Abwägen

Lesedauer beträgt 3 Minuten
Autor: Heinz K. Stahl

Wer führt, nimmt für sich in Anspruch, Entscheider zu sein. Der Wortursprung des Entscheidens ist martialisch: Ich ziehe mein Schwert aus der Scheide, um den Gegner zu zwingen, entweder zu kämpfen oder sich zu ergeben. Auch abseits des Martialischen wiegt die Tätigkeit des Entscheidens immer noch schwer. Sie ist eine Machtressource und verleiht Prestige. Dabei ist das Entscheiden ja „nur“ der entscheidende Schritt über den Rubikon, mit dem das Abwägen der Wahlmöglichkeiten seinen nicht mehr umkehrbaren Schlusspunkt erfährt. Der Erfolg dieses letzten Schritts hängt von der Güte des Abwägens ab. Dazu einige Gedanken.

Ein klassisches Dilemma ist das nicht enden wollende Abwägen zwischen zwei Optionen aus Angst vor der falschen Wahl. Wie in der persischen Geschichte von „Buridans Esel“ oder noch schöner in Dante Alighieris „Göttlicher Komödie“, in der „ein freier Mann, zwischen zwei Speisen, gleich entfernt und lockend“, schließlich verhungert. Wo Zeitdruck und Beschleunigung Teil der Organisationskultur sind, sehen die Menschen oft nicht mehr, was sie eigentlich sehen sollten. Das Abwägen von Optionen wird vorschnell eingestellt, weil der momentane Zustand noch immer attraktiv genug erscheint. Hier schlägt die Gegenwartsorientierung („Wir überschätzen den sofortigen Gewinn auf Kosten zukünftiger Gewinne“) als vermutliche anthropologische Konstante durch. Weit in der Zukunft liegende Erträge werden von uns, bis auf wenige Ausnahmen, übermäßig („hyperbolisch“) abgezinst.

Überhaupt ist dem Glamour des raschen Handelns in der Führung nicht beizukommen. Ein sorgfältiges Abwägen widerspricht dem Bild der zupackenden Führungskraft. Dabei muss nur ein Bruchteil der Entscheidungen tatsächlich sofort erfolgen. Für die Mehrzahl stehen genügend Zeit und Denkzeuge zur Verfügung, um die Handlungsoptionen entlang zweier Gesichtspunkte zu bewerten: Welches Ergebnis ist überhaupt wünschenswert und welches ist am besten realisierbar? Hier kann es nicht schaden, den Verstand einzuschalten, auch wenn sich dieser im Verhältnis zur Komplexität vieler Entscheidungen als begrenzt erweist. Die Methode, den Nutzen einer Option einzuschätzen und diesen mit der subjektiven Wahrscheinlichkeit zu multiplizieren, um so zu einem Erwartungswert zu gelangen, mag zwar trivial klingen, gehört aber zum Abwägen einfach dazu.

Daumen- und Faustregeln sind ein bedenkliches und bedenkenswertes Denkzeug zugleich. Bedenklich, weil sie zwar schnell und energiesparend arbeiten, aber zu Blauäugigkeit verleiten und so in Fehleinschätzungen münden. Man wähnt sich zwar zunächst souverän, ärgert sich danach aber umso mehr. Bedenkenswert sind jedoch solche Heuristiken dann, wenn in komplexen Situationen mit bruchstückhaftem Wissen rasch gehandelt werden muss. Noch dazu, wenn es gelingt, der Intuition freien Lauf zu lassen. Gespeist aus dem Erfahrungsschatz kann sie im Vorbewussten (der Bereich zwischen dem Unbewussten und dem Bewussten) abgerufen werden und so beim Abwägen helfend eingreifen.

Intuition ist vom Bauchgefühl zu unterscheiden. Diese Melange an Empfindungen ist die quirlige Schwester der Intuition, die uns etwas zuflüstert und warnt, anstupst und bremst. Da dieses Gewusel in der Tabuzone Darm beheimatet ist, erscheint es uns als Kontrapunkt zum edlen Verstand. Entscheider werden sich kaum auf ihren Darm berufen, wenn sie wieder einmal etwas Großes auf den Weg gebracht haben. Wie unfair, denn dieses zweite Gehirn mit seinen 100 Millionen Nervenzellen ist dem ersten, dem Kopfhirn mit etwa 100 Billionen Schaltstellen, ein gleichberechtigter Partner. Beide kommunizieren auch innig miteinander. Wenn wir dabei zuhören, können wir beim Abwägen davon profitieren.

Für das Abwägen als Vorstufe des Entscheidens bedeutet dies einiges. Entscheidungen von Tragweite sollten durch methodisches Abwägen vorbereitet werden, etwa mithilfe von Checklisten, Entscheidungsbäumen und dem Einholen anderer Sichtweisen. Bereits während dieses Prozesses wird sich mit Sicherheit der Bauch melden, entweder deutlich oder als diffuses Vorgefühl. Diese ersten Signale des Bauches nimmt man einfach mit Interesse zur Kenntnis. Es gilt zunächst, die angesammelten Informationen sacken zu lassen. Erst danach und vor dem Schritt über den Rubikon wird der Bauch befragt. Er hat sich inzwischen mit dem methodisch angefütterten Kopfhirn ausgetauscht und kann so sein Potenzial an Signalen („Soll ich, soll ich nicht?“, „Jetzt oder später?“ etc.) voll ausschöpfen.

ao. Univ.-Prof. Dr. Heinz K. Stahl
Forschungspartner des Zentrums für systemische Forschung und Beratung, Heidelberg
info@hks-research.at
www.hks-research.at

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