Strampeln bis die Welle bricht

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Autor: Josef Ruhaltinger

Die Hausärzte Enns sind das zweitälteste Primärversorgungszentrum Österreichs. Gründer Wolfgang Hockl erzählt, wie die vierte Welle seine Gruppenordination unter Wasser setzt und Impfgegner für sehr lange Arbeitstage sorgen.

Mit Schulbeginn kam das Déjà-vu. „Im Sommer hatten wir einen COVID-Fall pro Woche“, erinnert sich Wolfgang Hockl. Der Allgemeinmediziner ist Gründer und Dynamo des Ennser Primärversorgungszentrums (PVZ) „Die Hausärzte“. Mit Schulbeginn änderte sich die Frequenz. Aus den Tropfen wurde ein Rinnsal – „Erst hatten wir jeden zweiten Tag einen Fall, dann jeden Tag, dann 20 in der Woche.“ Ab Mitte Oktober war nicht mehr zu übersehen, „dass die vierte Welle voll über uns hereinbricht“. Die Erfahrungen des letzten Jahres haben ihn lernen lassen, „aber dass es so schlimm wird, habe ich nicht erwartet“. Mit Ende November sind es deutlich mehr Infizierte in seiner Gruppenpraxis als im November vorigen Jahres, „und da hatten wir den Höhepunkt der zweiten Welle“.

Aktuell ist Impfen das beherrschende Thema bei den Ennser „Hausärzten“. Hockl und seine acht KollegInnen (nicht alle arbeiten Vollzeit) verimpfen aktuell zwischen 150-250 Dosen am Tag. Sie bieten Impftermine ohne Anmeldung und schieben am Wochenende sechs Extra-Sprechstunden nur für den ersten, zweiten oder dritten Piks. „Der organisatorische und logistische Aufwand ist extrem“, seufzt Hockl. Mit nahezu jedem Patienten müsse über die Impfung diskutiert werden. „Ich bin Diabetes-Typ eins.“ – „Ab wann kann ich den dritten haben?“ – „Ist die Kreuzimpfung nicht besser?“ Und manchmal ist es nur die Frage: „Den rechten oder den linken Arm?“ Das ist die Geräuschkulisse einer Ordination, in der alles an der Spritze hängt. Und es kommen Impfskeptiker, die dem Druck in den Firmen nachgeben. „Die müssen wir überzeugen. Das gelingt oft“, gibt es für Hockl und sein Team Erfolgserlebnisse. Nur bei den Impfgegnern renne man gegen Mauern, auch wenn sie infiziert sind. Verseucht seien die Geimpften auch, heißt es dann. „Ich versuche positiv zu informieren. Aber Zeitaufwand und Frustration sind groß“, schüttelt Hockl den Kopf. Zuletzt sei eine Patientin in der Rezeption völlig ausgezuckt, als nicht mehr genug Impfdosen vorrätig waren. „Wir werden alle dünnhäutiger“, beobachtet der Arzt. Die Ordination hatte weniger Ampullen geliefert bekommen als angekündigt. Wutschreie und Drohungen seien dann nichts Außergewöhnliches. „Die Kolleginnen an der Rezeption und am Telefon bekommen den vollen Frust der Leute ab“, sorgt sich Hockl, zumal es immer wieder durch familiäre Quarantänen zu Ausfällen und langen Arbeitszeiten komme (alle MitarbeiterInnen sind geimpft). Für ihn selbst sei die Arbeitssituation nicht einmal so dramatisch. „Für uns Ärzte hat sich im Dienst nicht allzu viel geändert. Wir sitzen hinter einem Schutzwall.“ Zuletzt wurde im PVZ Enns eine eigene Infektordination in Betrieb genommen: COVID-verdächtige Patienten betreten über einen eigenen Eingang separate Behandlungsräumlichkeiten, in denen jeweils eine Person des medizinischen Kernteams Dienst hat.

Gunst der Stunde

Als 2015 in Wien Mariahilf von Franz Mayrhofer und – mit kleinem zeitlichen Abstand – Wolfgang Mückstein das erste Primärversorgungszentrum eröffnet wurde, liefen in Oberösterreich die Gespräche zwischen Gebietskrankenkasse und dem Ennser Kassenarzt Wolfgang Hockl auf Hochtouren. Hockl nutzte die Schließung des Ennser Krankenhauses, die Pensionierung einiger Kollegen und das gute Einvernehmen mit den verbleibenden AllgemeinmedizinerInnen in der Stadt, um seine Idee eines Primärversorgungszentrums auf Schiene zu stellen. Denn Enns schien Gefahr zu laufen, ausgeschriebene Kassenstellen nicht mehr besetzen zu können. Außerdem hatte ihn die Idee der „Primary Health Care“ seit Jahren in den Bann gezogen. „In vielen Fällen greift die herkömmliche therapeutische Behandlung zu kurz. In einer Primärversorgung, die diesen Namen verdient, kann ich als Arzt begleitende Maßnahmen setzen, die von den Patienten auch angenommen werden“, so Hockl. Das „fahle Gefühl“, in vielen Fällen nur gegen Symptome zu kämpfen und zu den Ursachen nicht vordringen zu können, gehöre weitgehend der Vergangenheit an. Hockls Urteil nach fünf Jahren PVZ-Praxis: „Der Therapieansatz im Zusammenspiel mit den begleitenden Gesundheits- und Sozialberufen funktioniert.“ So geht der Diabetes-Patient des PVZ Enns nachweislich zur Ernährungsberaterin und der Lehrling mit psychosomatischen Symptomen, der sich aus familiären Gründen krankschreiben lässt und die Lehrstelle aufgeben will, erhält Hilfe bei der Sozialarbeiterin und einer der beiden Psychotherapeutinnen aus dem PVZ. Hockl: „Ich kann den Patienten wesentlich besser helfen als in der Einzelordination.“

Patienten auf Pilgerfahrt

Mittlerweile sind nahezu 60 Monate ins Land gezogen, in denen im PVZ Enns mit jedem Tag gelernt wurde. Mit Jahreswechsel läuft eine fünfjährige Evaluierungsfrist aus. Landesregierung, ÖGK und die Kammervertreter der oberösterreichischen Primärversorgungseinheiten verhandeln über Veränderungen und Verbesserungen im System. Einer der ärztlichen Verhandlungsführer ist – wenig überraschend – Wolfgang Hockl. Die Bilanz der „Hausärzte Enns“ ist nach eigenen Aussagen positiv: „Ich würde das sofort wieder machen.“ Der Erfolg ist sogar überschießend. Das PVZ Enns zieht mit seinen kulanten Öffnungszeiten und dem umfassenden Therapieansatz immer mehr Patienten an. 2019 – dem letzten Jahr ohne Pandemie – hatten rund 12.000 Patienten im PVZ ganze 107.000 Kontakte. Nach Corona-Ausbruch ist der Zustrom nach anfänglichem Zaudern nicht geringer geworden. Dies hat trotz strenger Terminplanung immer wieder zu langen Wartezeiten geführt. Nach einem anfangs offenen Zugang ging das PVZ dazu über, strenge telefonische Terminvereinbarungen einzuführen und Patienten aus den angrenzenden Gemeinden an deren angestammte Hausärzte bzw. Vertretungen zu verweisen. Die Kehrseite der Medaille: Die abgewiesenen Patienten waren verärgert. Das PVZ musste zeitweise in den lokalen Medien herbe Kritik einstecken.

In der Wolle gefärbt.

Wolfgang Hockl ist Hausarzt mit Leib und Seele. Er ortet den Hauptvorteil des PVE in der „Betreuung aus einem Guss“: von der Diagnose bis zur Langzeittherapie.

Kalkulierbares Berufsleben

Der Eintritt eines Arztes oder einer Ärztin in ein Primärversorgungszentrum ist eng verbunden mit dem Argument, jetzt auch so etwas wie eine „Work Life Balance“ entwickeln zu können. Wolfgang Hockl lächelt milde: „Ich arbeite auch heute noch 60 bis 70 Stunden in der Woche.“ Aber – und dies findet er entscheidend – wenn gewünscht, geht es auch anders: „Wenn ich vorhabe, an einem Tag um 17 Uhr die Ordination zu verlassen, so kann ich das. Es ist jetzt alles planbarer.“ Wer beispielsweise aus familiären Gründen nur eine halbe Arztstelle einnehmen möchte, ist in einem Primärversorgungszentrum genau richtig – und auch willkommen. In Enns funktioniere dies hervorragend.

Der X-Faktor

Wie in jedem Unternehmen mit mehreren MitarbeiterInnen ist die menschliche Befindlichkeit ein nicht zu vernachlässigender Faktor. Im PVZ Enns arbeiten in Summe nahezu 50 Menschen – ein Quantensprung im Vergleich zu Einzelpraxen. Wolfgang Hockl rät daher jedem PVZ-Gesellschafter, präzise Stellenbeschreibungen zu verfassen, auch wenn dies zum Start lästig sei. Aber viele der nichtärztlichen MitarbeiterInnen kämen aus dem klinischen Bereich und sind von dort streng hierarchische Gepflogenheiten gewohnt. Da sei die Bitte, ausnahmsweise auch „nicht standesgemäße“ Arbeiten zu übernehmen, schon einmal zum Problem geworden. Eine allgemeinmedizinische Groß­ordination brauche da mehr Flexibilität: „Man muss genau aufpassen, dass die Charaktere des Teams zueinanderpassen.“    //

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