Etappensieg im Kampf gegen Klinikkeime

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Autor: Michael Krassnitzer

Ein innovativer Wirkstoff verspricht Hilfe gegen die wachsende Bedrohung durch multiresistente Bakterien. Das neuartige Antibiotikum ist Resultat eines breit angelegten Forschungsprogramms in der Schweiz.

Als „Stille Pandemie“ bezeichnet die Weltgesundheitsorganisation WHO die kontinuierlich wachsende Zahl von Infektionen mit antibiotikaresistenten Bakterien. Antibiotika galten lange Zeit als Wunderwaffe gegen bakterielle Infektionen. Mittlerweile jedoch sind viele Erreger resistent gegen die Wirkstoffe geworden. Zugleich sind in den letzten Jahrzehnten kaum noch neue antibiotische Medikamente auf den Markt gekommen. Um den Vormarsch antibiotikaresistenter Keime aufzuhalten, braucht es daher dringend neue Wirkstoffe. Ein internationales Forschungsteam unter Beteiligung der Universität Basel hat nun mittels Computeranalyse ein neues Antibiotikum entdeckt und sein Wirkprinzip experimentell entschlüsselt.

Dynobactin tötet sogenannte Gram-negative Bakterien, zu denen viele gefährliche und resistente Keime gehören. Wie ein Korken blockiert die Substanz ein bakterielles Membranprotein, das beim Aufbau und der Erneuerung der äußeren Schutzhülle der Keime eine essenzielle Rolle spielt. In ihrer Studie konnten die Forscher zeigen, dass dieses Antibiotikum äußerst wirksam ist: Mäuse mit einer lebensgefährlichen Blutvergiftung durch resistente Bakterien überstanden die schwere Infektion durch die Gabe von Dynobactin.

Wachsende Gefahr. 2050 werden
antibiotikaresistente Bakterien mehr
Menschen töten als der Krebs. Dennoch ist seit Jahrzehnten kein verbessertes Antibiotikum auf den Markt gekommen.

Gesucht: Der passende Gencluster

Entdeckt wurde das Antibiotikum im Rahmen eines computerbasierten Screenings. Viele Bakterien produzieren Antibiotika, um andere Bakterien zu bekämpfen. Die antibiotisch wirkenden Peptide sind im Erbgut der Bakterien codiert und werden in einem Gencluster in ihrem Inneren hergestellt. „Man kann sich das wie eine kleine Fabrik vorstellen“, erklärt Sebastian Hiller, Professor am Biozentrum der Universität Basel. Die Forscher starteten eine systematische Suche nach derartigen Genclustern. Ein Computer durchforstete eine riesige Genomdatenbank, in der das Erbgut von Millionen unterschiedlicher Bakterien aufgeschlüsselt ist. Dabei stieß er auf eine Reihe von ähnlichen Clustern, die verschiedene antibiotische Substanzen produzieren. Dazu gehörte auch Dynobactin.

„Die computerbasierte Screening-Methode wird der Suche nach den dringend benötigten Antibiotika einen neuen Schub verleihen“, ist Hiller überzeugt: „Zukünftig wollen wir die Suche ausweiten und noch mehr Peptide auf ihre Tauglichkeit hin prüfen. Wir sind sicher, dass es noch viel mehr antibiotisch wirkende bakterielle Peptide da draußen gibt.“ Derartige Wirkstoffe können von Bakterien gebildet werden, mit denen der Mensch normalerweise nicht in Berührung kommt. Die Vielzahl der bisher nicht kultivierbaren Bodenbakterien sind dafür das beste Beispiel: Sie gelten als „Dark Matter der Mikrobiologie“. Ein anderes Forschungsfeld sind die Bakterien, die im Meer von Schwämmen als Symbionten gehalten werden und diese vor krankheitserregenden Keimen schützen.

Die Entdeckung von Dynobactin ist ein erstes Ergebnis eines ambitionierten und gut dotierten Forschungsprogrammes. In der Schweiz werden langfristig angelegte Forschungsvorhaben zu Themen von strategischer Bedeutung im Rahmen eines sogenannten Nationalen Forschungsschwerpunktes (NFS) gefördert. Ziel des NFS AntiResist ist die Suche nach neuen Antibiotika und die Entwicklung alternativer Strategien zur Bekämpfung antibiotikaresistenter Keime. Dabei wird Grundlagenforschung direkt mit der klinischen Forschung und dem Bioengineering verbunden. Am zentralen Standort Basel arbeiten die Departemente Biozentrum und Biomedizin der Universität Basel, das Universitätsspital Basel und das Departement für Biosysteme der ETH Zürich in Basel eng zusammen, weitere beteiligte Institutionen befinden sich in Zürich und Lausanne. Diese interdisziplinäre Forschung soll die Grundlage bilden, um zukünftig gemeinsam mit der Pharmaindustrie neue Medikamente zu entwickeln.

Antibiotikaresistente Bakterien bald gefährlicher als Krebs

Hintergrund ist das stete Fortschreiten von Antibiotika-Resistenzen, die die globale Gesundheit zunehmend bedrohen und im klinischen Alltag ein immer größeres Problem darstellen. Im Jahr 2014 veröffentlichte der Ökonom Jim O’Neill einen Bericht mit einer düsteren Prognose: Demnach werden 2050 mit zehn Millionen Toten weltweit mehr Menschen durch antibiotika­resistente Bakterien sterben als durch Krebs. Damals wurden diese Angaben von vielen in Zweifel gezogen. Neuere Zahlen jedoch bestätigen die Voraussage. Im Jahr 2019 starben laut einer in der renommierten Fachzeitschrift „Lancet“ veröffentlichten Studie 1,27 Millionen Menschen unmittelbar an resistenten Keimen und 3,57 Millionen in Zusammenhang damit. Das entspricht ziemlich genau den Vorhersagen des O’Neill-Berichtes.

„Um die Resistenzen zu überwinden, brauchen wir dringend Wirkstoffe mit einem neuartigen Wirkmechanismus“, betont Christoph Dehio, der Leiter von AntiResist. Seit den 1980er-Jahren kamen so gut wie keine neuen Antibiotika auf den Markt. „Die wenigen neuen Präparate waren meist nur minimal veränderte Varianten der Antibiotika, die es bereits gab“, sagt der Infektionsbiologe und Professor am Biozentrum der Universität Basel.

Der Forschungsschwerpunkt von AntiResist hingegen setzt vor allem auf die Suche nach innovativen Antibiotika, die unter den spezifischen Bedingungen im menschlichen Körper ihre volle Wirkung gegen die Erreger entfalten. Dazu bilden die Forscher mit Gewebekulturmodellen das Infektionsgeschehen im Menschen im Labor nach, um neuartige Angriffspunkte für Antibiotika zu entdecken.

„Die Art und Weise, wie bisher nach neuen Antibiotika gesucht wurde, ist ziemlich artifiziell“, erklärt Dehio: Auf einem Nährboden wird eine Bakterienkultur angelegt und dann getestet, ob eine bestimmte Substanz das Wachstum der Bakterien hemmt oder diese tötet. Im Körper jedoch finden Bakterien andere Bedingungen vor als in der Petrischale. Hier herrscht aus ihrer Sicht steter Nahrungsmangel. So gibt es nur wenig freies Eisen, das sie für ihr Wachstum brauchen. Und sie sind ständigen Attacken des Immunsystems ausgesetzt.

Nationales Anliegen. Christoph Dehio ist der Leiter des Schweizer Forschungs­programms AntiResist. Das umfassende Projekt sucht alternative Strategien zur
Bekämpfung antibiotikaresistenter Keime.

Organoide als Forschungsobjekte

Die Schweizer Forscher versuchen nun, möglichst realitätsgetreu die Bedingungen im menschlichen Körper zu simulieren. Dabei gibt es unterschiedliche Stufen der Komplexität. Am simpelsten ist es, für Bakterienkulturen Nährmedien zu verwenden, die Gewebeflüssigkeiten entsprechen. Den höchsten Grad an Realitätstreue bieten sogenannte Organoide. Das sind wenige Millimeter große, aus Stammzellen gewachsene, dreidimensionale Gewebemodelle, die aus verschiedenen organspezifischen Zelltypen bestehen und das Verhalten sowie die Funktion menschlicher Organe nachahmen. Die Organoide werden mit Krankheitserregern infiziert, dann wird die Wirkung einer potenziell antibiotischen Substanz auf die Erreger untersucht. Die Bioingenieure von AntiResist haben Organoide gezüchtet, die dem Epithel von Blase und Lunge entsprechen. Das Epithel bildet die äußerste Schicht dieser Organe und dient Krankheitserregern als Eingangspforte; Infektionen des Urogenitaltraktes und der Lunge sind die häufigsten Infektionen überhaupt. Sogar das angeborene Immunsystem kann simuliert werden, indem Fresszellen (Makrophagen, Granulozyten) in das Organoid eingebracht werden. „Wir sind nicht die einzigen Forscher, die so etwas machen“, sagt Dehio. „Aber uns zeichnet aus, dass wir diese Modelle validieren.“ Das heißt, sie werden mit Proben aus infizierten Patienten verglichen.

Doch all das ist nur der erste Schritt eines langen Weges. „Akademische Forschung kann viel bewegen“, erklärt Dehio, „aber ein Medikament bis zur Marktreife zu entwickeln, ist im akademischen Setting nicht möglich.“ Dazu braucht es die Zusammenarbeit mit einem Partner aus dem Biotech- bzw. Pharmasektor.

Die Entwicklungskosten eines neuen Medikaments von der Forschung bis zur Phase-III-Studie werden vom Forum der forschenden pharmazeutischen Industrie in Österreich (FOPI) derzeit mit rund zweieinhalb Milliarden Dollar angegeben. Die Schweizer Forscher von AntiResist arbeiten daher eng zusammen mit Unternehmen der BEAM Alliance (Biotech companies in Europe combating AntiMicrobial resistance), einem Netzwerk von rund 70 kleinen und mittleren Firmen, deren Ziel der Kampf gegen Antibiotika-Resistenzen ist (darunter das österreichische Unternehmen BioNTech R&D), aber auch mit großen Pharmafirmen wie Roche.

Antibiotikaforschung ist nicht lukrativ

Dass seit Jahrzehnten praktisch keine neuen Antibiotika bis zur Marktreife entwickelt wurden, liegt auch an einem akuten Marktversagen. Denn die alten Substanzen aus dem Goldenen Zeitalter der Antibiotika im 20. Jahrhundert sind ja nach wie vor in Verwendung, auch wenn sie bei einem stetig zunehmenden Teil der Erreger ihre Wirksamkeit verlieren. Da der Patentschutz längst abgelaufen ist, können sie billigst in China und Indien produziert werden. Ein neues Medikament, in das die Entwicklungskosten eingepreist sind, ist dagegen derzeit nicht konkurrenzfähig. Vor allem, weil die neuen Medikamente ja nicht dazu gedacht sind, die alten abzulösen. Im Sinne eines zielgerichteten Einsatzes („Antibiotic Stewardship“) zur Vermeidung neuer Resistenzen würden die innovativen Wirkstoffe als Reserveantibiotika nur in Fällen zur Anwendung kommen, wenn nichts anderes mehr hilft – also ziemlich selten. Damit sich das für ein Pharmaunternehmen rechnet, müsste es einen exorbitanten Preis verlangen.

Es gibt eine Reihe von Ideen, um Anreize für die Industrie zu schaffen, sich trotzdem an die Entwicklung eines neuen antibiotischen Arzneimittels zu wagen. Eine Möglichkeit wäre eine Art Abonnement-System: Jedes Land zahlt entsprechend seines Bruttoinlandproduktes einen Beitrag in einen Fonds, mit dem die Entwicklung neuer Antibiotika finanziert wird. Gelingt dies, so stellt der Produzent das neue Antibiotikum allen Ländern, die mitgezahlt haben, zu einem Preis zur Verfügung, der mindestens die Entwicklungskosten abdeckt. Eine zweite Idee: Pharmaunternehmen, die ein neues Antibiotikum entwickeln, erhalten im Gegenzug eine Verlängerung für eines ihrer Patente. Wenn es sich dabei um einen echten Blockbuster handelt, kann der entstehende Gewinn die Entwicklungskosten für das Antibiotikum kompensieren. „Auf diese Weise sollte der nicht funktionierende Markt wieder in Schwung kommen“, erläutert der AntiResist-Leiter: „Und wenn es soweit ist, soll die Pipeline gefüllt sein. Deshalb müssen wir jetzt die Innovation in der Antibiotikaforschung vorantreiben“.