So wird die Kontaktlinse zum Medizinprodukt

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Autor: Peter Martens

Für Hersteller und Händler von Medizinprodukten liest sich die neue Medizinprodukte­-Verordnung wie eine Aneinanderreihung von Grauslichkeiten. Sicher ist nur: Der Aufwand für Technische Dokumentation, klinische Bewertung und UDI­-Kennzeichnung definiert Schmerzgrenzen neu.

Antigen­-Schnelltests, Herzschrittmacher, Implantate oder Linearbeschleuniger in der Krebsbehandlung: Wer Medizinprodukte in Verkehr bringt, unterliegt strengen Regeln. Und seit Ende Mai sind diese Regeln für Hersteller, Importeure und Händler deutlich verschärft worden. Die Vorgaben für Medizinprodukte sind nun genauso streng wie jene für Arzneimittel. Die beiden EU­-Verordnungen über Medizinprodukte (MDR) und über In­vitro­-Diagnostika (IVDR) sollen den jüngsten technischen Entwicklungen im Bereich der Medizinprodukte Rechnung tragen. Und sie sind Reaktionen auf aufsehenerregende Malversationen der Vergangenheit. 2010 gaben französische Behörden bekannt, bei einer Inspektion der Firma Poly Implant Prothèse (PIP) Brustimplantate gefunden zu haben, die mit billigem Industriesilikon befüllt waren. Das ursprünglich vorgesehene und spezifizierte Silikongel war deutlich teurer. In ganz Europa mussten tausende Frauen noch einmal auf den Operationstisch.

Mehr Transparenz – höherer Dokumentationsaufwand

Als unmittelbare Konsequenz des PIP­-Skandals kam es europaweit zu unangekündigten Audits bei den Herstellern und Joint­ Audits bei den als Benannte Stellen bezeichneten Prüfstellen. Die Folgen waren dramatisch: Die Überprüfungen führten in ganz Europa zur Halbierung der Benannten Stellen. Auch in Österreich kam es zu Schließungen.

Die Europäische Kommission nahm den Vorfall zum Anlass, an der Langzeitperspektive zu schrauben: Die Sicherheit und Rückverfolgbarkeit von Medizinprodukten sollte deutlich aufwendiger dokumentiert werden. Patientinnen und Patienten sollen Medizinprodukten nachvollziehbar vertrauen können. 2012 startete auf europäischer Ebene eine grundlegende Überarbeitung der Medizinprodukte­-Regulierung, die 2017 beschlossen wurde und heuer – nach einem Corona­bedingten einjährigen Aufschub – in Kraft getreten ist.

Neuordnung mit Anlauf

Das frühere österreichische Medizinproduktegesetz war seit 1996 in Kraft. 2017 haben auf EU­-Ebene die MDR (Medical Device Regulation) für Medizinprodukte und IVDR (In­vitro Diagnostics Regulation, Übergangsfrist endet 2022) für In­-Vitro­ Diagnostika die älteren Richtlinien ersetzt. Die MDR gilt in allen Mitgliedstaaten direkt. Ein nationaler Gesetzgebungsprozess ist nicht vorgesehen, allerdings lässt die Verordnung den EU-­Mitgliedern einen gewissen Spielraum. Österreichs Gesetzgeber hat das heimische Medizinproduktegesetz angepasst und Ende Juni mit den Stimmen der ÖVP, SPÖ und der Grünen im Nationalrat beschlossen. „Wir sind jetzt in einer Übergangszeit. Im österreichischen Medizinproduktegesetz sind einige Punkte offen, die in nächster Zeit durch ergänzende Verordnungen definiert werden müssen“, erklärt Johann Dori, Experte der TÜV Austria Services, eine von mehreren akkreditierten Prüfstellen für Medizinprodukte in Österreich. So gäbe es noch Klärungsbedarf bei In­house-­Produktionen oder der wiederkehrenden Aufbereitung von Einmalprodukten. Wann diese Verordnungen kommen, sei offen. „Bis dahin muss man noch auf die alten Verordnungen zurückgreifen“, so Dori dazu.

Eine Sondersituation gibt es bei In-­Vitro­-Diagnostika: Hier läuft die Übergangsfrist erst im Mai 2022 ab, wenn die entsprechende europäische Verordnung IVDR in Kraft tritt. Bis dahin gelten in Österreich für In-­Vitro­-Diagnostika weiterhin die entsprechenden Teile des alten Medizinproduktegesetzes von 1996.

Deutlich erweiterter Geltungsbereich

Die MDR hat einen deutlich größeren Anwendungsbereich als die bisherige Gesetzeslage. Sie umfasst ausdrücklich alle Produkte zur Reinigung, Sterilisation oder Desinfektion anderer Medizinprodukte und wiederaufbereitete Einmal­-Medizinprodukte. Völlig neu ist, dass das MDR auch für Produkte gilt, die keinen spezifisch medizinischen Zweck erfüllen. So sind farbige Kontaktlinsen seit Mai Medizinprodukte, deren Inverkehrbringung – so bezeichnen Qualitätsmanager in eigener Sprache die Herstellung und den Verkauf von Produkten – dem MDR und dessen Transparenzerfordernissen unterliegen. Auch die Erfahrungen mit Metall-­auf­-Metall­-Hüftprothesen und mangelhaften Silikonbrustimplantaten wurden bei der Ausarbeitung der neuen Vorschriften berücksichtigt. Zudem erwarten Brüssler Experten, dass auch Geräte zur Vorhersage und Prognose des Krankheitsrisikos unter den Geltungsbereich der Verordnung fallen werden. Die Entwicklung medizinischer Software unterliegt ebenfalls besonderen MDR­-Bestimmungen. Detaillierte Sicherheits-­ und Leistungsanforderungen werden vorgegeben. Und wichtig: Das Produkt muss auf einer klinischen Bewertung beruhen – eine im IT-­Umfeld völlig neue Vorgangsweise.

Qualitätsmanagement­-Systeme waren in der Vergangenheit für Medizinprodukte-­Hersteller nicht zwingend erforderlich. Nun sind sie integraler Bestandteil des Medizinprodukterechtes. Für Hersteller schreibt Brüssel seit Mai eine „Technische Dokumentation“ vor, deren Gliederung vorgegeben ist und die leicht durchsuchbar sein muss. Dazu gehören jetzt unter anderem klinische Bewertungen und Sicherheitsberichte. Unterm Strich müssen Hersteller in Zukunft gegenüber Behörden mehr berichten und auch die Leistungsfähigkeit und Wirksamkeit ihrer Produkte detaillierter nachweisen. Auch bei einem Zertifizierungsverfahren wird diese „Technische Dokumentation“ eingehend geprüft.

Risikomanagement, Kennzeichnung, Produktbeschreibung, Verifizierung und Validierung werden erheblich umfangreicher: Hier stecke viel Arbeit dahinter, befürchtet der TÜV Austria. Bei den Audits habe besonders das erste Audit einen erheblichen Umfang, und der Weg zur CE-­Kennzeichnung dauere länger als früher.

Herzstück klinische Bewertung

Neben der Technischen Dokumentation stellt die Notwendigkeit einer klinischen Bewertung ein weiteres Herzstück der MDR dar. Die neue Richtlinie verpflichtet Hersteller von Medizinprodukten, für alle ihre Produkte – unabhängig von der Risikoklasse – eine klinische Bewertung durchzuführen. Dabei ist auch eine klinische Nachbeobachtung nach dem Inverkehrbringen (sog. Post Market Clinical Follow­up, PMCF) durchzuführen. Hersteller müssen dazu einen Prozess aufsetzen, der die kontinuierliche Generierung, Sammlung, Analyse und Bewertung der klinischen Daten ermöglicht. Dadurch muss nachgewiesen werden, dass das Medizinprodukt bei bestimmungsgemäßem Gebrauch die grundlegenden Sicherheits-­ und Leistungsanforderungen erfüllt, unerwünschte Nebenwirkungen ausschließt und die Vertretbarkeit des Nutzen­-Risiko­-Verhältnisses gegeben ist.

Die Kommission hat ein genaues Verfahren für die klinische Bewertung vorgeschrieben. Die Guideline (MEDDEV 2.7/1 rev. 4) beschreibt genau, wie die klinische Bewertung eines Medizinproduktes erarbeitet werden muss. Ein Verzicht auf klinische Daten ist nur für absolut unkritische Produkte (z.B. Schrauben, Keile, Platten und Instrumente) möglich und muss vom Hersteller – ganz im peniblen Sinne der MDR – entsprechend begründet sein.

UDI – ein echtes Alleinstellungsmerkmal

Die MDR führt umfassend ein System zur Identifizierung und Rückverfolgung von Produkten ein. Daher müssen Medizinproduktehersteller eine Produktkennung, die Unique Device Identification (UDI) beantragen und am Produkt anbringen. Das ist mitunter fordernd: So zählen chirurgische Instrumente zu den wiederverwendbaren Medizinprodukten. Sie fallen unter die MDR, benötigen eine UDI­-Kennzeichnung, aber Etiketten kommen naturgemäß nicht infrage. Der UDI­-Code muss aber unmittelbar auf der Produktoberfläche aufgebracht werden. Da medizinische Instrumente und Besteck sowie Implantate in der Regel aus Titan oder Edelstahl und letztere manchmal auch aus Kunststoff sind, kommen hierfür in erster Linie Laser infrage – ein anspruchsvolles Verfahren.

Dabei gibt es einiges an Zeichen einzubrennen: Die UDI ist eine Abfolge an Attributen, die eine eindeutige Identifizierung einzelner Produkte auf dem Markt ermöglicht. Die Produkte werden so rückverfolgbar. Der Hersteller gruppiert sein Produktportfolio nach Zweckbestimmung, Risikoklasse und grundlegenden Konstruktions-­ und Fertigungsmerkmalen. Diese Informationen sind Grundlage für die Zuteilung der UDI­-Codes durch eine Zuteilungsstelle. Gespeichert werden die UDI­-Daten in der sogenannten EUDAMED-­Datenbank, die öffentlich zugänglich sein soll. Die ersten Module der EU­-Datenbank sind seit Dezember 2020 online, allerdings klagen Branchenvertreter über massive Ausfälle der Datenbank, die eigentlich als „digitales Rückgrat der Verordnung“ fungieren sollte.

Die MDR­-Regularien betreffen auch die Eigenherstellung von Medizinprodukten in Gesundheitseinrichtungen. Die Technische Dokumentation wird auch dabei zur Bedingung. Laut MDR dürfen Medizinprodukte von Krankenhäusern nur selbst hergestellt werden, sofern dies nicht im industriellen Maßstab geschieht und das Produkt am Markt nicht verfügbar ist. Es liegt in der Verantwortung der Gesundheitseinrichtung, nachvollziehbar zu dokumentieren, ob und warum das benötigte Produkt nicht anderweitig besorgt werden kann.

Vor dem Sturm. TÜV-Austria-Experte Johann Dori erwartet eine extreme Nachfrage nach  Prüfzertifikaten gemäß der neuen MDR. Zuwarten sei für Unternehmen eher die falsche Vorgangsweise.

Engpässe bei Benannten Stellen

Bis Mai 2024 ist die Neuzertifizierung aller Medizinprodukte nach MDR notwendig. Das übernehmen in der Europäischen Union sogenannte Benannte Stellen. Das große Problem: Europaweit gibt es laut Johann Dori nur 20 notifizierte Benannte Stellen für Medizinprodukte. Die Zertifizierung von Produkten für In­ -Vitro-­Diagnostika können europaweit sogar nur vier Benannte Stellen übernehmen. Dabei ist der Bedarf groß: Nach Angaben des deutschen Bundesverbands Medizintechnologie (BV-Med) müssen bis 2024 rund 20.000 Zertifikate in die Medical Device Regulation überführt werden. Aktuell seien erst rund 180 Zertifikate ausgestellt worden, etwa 1800 seien beantragt. Es gebe bei der Anzahl der Benannten Stellen Verzögerungen, aber es sei noch zu früh, jetzt schon über eine Verlängerung der Übergangsfrist im Mai 2024 zu entscheiden, hieß es auf der ersten MDR-Branchenkonferenz der BV-Med-­Akademie im Mai des Jahres. Experten erwarten daher, dass auf die Branche massive Engpässe zukommen. „Der Mai 2024 wird eine große Herausforderung“, befürchtete Michael Pölzleitner beim heurigen Medizinproduktetag des TÜV Austria im Juni. Pölzleitner arbeitet bei der in Stuttgart ansässigen Benannten Stelle Medical Device Certification (MDC), die auch eine Zweigniederlassung in Wien betreibt. Seine Empfehlung an Hersteller: Die Anträge rasch einreichen und dabei den Aufwand bei der Zeit und den Ressourcen nicht unterschätzen. „Die mittlere Dauer von der Antragstellung bis zum Zertifikat beträgt zwölf Monate“, so Pölzleitner.

Die Komplexität der Anträge und die fehlenden Kapazitäten der Prüfstellen werden die Hersteller europaweit vor große Hürden stellen. Der deutsche Fachverband BV-Med befürchtet, dass es viele Medizinprodukte nicht rechtzeitig in die MDR schaffen werden. Gleichzeitig dürften die Kosten für eine Zulassung stark steigen. Auch Johann Dori vom TÜV Austria betont: „Die Benannten Stellen könnten europaweit ein Flaschenhals werden. Auf sie kommt sehr viel Arbeit zu, während es gerade für diese Aufgabe nur sehr wenige Fachkräfte gibt.“

Bereits gekaufte Produkte bleiben einsetzbar

Bei Fragen rund um den Einkauf von Medizinprodukten sei die Unsicherheit der Branche aktuell am größten, erklärt Johann Dori. „Alle Produkte, die Betreiber schon gekauft haben und im Haus haben, können sie weiterhin verwenden, da ändert sich nichts.“ Auch Produkte, die bereits am Markt sind und bis 2024 in Verkehr gebracht werden, dürfen weiterhin verwendet werden. Für sie läuft im Mai 2024 die Übergangsfrist ab, danach gilt noch eine Abverkaufsfrist bis Mai 2025. Danach müssen Hersteller alle Produkte gemäß europäischen Verordnungen produzieren und das in einer „Konsumitätserklärung“ dokumentieren.

Während dieser Fristen können Betreiber neue Produkte sowohl nach den alten EU­-Richtlinien als auch nach der neuen Verordnung ausschreiben und kaufen. „Man muss aber darauf aufpassen, dass auch das Zubehör für die Produkte ebenso zugelassen ist. Betreiber haben mit Händlern und Herstellern zu klären, ob zugelassenes Zubehör auch in drei oder vier Jahren geliefert werden kann. Das ist bei den günstigeren Produkten im Abverkauf ein wichtiges Thema“, mahnt TÜV­-Experte Dori. Der menschliche Körper soll nie wieder subkutan mit Industriesilikon in Berührung kommen.

MEDIZINPRODUKTE-BRANCHE IN ZAHLEN

Laut Austromed, der Interessenvertretung der Medizinprodukteunternehmen Österreichs, gibt es aktuell rund 500.000 Medizinprodukte am österreichischen Markt. Laut Verbandsstudie erzielte die Branche im Jahr 2019 9,1 Milliarden Euro an Umsatz. Indirekt – also inklusive Vorleistung, Konsum und Investitionen – lagen die volkswirtschaftlichen Effekte bei 16,7 Milliarden Euro. Darüber hinaus beschäftigt die Branche nach eigenen Angaben (direkt und indirekt) etwa 56.000 Arbeitsplätze.

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