So will Wien wieder Medizingeschichte schreiben

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Autor: Nicole Thurn

Wien erhält ein brandneues Forschungszentrum für Medizin. Das dreiteilige Projekt will Forscher und Forscherinnen aus aller Welt in die Bundehauptstadt locken. Wien hatte schon lange keinen Nobelpreisträger für Medizin.

Weltgeschichte gibt es in Wien in Überfülle. Auch im Bereich der Medizin. Die einstige Kaiserstadt galt lange als Wissenschaftszentrum, in dem Medizingeschichte geschrieben wurde. Ignaz Semmelweis entwickelte in den 1840er-Jahren am Wiener Allgemeinen Krankenhaus die Theorie der Handhygiene, 1886 hielt Sigmund Freud seinen ersten Vortrag über die „Männliche Hysterie“ vor der „Gesellschaft der Ärzte Wiens“, Karl Landsteiner publizierte seine Forschungen zu Blutgruppen in der „Wiener Klinischen Wochenschrift“. Die herausragende Stellung der Wiener Medizin führte dazu, dass sich bis 1938 rund 11.700 US-Ärzte in Wien aus- und weiterbilden ließen (siehe www.billrothhaus.at). Die Strahlkraft der medizinischen Forschung in Wien war bis in die Zwischenkriegszeit hell leuchtend. Und dann kamen die braunen Horden – und mit ihnen die Finsternis. Seither finden die wichtigen Forschungen in der Medizin anderswo statt.

Geht es nach den Entscheidungsträgern Wiens und der Republik, soll sich dies ändern. Die Bundeshauptstadt will wieder internationale Gesundheitsmetropole werden. So steht es in der „Wirtschafts- und Innovationsstrategie 2030“, die unter der Federführung der Stadt Wien vom Vienna Economic Council erarbeitet wurde. Im VEC sind so gut wie alle wichtigen Interessenvertreter der Wirtschafts- und Forschungscommunity vertreten. Eines der zentralen medizinischen Innovationsprojekte ersteht ab kommendem Jahr im neunten Bezirk. Zwischen AKH Wien und dem dann neuen MedUniCampus Mariannengasse wird ein modernes Forschungszentrum in drei aneinander angrenzenden Gebäuden geschaffen, das einen wesentlichen Beitrag zu Wiens Auferstehung als global anerkannte Medizinhauptstadt liefern soll. Das Forschungszentrum für Translationale Medizin und Therapien (Center for Translational Medicine Therapeutics, CTMT ) wird dabei als erstes Teilprojekt in Angriff genommen, das Zentrum für Präzisionsmedizin (CPM) und das Zentrum für Technologietransfer (TTC) werden folgen. Die Planung des Forschungszentrums liegt nach einem Wettbewerb bei der Gruppe Moser Architects und Igenos. Die drei Zentren befinden sich in unterschiedlichen Phasen der Realisierung, das endgültige Baukonzept ist noch nicht fixiert.

Die Gebäude sind als aneinandergereihtes Ensemble, aber auch als Solitäre möglich – was auch von der Finanzierung abhängt. Derzeit sind die Budgets noch nicht in trockenen Tüchern. „Für das Zentrum für Technologietransfer sind wir noch auf der Suche nach einer Finanzierung“, klagt die Vizerektorin für Forschung und Innovation an der MedUni Wien, Michaela Fritz. Bund und Stadt Wien haben innerhalb eines Rahmenbauvertrages rund 130 Millionen Euro für neue Forschungszentren gewidmet.

Vom Labor zum Patientenbett und zurück

Der Bau des neuen Forschungszentrums für Translationale Medizin und Therapien befindet sich derzeit in der behördlichen Genehmigungsphase, der Baustart soll im ersten Quartal 2022 erfolgen. Das Forschungszentrum soll im Jahr 2025 in Betrieb gehen und vor allem bei kardiovaskulären, immunologischen und Krebserkrankungen neue Erkenntnisse und Therapieansätze liefern. Auf ca 14.000 Quadratmetern Nutzfläche soll hier für rund 350 Mitarbeiter die Drehscheibe für mehrere Grundlagenwissenschaften und Universitätskliniken von MedUni und AKH Wien entstehen. Das Motto lautet demnach: „from bench to bedside and back“, also vom Labor zum Krankenbett und wieder zurück. Damit will man einen nahtlosen Übergang von experimentellen Laboruntersuchungen über die Forschung im Bereich der Klinischen Phase I/II mit Probanden bis hin zur Anwendung und medizinischen Versorgung der Patienten schaffen. „Die unmittelbare Nähe des neuen Forschungszentrums zur PatientInnenversorgung im AKH Wien ermöglicht es, dass die Grundlagenforschung möglichst schnell bei den Patienten und Patientinnen ankommt“, so Herwig Wetzlinger, Direktor des Universitätsklinikums AKH Wien. Umgekehrt würden auch das Wissen und die Erfahrungen der Klinik wieder ins Zentrum zurückfließen und die Erforschung und Entwicklung von neuen Diagnostika und Therapien verbessern. Die Grundlagenforschung soll sich mit den Pathomechanismen diverser Erkrankungen beschäftigen – neue Methoden der Datenanalytik und Bioinformatik werden zum Einsatz kommen. Damit will man Diagnostik- und Therapieansätze verbessern. Ein Schwerpunkt soll auf zellbasierten und biologischen Therapieformen liegen, daher wird es im Gebäude auch ein Tierhaus mit Labortieren und einer keimfreien Einheit geben. Dort werden die neu entwickelten Pharmazeutika – etwa Radiopharmazeutika, Vakzine oder für die Zelltherapie – auf Wirksamkeit und Toxikologie hin getestet. Die hochmoderne Ausstattung ist flexibel geplant: „Wir möchten Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Forschungsbereichen intensivieren. Interdisziplinäre Teams werden gemeinsam sich die flexiblen Forschungslaboratorien daher teilen“, so die Vizerektorin Fritz. Auch das Gebäude selbst soll die Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichsten Disziplinen fördern. In offenen Begegnungszonen soll den Forschern die Möglichkeit geboten werden, einander informell kennenzulernen und sich auszutauschen.

Zwei Ebenen des Zentrums werden über den Haupteingang öffentlich zugänglich sein, mit einem Konferenzbereich, Hörsaal und Seminarräumen, einer offenen Galerie mit Arbeits- und Bi­bliotheksräumen und einer Cafeteria. „Damit wollen wir die Nähe zu den Patienten und Besuchern herstellen und uns öffnen, aber auch mit Ausstellungen und Events den Austausch zu verschiedensten Themen fördern“, kündigt Vizerektorin Fritz an.

Präzisionsmedizin: Früherkennung via Genom

100 Menschen täglich erhalten die Diagnose Krebs, 1000 Menschen pro Jahr erkranken an Leukämie. Mit personalisierter Präzisionsmedizin, welche die individuelle, genetische Disposition und das Erbgut der Patienten als Ausgangspunkt nimmt, könnten solche Krankheiten deutlich früher erkannt oder gar vermieden werden. Das Zentrum für Präzisionsmedizin (Center for Precision Medicine; CPT) wird sich dieser Thematik widmen und auf 10.000 Quadratmetern Fläche seinen Fokus auf biomedizinische Forschung, Genom-Technologie mit Genom-Sequenzierung und molekularer Bildgebung, Bioinformatik und IT und auf klinische Studien legen.

Die Ursachen für Erkrankungen können so auf molekularer Ebene identifiziert und behandelt werden und die Heilungschancen massiv steigen. Die Finanzierung des Zentrums ist mit 75 Millionen Euro durch Mittel des European Resilience and Recovery Facility, Drittmittel und private Förderer gesichert. Im Jahr 2026 soll das neue Zentrum in Betrieb gehen.

Forscher aus aller Welt

Bis zu 400 Forscher sollen im neuen Zentrum Platz finden – etliche davon aus der MedUni Wien. Alle drei Zentren sollen aber Forscher und Biomediziner aus aller Welt anziehen: „Wir platzen schon am derzeitigen Zentrum für Präzisionsmedizin aus allen Nähten und sind überzeugt, dass das moderne Gebäude, die Nähe zu den anderen Zentren und die moderne Infrastruktur auch internationales Forschungspersonal anziehen wird“, ist Michaela Fritz überzeugt. „Der Personalmangel ist ein seit Jahren währendes Problem. – Natürlich wollen auch wir die besten Köpfe in Forschung und Lehre. Mit einer höheren Attraktivität des Standorts Wien kommen auch internationale Studierende und Forschende zu uns“, sagt sie. Recruiting-Maßnahmen sind derzeit noch nicht für die neuen Zentren geplant. Mit neuen Professuren will die MedUni gezielt internationale Forscher nach Wien holen: „Wir haben neue Professuren in den Bereichen Digitale, Personalisierte und Molekulare Medizin geplant“, sagt Michaela Fritz. Auch Professuren in Computing and Machine Learning und in Computational Medicine werden ausgeschrieben.

Technologietransfer über Start-ups

Noch ungewiss ist die Realisierung des Zentrums für Technologietransfer (Center for Technology Transfer, CTT), da bisher Finanzierungen fehlen. Das Zentrum soll ein innovatives Ökosystem schaffen, Health-Tech-Start-ups beherbergen und mit ihrer Hilfe die Innovationsfähigkeit auf dem Medizinsektor und in den Life Sciences vorantreiben. Im Umfeld der MedUni agierende Spin-offs und Kooperationspartner können sich in unmittelbarer AKH-Nähe zentrieren und so einerseits die medizinische Forschung und Entwicklung befruchten, andererseits aber auch Zugang zu Forschungsergebnissen erhalten. Vizerektorin Michaela Fritz scheint zuversichtlich: „Wir hoffen auch auf Investoren aus der Privatwirtschaft.“  

„Wien braucht internationale Institutionen.“

Herr Biach, laut Ihrem Bericht zur Gesundheitsmetropole Wien bringt die Gesundheitswirtschaft Wiens mit rund 27 Mrd. Euro nahezu ein Drittel der regionalen Volkswirtschaftsleistung und bietet 236.000 Menschen einen Job. Wie können diese Werte gesteigert werden?

Alexander Biach: Die Zahlen zeigen: Gesundheit ist nicht nur für den Einzelnen ein hohes Gut, sondern auch für die Volkswirtschaft. Eine Wifo-Studie der Stadt Wien hat erhoben, wo Wien international Wirtschaftszuwächse lukrieren könnte – und hier hob sich der Gesundheitsbereich deutlich hervor. Durch den Wiener Gesundheitssektor werden beachtliche 19 Milliarden Euro jährlich an Wertschöpfung erwirtschaftet. Das beinhaltet die Gehälter der Menschen im und rund um den Gesundheitsbereich, aber auch Gewinne für Unternehmen. Der Gesundheitsbereich gehört als wichtiger Faktor für die Volkswirtschaft weiter gestärkt. Und dazu kommt: Wir hatten schon lange keinen Medizin-Nobelpreis.

In welchen Bereichen gibt es Optimierungspotenzial?

Biach: Wir haben in der Ansiedelung internationaler Institutionen Nachholbedarf. Solche Institutionen ziehen gutes internationales Personal an. Kürzlich gab es die Entscheidung der EU, das Forschungs- und Industrienetzwerk European Institute of Technology (EIT) für den Bereich Health nach Wien zu schicken. Ein schöner Erfolg, wie ich finde. Wir arbeiten zudem schon länger daran, dass eine Zertifizierungsstelle für In-vitro-Diagnostikprodukte in Wien etabliert wird. Davon gibt es in Europa nicht viele. Dann wäre es sehr interessant für Unternehmen aus der Medizintechnik , sich hier anzusiedeln. Das Sahnehäubchen wäre die Ansiedelung der HERA, die Pandemie-Notfallbehörde der EU.

Erwarten Sie sich vom EIT einen Pull-Effekt für internationales Forschungspersonal?

Biach: Ja, mit dem EIT wird Forschung unterstützt und auch Betriebe bekommen die Chance, Forschungsergebnisse in Produktion zu schicken.

Welches Wiener Projekt im Gesundheitsbereich sticht aus Ihrer Sicht besonders hervor?

Biach: Ein besonderes Highlight wird das Zentrum für Präzisionsmedizin am AKH sein. Wir erwarten, damit viele Forscher nach Wien zu bekommen. Auch die Zentren für Translationale Medizin und für Technologietransfer könnten Wien zu einer internationalen Gesundheitsmetropole machen.

Für das Zentrum für Technologietransfer, das Start-ups versammeln soll, steht noch keine Finanzierung fest. Wo sehen Sie hier Wege?

Biach: Man könnte bei der Wirtschaft im Rahmen einer Public-Private-Partnership ansetzen. Auch hinter den Start-ups stehen mitunter Corporates, die ein Interesse daran haben, dass die Start-ups rasch ihre Maßnahmen umsetzen können.