Von Lercherln und Nebelgranaten: Der Ruf nach Erhöhung der Ausbildungs­plätze an den österreichischen Medizin­universitäten

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Autor: Martin Hehemann

Wiens Gesundheitsstadtrat Peter Hacker fordert eine Verdoppelung der Medizin-Studienplätze. Die Rektoren der MedUnis sind dagegen. Beim Austausch der Argumente verzichten beide Seiten auf akademische Zurückhaltung.

Wolfgang Fleischhacker schüttelt den Kopf: „Es gibt für mich kein neues Argument, das dafürspricht. Außer, dass im Rahmen der Finanzausgleichverhandlungen politische Argumente aufgetaucht sind, die dies fordern.“ Mit „dies“ meint der Rektor der Medizinischen Universität Innsbruck einen Anspruch des Wiener Gesundheitsstadtrats Peter Hacker, den dieser seit einiger Zeit „gebetsmühlenartig“ – so Fleischhacker – wiederhole.

Der SPÖ-Politiker warnt vehement davor, dass sich der Zustand des heimischen Gesundheitssystems weiter zu verschlechtern droht. „Wir haben zu wenige Ärzte, und das ist erst der Anfang. In zehn Jahren werden wir einen Ärztemangel haben, da wird rückblickend der heutige Pflegemangel wie ein Lercherl im Vergleich dazu ausschauen“, meint Hacker. „Wie sich die Uni-Rektoren hinsetzen und sagen können, dass sie eh genug ausbilden, ist mir wirklich ein Rätsel.“ Seine Forderung: Eine massive Erhöhung der Ausbildungsplätze an den österreichischen Medizinuniversitäten. „Wir können nicht 15.000 Bewerberinnen und Bewerber haben – und nehmen nur 1.850 davon. Wir müssen über mindestens 1.500 zusätzliche Plätze pro Jahr reden.“

Hacker unterlegt seine Aussagen mit Daten: In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der Einwohner in Wien um 240.000 Menschen gewachsen, die Zahl der Kassenärzte aber um 450 gesunken. „Vor zehn Jahren kamen 900 EinwohnerInnen auf eine KassenärztIn. Jetzt sind es 1.200“, mein Hacker. Und dieser Trend hat sich in den vergangenen Jahren verschärft: In der Zeit von 2019 bis 2023 gab es bei den in Wien niedergelassenen Kassenärzten einen Rückgang um 12,4 Prozent auf 1.569 (März 2023). Der Wiener Gesundheitsstadtrat: „Wir erleben einen dramatischen Rückgang der niedergelassenen KassenärztInnen in Wien und in ganz Österreich.“ Dem Rückgang bei den Kassenärzten steht ein starker Anstieg bei den Wahlärzten gegenüber, die ihren Patienten für eine Behandlung ab 150 Euro aufwärts verrechnen. Unterm Strich ist die Zahl der Mediziner von 2011 bis 2021 aber um 21,4 Prozent auf knapp 49.000 gewachsen. (siehe Infokasten ganz unten).

Ab 2035 in der eigenen Ordi. Die Wiener MedUni platzt am White Coats-Day, dem Einführungstag der Erstsemestrigen, aus allen Nähten. Die Studierenden werden frühestens in 12 Jahren selbstständig ordinieren. Da brauchen wir sie nicht mehr, meinen die Rektoren. Wenn das System zu wenig Output hat, muss es besser gefüttert werden, meint der Stadtrat.

Realität statt Statistik

Für Hacker ist die Statistik wenig aussagekräftig. Das Wachstum bei den kostenpflichtigen Wahlärzten kann aus seiner Sicht das Minus bei den Kassenärzten nicht kompensieren: „Wir leben nicht in der Statistik, sondern in der Realität“, meint er. „Niemand von uns bekommt rasch einen Termin bei einem Kassenarzt. Entweder nehmen sie gar keine PatientInnen oder erst in vielen Monaten.“ Der Engpass bei den niedergelassenen Kassenärzten hat einen negativen Effekt, auf den Hacker ebenfalls hinweist: Die Patienten gehen verstärkt in die Ambulanzen der Krankenhäuser. Das führe dazu, dass das Personal dort so viel arbeite wie nie zuvor. „Obwohl wir – abgesehen von einzelnen Mangelfächern – einen Höchststand an Spitalspersonal im Wiener Gesundheitsverbund haben“, so Hacker. Die Spitäler „müssen neben ihren eigentlichen Aufgaben auch den Rückgang der niedergelassenen ÄrztInnen auffangen“. Seine Warnung: „Wenn wir jetzt keine umfassende Gesundheitsreform durchführen, kann sich das in Zukunft nicht mehr ausgehen.“

Tatsächlich klagen schon jetzt die Wiener Spitäler über eine Verknappung von ausgebildeten Medizinerinnen und Medizinern. In der Klinik Ottakring haben Ärzte wegen des Personalmangels vor einem Ausfall der Notaufnahme gewarnt. In der Klinik Favoriten fehlt die Hälfte der Anästhesisten. Es gibt Probleme in der Chirurgie, der Notfallmedizin, der Kinderpsychiatrie und teilweise in der Radiologie – und das nicht nur in Wien.

Dem Wiener Gesundheitsstadtrat bereitet vor allem die Altersstruktur der niedergelassenen Ärzte Sorgen. Er verweist auf Zahlen der Ärztekammer: Demnach werden in den kommenden zwölf Jahren gut 17.000 Ärztinnen und Ärzte in Pension gehen. „Wir wissen vom Rechnungshof, dass in 10 Jahren rund 18.500 Personen ein Medizin-Studium beginnen werden. Davon absolvieren rund 15.000 das Studium, und von ihnen ergreifen rund 30 Prozent keinen ärztlichen Beruf, weil sie in die Privatwirtschaft oder die Forschung gehen“, rechnet Hacker vor. Das, so der Politiker weiter, ergebe unter dem Strich rund 10.000 Ärzte, die pro Jahr nachkommen würden. Abzüglich der 17.000 Pensionierungen ergebe das 7.000 Ärzte, die „in Zukunft fehlen“. Und diese massive Lücke sei nur dadurch zu schließen, dass man die Zahl der jährlich neu zugelassenen Medizinstudenten von derzeit 1.850 um mindestens 1.500 pro Jahr erhöhe.

Rektoren in Opposition

Spätestens beim Blick auf diese Rechnung regt sich der Widerstand der Rektoren. Und ihre Kritik reibt sich weniger daran, dass der Wiener Stadtrat bei seiner Kalkulation die Pensionierung von zwölf Jahren mit dem Nachwuchs von zehn Jahren vergleicht. Ihr Ärger basiert auf den Details der Alterstabelle der Ärztekammer. Dort erkenne man, dass die jährlichen Pensionierungen in sechs Jahren ihren Höhepunkt von knapp unter 1.500 Ärzten erreicht haben wird. Die Zahl sinke aber wieder – und zwar auf unter 1.000 nach Ablauf von zwölf Jahren.

Mit der Materie vertraute Experten stellen daher eine Gegenrechnung auf: Dem Wert von 1.000 bis 1.500 Pensionierungen pro Jahr stehen 1.850 neue Medizinstudenten in Österreich gegenüber. Diese Zahl, das ist bereits beschlossen worden, soll in den nächsten Jahren auf 2.000 erhöht werden. Mehr als 90 Prozent der Mediziner schließen ihr Studium ab. Es bleiben also rund 1.800. Dazu kommen noch 200 Absolventen von privaten Universitäten und 150 Österreicher, die pro Jahr in Deutschland ihr Medizinstudium abschließen. In Summe ergibt das mehr als 2.100 Nachwuchsmediziner pro Jahr. „Das sollte ohne weiteres ausreichen, um den Bedarf zu decken. Wir brauchen keine zusätzliche Erhöhung der Studierenden-Zahl“, meint Markus Müller, Rektor der MedUni Wien (siehe Interview).

Kollege Fleischhacker aus Innsbruck weist darauf hin, „dass die Erhöhung der Studienplätze frühestens in zwölf Jahren einen Effekt hätte“. Denn solange dauert die Ausbildung der Ärzte insgesamt, wenn alles nach Plan läuft: Sechs Jahre fürs Studium, sechs für die Arzt- oder Facharztausbildung. Für Fleischhacker hätte die geforderte Verdopplung der Medizinstudenten eine logische Folge: „Dann sprechen wir wieder von einer Ärzteschwemme.“ Das würde nicht zum ersten Mal passieren. „Ich bin alt genug, um zwischen Mangel und Schwemme schon mehrere Wellen durchlaufen zu haben“, sagt Fleischhacker und erinnert sich dabei an seine erste Vorlesung der Anatomie: „Dort haben wir zu hören bekommen, dass unsere Berufsaussichten, wenn wir fertig sind, eher schlecht sein werden und wir uns rechtzeitig nach Alternativen wie dem Taxifahren umschauen sollten.“

Kürzere Ausbildung. Angehende Ärzte müssen in Österreich nach ihrem Studium eine neunmonatige Basisausbildung absolvieren. Eine derartige Ausbildung gibt es weder in der Schweiz noch in Deutschland. MedUni Innsbruck-Rektor Wolfgang Fleischhacker fordert, die Basisausbildung ersatzlos zu streichen. Diese sei ein „erheblicher Wettbewerbsnachteil“.

Symptom Ärzte-Emigration

Rektoren und Studenten-Vertreter warnen davor, dass „eine drastische Erhöhung der Studienplätze zu einem Verlust der Studienqualität führen würde“, wie Noam Hartmann, Vorsitzender der Studienvertretung Humanmedizin der ÖH Med Wien in einer Stellungnahme meinte. Schon jetzt liege die Zahl der Studierenden an den österreichischen Universitäten deutlich über dem Niveau vergleichbarer Institute im Ausland. Das trifft vor allem auf die MedUni Wien zu. Dort beginnen pro Jahr 760 Nachwuchs-Mediziner ihre Ausbildung. Experten verweisen auf die Schweizer Universitäten Zürich und Bern, die nur 272 und 320 Stellen anbieten. Im Fall der renommierten US-Universitäten Havard und Cornell sind es sogar nur 150. Und auch die deutschen Universitäten liegen unter dem Niveau der Wiener.

Der Hinweis auf die Schweiz und Deutschland ist kein Zufall. Denn rund ein Drittel der Jung-Mediziner, die ihr Studium in Österreich erfolgreich abgeschlossen haben, zieht es ins Ausland, vor allem in diese beiden Länder. Und das gilt nicht nur für die sogenannten „Numerus Clausus-Flüchtlinge“ aus Deutschland, die aufgrund der dortigen Zugangsbeschränkungen in Österreich studieren. Auch zahlreiche Österreicherinnen und Österreicher verlassen die Heimat.

Dafür gibt es verschiedene Gründe: Einerseits bildet Deutschland traditionell weniger Mediziner aus, als es benötigt, und importierte sie in einem beträchtlichen Ausmaß. Andererseits müssen die zukünftigen Ärzte in Österreich nach ihrem Studium als Erstes die neunmonatige Basisausbildung absolvieren. Eine derartige Ausbildung gibt es weder in der Schweiz noch in Deutschland, und die Absolventen müssen oftmals viele Monate warten, um einen der raren Ausbildungsplätze zu ergattern. Die Rektoren fordern daher, die Basisausbildung ersatzlos zu streichen. „Das ist ein erheblicher Wettbewerbsnachteil gegenüber Nachbarländern“, so Rektor Fleischhacker.

Er tritt mit Nachdruck dafür ein, die Attraktivität des Arztberufs zu erhöhen, damit der Nachwuchs den Verlockungen aus der Schweiz oder Deutschland widersteht. Die Wurzel des Problems liegt seiner Meinung nach im vielbeklagten Mangel an Pflegepersonal. Dieser führe dazu, dass die jungen Mediziner sehr häufig für administrative Tätigkeiten eingesetzt werden, für die sie zu lang und zu teuer ausgebildet worden sind. „Es kann nicht sein, dass ein Arzt in der Notfallaufnahme zwei Stunden nach einem Bett für einen neuen Patienten suchen muss“, meint Fleischhacker. Im Ausland, so der Rektor weiter, gebe es erprobte Modelle, wie man die Ärzte von administrativen Aufgaben entlasten könne. „Hier bewähren sich in vielen Staaten die medizinischen Dokumentationsassistentinnen und -assistenten.“

Fleischhacker ist davon überzeugt, dass man mit Ansätzen wie diesen, viele Jung-Ärzte im Land halten könnte. Der Ruf nach einer Erhöhung der Studienplätze ist aus seiner Sicht „eine Nebelgranate, die geworfen wird, um abzulenken, anstatt das eigene Optimierungspotenzial auszunutzen“.

So viel und doch zu wenig?

Die Daten der Ärztekammer zeichnen ein Bild dichten Ärztevorkommens: In den zehn Jahren von 2011 bis 2021 ist die Zahl der „Berufsausübenden Ärzte“ in Österreich (ohne Zahnärzte) um 21,4 Prozent auf knapp 49.000 gewachsen. Damit erhöhte sich auch die Versorgungsdichte gemessen an der Zahl der Ärzte pro 1.000 Einwohner um 12,7 Prozent auf 5,4 – trotz Bevölkerungswachstum. Auch im Vergleich mit anderen Industriestaaten können die heimischen Patientinnen und Patienten nicht klagen: Laut einer Erhebung der OECD liegt Österreich bei der Versorgungsdichte hinter Griechenland auf Platz zwei. Deutschland und die Schweiz kommen jeweils auf einen Wert von 4,4 Ärzten pro 1.000 Einwohner.

Quellen und Links:

Zeitschrift für Gesundheitspolitik: Ärztebedarf in Österreich

Zielsteuerung Gesundheit – Monitoringberichte

Information der Sozialversicherung: Ärzteschwemme versus Ärztemangel in Österreich

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