Die Geschichte von Anbese und seiner schweren Skoliose

Lesedauer beträgt 4 Minuten
Autor: Stefan Schenk

Anbese ist 19 Jahre alt und stammt aus Äthiopien. Er lebt dort in einem Waisen­­haus. Er litt an einer schweren Skoliose.

Zunächst kannte ich ja nur ein Photo von seinem Rücken und ein halbes Röntgenbild. Es ist dem Engagement einer gemeinnützigen Organisation und im Besonderen Frau Ulrike Kientzl zu verdanken, dass ihm eine Behandlung in Österreich im Orthopädischen Spital Speising ermöglicht wurde.

Wir haben sorgfältig abgewogen, ob wir in dieser schwierigen sozialen Situation eine Operation anbieten sollen. Das Risiko einer Komplikation schien bei dieser ex­tremen Krümmung hoch. Dann folgte der erste Kontakt. Die Skoliose war eindrucksvoll: 124° Hauptkrümmung und 110° Kyphose (Brust-Buckel).

Ebenso beeindruckt hat mich die Persönlichkeit des jungen Mannes, seine Demut gegenüber der Erkrankung und seine Zuversicht. Eine derart schwere Skoliose verlangt nach einem außergewöhnlichen Konzept. Nur Monate davor hatten aktuelle Berichte in der internationalen Literatur mein Interesse geweckt: Alte Strategien werden mit moderner Technik kombiniert und lieferten solide, komplikationsarme Resultate. Kontaktaufnahme mit Ferran Pellisé in Barcelona, Recherche bei Ralf Stücker in Hamburg waren hilfreich bei der Konstruktion der entsprechenden technischen Hilfsmittel und gaben Sicherheit in der Erstellung des Behandlungsplanes.

Halo-Traktion vor der Operation

Die präoperative Halo-Traktion ist eigentlich eine alte Technik. In den Anfängen der Skoliosechirurgie standen noch nicht so kräftige und raffinierte Verankerungsmöglichkeiten an den Wirbeln zur Verfügung, wie sie aktuelle Schrauben-, Haken-, und Bandsysteme heute bieten können. Daher konnte die korrigierende Kraft während der Operation nicht so unmittelbar eingesetzt werden. Bei der Halo-Traktion nützt man Schwerkraft und Zeit: Der Patient wird an einem Ring (Halo), der am Schädel montiert wird, in die Länge gezogen. Über einen Zeitraum von einigen Wochen wird tagsüber im Rollstuhl oder Gehgestell, nachts im schräggestellten Bett mit steigenden Gewichten eine langsame Verringerung der Krümmung erreicht. Die folgende Operation wird dadurch handwerklich einfacher.

Der zweite große Vorteil ist das deutlich reduzierte Risiko einer Querschnittslähmung während der OP, da sich das Rückenmark langsam an die Streckung gewöhnen kann. Die Kombination der „alten“ Halo-Traktion mit modernen Materialien ermöglicht erstaunliche Ergebnisse. Sie eignet sich für sehr schwere Fälle von Skoliose, insbesondere wenn gleichzeitig eine Kyphose (Buckel) vorliegt.

Die Zeit der Halo-Traktion hat Anbese mit großer Geduld ertragen. In dieser Zeit durfte er sogar die spitalseigene Schule besuchen und erste Deutschkenntnisse erwerben.

Die Streckung hat, ganz wie geplant, die Krümmung deutlich reduziert. Dennoch mussten wir während der folgenden Operation alles aufbieten, was medizinisch, technisch und handwerklich zur Verfügung steht. Ideale anästhesiologische Betreuung, Neuromonitoring und reibungslose Teamarbeit sind Voraussetzung für einen Erfolg.

Ausgangssituation 124° Skoliose, 110° Kyphose

Nach drei Wochen Traktion konnte wie geplant eine Korrektur von ca. 1/3 erreicht werden: Skoliose 80°. Von dem postoperativen Ergebnis waren wir begeistert: Nur 27° Restskoliose und normales Profil von der Seite gesehen, Körpergröße + 14 cm.

Die schwere erste Woche nach der OP hatte Anbese gut überstanden. Nun musste ein weiterer wesentlicher Schritt folgen: Die veränderte Form muss vom Körper angenommen werden und in sein Schema und die Selbstwahrnehmung eingebaut werden. Dies gelingt mit Hilfe der Physiotherapie, setzt jedoch Schweiß und Disziplin des Patienten voraus. Mein Dank gilt dem gesamten Skoliose-Team: Anästhesie, Pflege, Physio- und Ergotherapie bis hin zur Administration. Alle haben ihren Anteil an diesem außergewöhnlichen Ergebnis.

Mittlerweile ist Anbese wieder nach Äthiopien zurückgekehrt. Ich habe Nachricht erhalten, dass es ihm gut geht.

Autor:

Dr. Stefan Schenk
Facharzt für Orthopädie
www.drstefanschenk.at

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