Selbstöffnung

Lesedauer beträgt 2 Minuten
Autor: Heinz K. Stahl

Die Hohe Schule der Führung besteht – nicht nur, aber doch vor allem – in einem Sowohl-als-auch von Nähe und Distanz, und zwar zu den Menschen, für die Führende eine Verantwortung übernommen haben. Distanz ist in unserer Kultur kein Problem; sie scheint im Rollenbild einer Führungskraft verankert zu sein. Mit der Nähe ist es schon schwieriger. Manche Führungskräfte übertreiben sie bis zur Kumpelhaftigkeit und büßen so ihre Führungswirkung ein. Oder sie meiden informale Situationen wie Feste oder Feiern, in denen von ihnen glaubhaft Nähe erwartet wird. Selbstöffnung (self-disclosure) ist etwas, das ihnen so schwerfällt, weil sie es in ihrer Rolle ver lernt oder in ihrer Sozialisation gar nicht erst er lernt haben.

Selbstöffnung meint keinen Seelen-Striptease. Sie drückt vielmehr die Bereitschaft aus, in einer sozialen Begegnung seinem Gegenüber etwas vom eigenen Selbst preiszugeben – und zwar im richtigen Ausmaß, in angemessener Weise und zum passenden Zeitpunkt. Das Problem: Selbstöffnung ist eine riskante Vorleistung. Denn wenn sich das Gegenüber trotz meiner Selbstenthüllung wie eine geschlossene Auster verhält, erlebe ich das Gefühl der Entblößung. Dennoch, Selbstöffnung zeichnet uns Menschen als soziale Wesen aus. Ohne diese Bereitschaft zum Risiko kämen Vertrauen und soziale Beziehungen nie zustande. Person A würde darauf warten, dass Person B den ersten Schritt wagt, und B würde das Gleiche tun. Es entstünde eine Pattsituation, die Soziologie nennt dies „doppelte Kontingenz“.

Selbstöffnung kann verbal oder nonverbal erfolgen. Die verbale Form ist dann wenig riskant, wenn ich an der Oberfläche bleibe und mich zum Beispiel mit Äußerungen über das Wetter oder das TV-Programm begnüge. Sie wird hochriskant, wenn ich hingegen meine religiösen oder politischen Ansichten oder meine Intimsphäre preisgebe. Soziale Situationen abseits vom Arbeitsplatz (das Betriebsfest als klassisches Beispiel), in denen die Hemmschwellen des gewohnten Rollenverhaltens wegfallen, sind besonders heikel. Ganz zu schweigen von der Selbstöffnung in den sozialen Medien, die untilgbare Spuren hinterlässt. Die nonverbale Spielart der Selbstöffnung erfolgt niederschwellig über Symbole wie Körperhaltung, Kleidung, Tattoos oder Schmuck, das Setting von Meet­ings, die Büroausstattung und so fort.

Gegenseitige Selbstöffnung bietet den Beteiligten gleich zu Beginn einer Interaktion die Chance abzuschätzen, inwieweit zwischen ihnen eine Ähnlichkeit der Meinungen und Einstellungen besteht. Ähnlichkeit ist eine Voraussetzung für zwischenmenschliche Anziehung und damit für den Beginn eines sozialen Austauschs. Wird Ähnlichkeit erlebt, kann sie über den Chamäleon-Effekt des Nachahmens zum sozialen Kitt werden. Sprache, Mimik und Gestik werden zwischen den Gesprächspartnern synchronisiert und es entsteht ein Gefühl der Übereinstimmung. Führungskräfte, die ausschließlich über ihre fachlichen Fähigkeiten in eine leitende Position gelangten, tun sich oft schwer mit der Selbstöffnung. Es sei denn, sie verfügen über genügend Extraversion und haben erfahren, wie nutzbringend diese Eigenschaft in vielfältigen, auch scheinbar belanglosen Alltagssituationen sein kann.

Genau in solchen Situationen kann man Selbstöffnung erlernen. Das Üben im kleinen Gespräch („Small Talk“ klingt mir zu abwertend) ist die passende Methode. Die Gelegenheiten dafür sind unerschöpflich. Allerdings, gerade extravertierte Menschen vermasseln diese oft, weil sie nur von sich reden, dabei aber nichts vom anderen erfahren. Für Führungskräfte, die gekonnt zwischen Distanz und Nähe balancieren, ist Selbstöffnung eine Art Lebensphilosophie. Sie gehen dabei unbewusst nach dem Zwiebelschalen-Modell vor. Auf den ersten Schritt einer bedachten Selbstöffnung erwidert ihr Gegenüber diese Vorleistung, worauf sie den nächsten Schritt tun, der den anderen zur Antwort anregt, und so fort. Selbstöffnung verlangt jenes Fingerspitzengefühl, das durch beständiges Starren auf Bildschirme leicht verloren geht. Also, hinaus ins pralle Leben – und üben.

Autor:

ao. Univ.-Prof. Dr. Heinz K. Stahl

Forschungspartner des Zentrums für systemische
Forschung und Beratung, Heidelberg
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