Führung verstehen. Eine Kolumne von ao. Univ.-Prof. Dr. Heinz K. Stahl.
Niemand weiß so recht, was eigentlich mit Vision gemeint ist. Sie ist eines dieser Wieselwörter unserer Zeit. Auf jeden Fall flößt der Begriff Ehrfurcht ein. Vermutlich schwingen hier uralte Traditionen, Hoffnungen und Beschwörungen mit. In der Theologie des Mittelalters z.B. stand die Vision genau über den Begriffen Verstand und Vernunft. Vor noch nicht so langer Zeit wurde die Vision als Wachtraum gesehen, der ein Gefühl der „Sendung“ hervorruft. Pragmatiker wiederum sehen die Vision schon als Pathologie und verordnen den Betroffenen den dringenden Arztbesuch.
Die „präzise Vagheit“ des Begriffs Vision hat einen Vorteil: Es entsteht ein Sprachraum ohne Verbindlichkeit. Man darf seine Vision haben und sie jederzeit wieder ablegen. Ein fruchtloser Einfall war eben doch keine Vision. Damit entfällt der Erfolgszwang, der z.B. eine Strategie oder einen Plan so unbequem macht. Der Nachteil dieser Hintergründigkeit von Vision liegt in der Kluft zwischen Ansprüchen und Wirklichkeit. Erstere werden vor allem durch die Lobpreisungen in der Managementliteratur genährt. Letztere ist der Bodensatz, der im Unternehmensalltag und bei genauerer Betrachtung davon übrigbleibt.
So wird die Vision z.B. mit „einem Schöpfungsvorgang“, mit einer „Leuchtturmfunktion“ und „Lokomotionswirkung“ in Verbindung gebracht. Auf dem harten Boden der Tatsachen geht es nüchterner zu. Der Chef eines Medizintechnik-Unternehmens etwa präsentiert seine Vision so: „Wir wollen unser EBIT jedes Jahr um mindestens zehn Prozent steigern“. Diese Biegsamkeit des Visionsbegriffs ist bequem. Nichts muss sich in der Unternehmensführung ändern. Was mit Vision nach „neuer Richtung“, „Um-Bruch“ oder „zündender Idee“ klingt, kann im bestehenden Denken und Handeln buchstäblich eingefangen werden. Vision wird so als Packpapier für die alten Gedankenlosigkeiten verbraucht.
Zweckmäßiger wäre es, solche Prozesse im Unternehmen zuzulassen, die sich nicht auf ein Entweder-Oder festlegen, sondern intuitives Denken in lineare Ordnung übersetzen. Das Konzept des Management by Manitou ist ein Beispiel dafür. Wenn Indianer zur Beratung eines Problems zusammenkamen (und heute noch zum Teil zusammenkommen), notierte jeder der anwesenden Häuptlinge seine Lösung auf einem Zettel, der weitergereicht wurde, bis jeder jeden Zettel gelesen und neue Lösungen notiert hatte. Zeigte sich nach einigen Runden eine gemeinsame Lösung, wurde sie realisiert, zeigte sie sich nicht, wurde per Zufallsauswahl oder durch Übertragung der Entscheidungskompetenz an einen anderen eine Handlung bestimmt. Die Papstwahl, die Delphi-Methode, Brainstorming und Brainwriting sind ähnliche, unabhängig voneinander entstandene Vorgehensweisen.
Alles in allem betrachtet, gibt es ein Dilemma. Auf der einen Seite braucht das Unternehmen eine Vision, um daraus seine Philosophie, die Politiken und vor allem die Strategie abzuleiten. Auf der anderen Seite ist die Vision zu selten, zu unbestimmt und dem Zufall verhaftet, um sie als Instrument eines planvollen Steuerungsprozesses einsetzen zu können. Das Dilemma verschärft sich in turbulenten Zeiten, wenn Trendbrüche zur Normalität werden, wenn die Grenzen der Unternehmen immer mehr verschwimmen und wenn traditionelle Wertschöpfungsketten aufgebrochen werden, um sie völlig neu zu ordnen.
Was sich stattdessen in der Praxis bewährt hat, ist der leitende Gedanke. Ihm fehlt sowohl das Wolkige der Vision als auch das krampfhafte Wunschdenken eines Leitbildes. Er drückt unbefangen eine Absicht aus. Konkret, in einem Satz und ohne modisches Wortgeklingel. Deswegen muss sehr wohl an ihm gefeilt werden, nicht selten sogar mit der Hilfe eines Linguisten. Selbstverständlich werden in den Formungsprozess des leitenden Gedankens die wichtigsten Anspruchsgruppen, allen voran Kunden und Mitarbeiter, eingebunden. Eben anders als bei der Vision, die üblicherweise nach dem Motto „Vorhang auf“ enthüllt wird. Der leitende Gedanke kann viele Visionen ersetzen, die eigentlich keine sind, sondern lediglich als Feigenblatt oder getarnte operative Ziele dienen sollen.

Autor:
ao. Univ.-Prof. Dr. Heinz K. Stahl
Research Associate, Interdisziplinäres Institut für verhaltenswissenschaftlich orientiertes Management, Wirtschaftsuniversität Wien
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