Zweifeln

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Autor: Heinz K. Stahl

Kann denn Zweifeln Sünde sein? Ja unbedingt, da doch die Moderne von dem autonomen, sich selbstverwirklichenden Subjekt so fasziniert ist. Dieses beruft sich auf seine Rationalität und kennt daher keine Zweifel. Und schon gar nicht etwaige Selbstzweifel. Politik und Management sind die beiden auffälligsten Felder, auf denen sich das autonome Subjekt zu beweisen sucht. Beide liefern jedoch laufend Enttäuschungen, die an der Tragfähigkeit der Idee der Zweifellosigkeit zweifeln lassen. Im Management lässt sich dies anhand einer von Steuerungsfantasien befreiten Definition festmachen. Danach ist Management der Versuch, in die Selbstregelung sozialer Systeme zu intervenieren (lat. intervenire = dazwischentreten). Da ein Versuch den Irrtum immer mit einschließt, ist das Zweifeln somit ein fundamentaler Bestandteil des „Managens“. Es gilt daher, Zweifel zuzulassen, zu nutzen, und nicht zu verdrängen oder zu verdammen.

Dies ist alles andere als einfach, denn dem Zweifeln haftet der Geruch des Unbestimmten, der fehlenden Bereitschaft sich festzulegen an. Seit der Antike benutzen wir die Denkbrille des Entweder-oder, mit der es ein Drittes oder Viertes, also ein Dazwischen, das weder das Eine noch das Andere kennt, nicht geben darf. Hinzu kommt, dass die meisten antiken Denker das Ziel des Zweifelns in der Gemütsruhe sahen. Im Lauf der Zeit wurde das Zweifeln immer mehr zu etwas Passivem, das man erleidet und an dessen Ende sogar die Depression droht. Ich plädiere im Zusammenhang mit Management und Führung hingegen für ein aktives, methodisches Zweifeln. Aktiv, weil ich Zweifeln als persönliche Ressource sehe, mit der ich etwas Positives bewirken kann. Und methodisch, weil ich damit nicht immer gleich an Gott und der Welt zweifeln muss, sondern konkret an dem, was mein Denken und Handeln als Führungskraft ausmacht.

Führung ist Beziehungsarbeit. Sich von gewohnheitsmäßigen Urteilsverzerrungen wie etwa der Macht des ersten Eindrucks („Der kommt nicht infrage!“) zu befreien oder Stereotypisierungen („Frauen sind halt so!“) zu entsagen, ist ohne aktives Zweifeln kaum möglich.

Wer führt, ohne zu zweifeln, verfügt über imponierende Gewissheit. Er oder sie „hat immer den Durchblick“, „weiß, wo es lang geht.“ Sich etwa von einem Widerspruch auch auf dessen andere Seite ziehen zu lassen, ist nicht vorgesehen. Schade, denn zwischen den beiden Polen eines Widerspruchs vibriert ein Spannungsfeld, das eine Energiequelle des Führens sein kann. Die scheinbare Unversöhnlichkeit von Gegensatzpaaren wie Planen oder Improvisieren, Straffen oder Lockern, Distanz oder Nähe, Logik oder Intuition kann durch ein Nebeneinander und Nacheinander aufgelöst werden. Dieses Balancieren lebt vom aktiven Zweifeln. Was sich wiederum an eine erfolgsleitende Maxime anlehnt: „Handle stets so, dass die Anzahl deiner Möglichkeiten größer wird.“

Aufgeklärt Führende zweifeln zum Beispiel an vermeintlichen „Best Practices“ und gefeierten Managementmoden ebenso wie an Akronymen der Sorte SMART oder Blähwörtern wie „agil“. Zweifeln ist ein mutiger Schritt, um sich vom Gruppendruck zu befreien, dem viele Führungskräfte lemmingartig unterliegen: Alle sagen das Gleiche, obwohl jeder darunter etwas anderes versteht. Wer als Führender zweifelt, empfindet es auch nicht als Schande, manchmal gar nichts zu tun und die Dinge in Schwebe zu halten, um dann wieder alle Kraft in eine Sache zu stecken. Ein prüfendes und vergleichendes Nachdenken über sich selbst mit der Bereitschaft, sich das Beobachtete auch gegen ein vorgefasstes Selbstbild einzugestehen, gehört ebenfalls zum Repertoire des aktiv Zweifelnden.

Zweifeln ist auch eine Kampfansage gegen zwei Extreme: Das Baden in Gefühlen wie Angst, Wut, Trauer oder Scham als Bestätigung des eigenen Opferstatus; und auf der anderen Seite das Leugnen jedweder Gefühle als Ausdruck eines gelebten Stoizismus. Auch beim Vorbeugen gegen Stress kann Zweifeln hilfreich sein. Manch Dringendes wird rasch als unwichtig enttarnt und aus dem Zeitdruck entsteht plötzlich ein Zeitpolster. Führung ist Beziehungsarbeit. Sich von gewohnheitsmäßigen Urteilsverzerrungen wie etwa der Macht des ersten Eindrucks („Der kommt nicht infrage!“) zu befreien oder Stereotypisierungen („Frauen sind halt so!“) zu entsagen, ist ohne aktives Zweifeln kaum möglich. Dazu gehört nämlich die Bereitschaft, den eigenen Blickwinkel zu strecken, um Platz für Neues zu schaffen. Aus all dem kann sich das entwickeln, was ich die „Suspendierung der Perfektion“ nennen möchte: ein ständiges Lernen in kleinen Schritten mit einer Haltung der Bescheidenheit.

Autor:

AO. UNIV.-PROF. Dr. Heinz K. Stahl
Forschungspartner des Zentrums für systemische
Forschung und Beratung, Heidelberg
info@hks-research.at
www.hks-research.at

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