbeurteilung nicht negieren dürfen. Kann ich mich so vorbereiten, dass ein öffentliches Gebäude, eine Schule, eine Luftumwälzung und ein Filtersystem hat, wo es zu einer Minimierung von Infektionen kommt? Das sollte ich heute machen. Vielleicht ist es dann keine Frage mehr, ob ich die Schule zusperre oder nicht.
Sollen Mitarbeiter in Gesundheitsberufen einer Impfpflicht unterliegen?
Ich habe schon gesagt, dass ich die allgemeine Impfpflicht heute für einen Fehler halte. Bei den Gesundheitsberufen sehe ich dies differenzierter. In den USA haben Spitalsangestellte während der Influenzasaison in vielen Fällen die Wahl, sich impfen zu lassen oder während der gesamten Influenza-Saison eine Maske zu tragen. Das sind die zwei Möglichkeiten. Wer sich für zweiteres entscheidet, läuft von November bis April mit einer Maske herum. Ohne Masernimpfung kann man in keinem Labor und keiner Klinik arbeiten. Das wird in den Staaten meist nicht über eine gesetzlich verordnete Impfpflicht gehandhabt, sondern über die Institutionen. Ich glaube, wenn man im Gesundheitswesen arbeitet, dann geht es darum, dass man den Menschen hilft, gesund zu bleiben oder gesund zu werden. Daher halte ich es für wichtig, sich als Mitarbeiter einer Gesundheitseinrichtung impfen zu lassen.