Seit einigen Jahren machen zunehmend komplexer werdende 3D-Zell- bzw. Gewebekulturen Furore. Ziel wäre natürlich die Züchtung von ganzen Organen als Ersatzmaterial. Das bleibt Zukunft. Die Organoide tragen aber bereits zum Verständnis von Krankheiten bei und können für das Austesten von Therapien verwendet werden, hieß es jetzt beim Europäischen Rheumatologenkongress (EULAR) in Wien.
„Wie man im Labor Organe baut“, lautete bei der Konferenz (12. bis 15. Juni) der Titel einer Präsentationsreihe zu Grundlagenforschung in der Medizin. Rafael Kramann, Leiter der Universitätsklinik für Nieren- und Hochdruckkrankheiten an der Universität Aachen in Deutschland, skizzierte den prinzipiellen Bedarf an „Ersatzorganen“ auf seinem Gebiet: „Im Zeitraum von 2016 bis 2040 werden chronische Nierenerkrankungen vom 16. Platz der häufigsten Todesursachen auf den fünften Rang vorrücken. Mehr als zehn Prozent der Menschen sind betroffen, einer von drei Erwachsenen besitzt ein solches Risiko.“
Bei chronischer Nierenerkrankung kommt es zu einem mehr oder weniger schnellen Abbau der Filterfunktion der Nieren. Am Ende steht das Versagen der Organe, was belastende Dialyse oder eine Organtransplantation bei geeigneten Patienten überlebensnotwendig macht. Hier könnten natürlich immunologisch verträgliche Organe aus dem Labor einen enormen Fortschritt bedeuten. Kramann äußerte sich realistisch: „Die Xenotransplantationen werden wahrscheinlich viel schneller funktionieren. Aber wir arbeiten zumindest an Organoiden der Nieren.“
Organoide sind zumeist einige wenige Millimeter große Strukturen aus verschiedenen Zelltypen, die im Gegensatz zu vergleichsweise simplen Zellkulturen eine dreidimensionale Gestalt annehmen und Organ-ähnliche Eigenschaften annehmen. Gezüchtet werden können sie zum Beispiel aus (induzierten) pluripotenten Stammzellen. Das hängt vor allem von den geeigneten Kulturbedingungen mit bestimmten Wachstumsfaktoren etc. zusammen. Ein Vorteil: Organoide können längerfristig vital erhalten werden. Der deutsche Experte: „Die wissenschaftliche Entwicklung läuft schon seit 1907. 2013 wurden erstmals Organoide der Retina (Netzhaut; Anm.) aus humanen pluripotenten Stammzellen gezüchtet.“ Mittlerweile kann man Nieren-Organoide sogar schon aus Zellen im Harn wachsen lassen.
Herz, Nieren, Lunge, Gehirn, Prostata, Leber, Pankreas – die Liste der Organe, nach deren Muster die Wissenschafterinnen und Wissenschafter zumindest Organ-ähnliche 3D-Zellkulturen geschaffen haben, ist lang und wird immer länger. „Wir züchten sozusagen Mini-Nieren. Sie können noch nicht Blut filtern. Aber sie bestehen bereits aus 17 verschiedenen Zelltypen.“ Die menschliche Niere weist 55 verschiedene Zelltypen aus.
Wenn es auch noch ein weiter Weg bis zu echten Nieren aus dem Labor sein mag, wissenschaftliche Fortschritte, die Patienten nützen können, lassen sich aber auch jetzt schon ableiten. Organoide sind nämlich ein gutes Modell, an dem man die Ursachen und das Entstehen von Krankheiten für das korrespondierende Organ analysieren und klären kann.
So zum Beispiel trägt plötzliche Sauerstoffarmut bei Nieren-Organoiden schnell zum Entstehen von Schäden und Vernarbungen bei. Eine solche Fibrosierung ist das Kennzeichen von chronischen Nierenerkrankungen mit Verlust der Organfunktion. Die Möglichkeit zur Sequenzierung des gesamten Genoms auf Einzelzellbasis ergänzt diese Forschungen. Krankheitsprozesse können auf molekularer Ebene entschlüsselt werden, wie der Wissenschafter darstellte.
Substanz-Screening
Das gilt auch für die polyzystische Nierenerkrankung, eine zumeist vererbte Erkrankung, die bisher nur wenig beeinflussbar war. Im Hintergrund stehen oft Mutationen im PKD1- oder PKD2-Gen. Manche Betroffene sprechen auf eine medikamentöse Therapie an, andere wiederum nicht. An Organoiden von einzelnen Patienten ließe sich klären, ob eine Wirkung zu erwarten ist oder nicht. Das Austesten von möglicherweise wirksamen Medikamenten mittels High-Throughput-Screening, bei dem mit Roboterunterstützung binnen vergleichsweise kurzer Zeit Hunderttausende Wirksubstanzen an Organoiden, welche die jeweilige Krankheit „simulieren“, auf einen möglichen Effekt gescreent werden, ist eines der Ziele dieser Forschungen.
„Organs-on-Chips“ sind ein ähnliches Prinzip, wie am Samstag Olivier Guenat, Professor für Biomedical Engineering an der Universität in Bern erklärte. Die Chips mit 3D-Zellkulturen können unter kontrollierten Bedingungen Gewebe bzw. Organanteile imitieren. Die Schweizer Wissenschafter widmen sich damit dem Studium der verschiedenen Strukturen der Lunge, zum Beispiel den Alveolen (Lungenbläschen) oder den Lungenkapillaren. Zum Beispiel konnten die Wissenschafter klären, was bei einer sogenannten idiopathischen Lungenfibrose (Vernarbung) und unter Verwendung eines dafür oft eingesetzten Arzneimittels für Blutung als gefährliche Nebenwirkung verantwortlich ist.
Organoide sollen auch bei der Erforschung von rheumatischen Erkrankungen helfen, die nach dem Stand des Wissens auf chronisch gewordenen Autimmunreaktionen beruhen. Der Pariser Wissenschafter Loic Meudec (CHU Kremlin-Bicetre) und sein Team haben 3D-Zellkulturen der menschlichen Speicheldrüse geschaffen, um das seltene Sjögren-Syndrom zu erforschen. Es handelt sich um eine Autoimmunerkrankung, die primär die normale Produktion von Speichel und Tränenflüssigkeit verhindert, aber auch sonstige Organschäden anrichten kann und zu einem hohen Risiko für Blutkrebs (Lymphom) führen kann. Als Ausgangsmaterial werden dabei Zellen aus Biopsien bei Betroffenen verwendet. So konnte bereits ein für die Krankheit typisches Muster an Immunbotenstoffen geklärt werden. Die möglichst automatisierte Suche nach potenziell wirksamen Arzneimitteln an Sjögren-Organoiden steht ebenfalls auf dem Programm.
(APA/red.)