SAP: Und tschüss!

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Autor: Martin Hehemann

Der deutsche SAP-Konzern stellt bis spätestens 2030 den Support für seine wichtige Krankenhaus-Software IS-H ein. Konkurrent Oracle kündigt Gleiches für sein Paket i.s.h.med an. Viele betroffene Kliniken werden in dieser Frist eine Umstellung nicht schaffen.

Healthcare ist für die SAP strategisch wichtig. Wir sind im steten und engen Austausch mit unseren Kunden und Partnern aus dem Gesundheitssystem, um ihnen zu helfen, auch in unsicheren Zeiten leistungsfähig zu bleiben.“ Mit Aussagen wie dieser gegenüber der ÖKZ bemüht sich der deutsche Softwarekonzern SAP, seine Klientel im Gesundheitswesen zu beruhigen – ohne großen Erfolg. Denn die „unsicheren Zeiten“ haben einen eindeutigen Verursacher: die SAP selbst.

Der börsennotierte IT-Konzern hat im vergangenen Oktober das Aus für sein Krankenhausmanagement-System Industry Solutions Healthcare (IS-H) angekündigt (die ÖKZ hat in Ausgabe 1-2/2023 darüber berichtet). Bis Ende 2027 soll der reguläre Support für das System eingestellt werden, bis Ende 2030 der aufpreispflichtige „Extended Support“. Diese Nachricht hat bei den IT-Verantwortlichen der Krankenhäuser eingeschlagen wie ein Faustschlag in die Magengrube. „Darauf waren wir nicht vorbereitet. Das hat uns alle am linken Fuß erwischt“, meint Christoph Wuczkowski, Applikationsbetreuer beim österreichischen Krankenhausbetreiber Vinzenz Gruppe. Wuczkowski, der bei der SAP Anwendergruppe Gesundheitswesen Österreich (SAGA) für das Thema IS-H zuständig ist, ist hörbar sauer: „Besonders betroffen, sind natürlich jene Häuser, die IS-H erst vor Kurzem eingeführt haben oder sogar noch mitten in der Einführung stecken.“ Zu dieser Kundengruppe zählen die zur Vinzenz Gruppe gehörenden Barmherzigen Brüder Österreich. Die Ordensspitäler hatten sich vor zwei Jahren für das Produkt aus dem Hause SAP entschieden. Derzeit sind zwei von sieben Spitälern umgestellt. „Damit hat niemand gerechnet. Wir sind davon ausgegangen, dass wir langfristig mit dem System planen können“, so IT-Leiter Christian Neubauer.

Beinharter Abgang. Die Einstellung der IS-H-Applikation bis 2030 lässt aktuelle Anwender im Regen stehen. Experten gehen davon aus, dass für ein Nachfolgesystem ein Aufwand von 50.000 Mannstunden oder umgerechnet rund 230 Mannjahre notwendig sind.

Mehr als 100 Krankenhäuser betroffen

Experten schätzen, dass rund 800 Krankenhäuser in der DACH-Region IS-H im Einsatz haben, mehr als 100 davon in Österreich. Walter Schinnerer, der als Fachvorstand der SAP-User-Organisation DSAG für Österreich verantwortlich ist, vermutet, dass hierzulande „fast alle öffentlich-rechtlichen Krankenhäuser IS-H verwenden“. Bei IS-H handelt es sich um ein leistungsstarkes Programm, mit dem die Krankenhäuser die gesamte Administration der Patientendaten und die komplexe Patientenabrechnung abwickeln. Die Bedeutung der SAP-Software ist für die betroffenen Häuser kaum zu überschätzen. Ohne IS-H geht nichts – keine Aufnahme von Patienten, keine Leistungsbeschreibung, keine Entlassung, kein Schreiben von Rechnungen.

Erschwerend kommt hinzu, das IS-H eng mit einem anderen wichtigen Software-Paket verknüpft ist, das von vielen Spitälern verwendet wird: i.s.h.med. Dieses Programm ist ein sogenanntes KIS (Krankenhausinformationssystem), mit dem die medizinischen Daten der Patienten erfasst werden – von der Anamnese über die Therapie bis zur Nachbehandlung. Die Rechte an der Software hält seit einiger Zeit ausgerechnet der Erzrivale von SAP, der US-Konzern Oracle. Dieser hat bereits verlautbart, den Support für i.s.h.med ebenfalls einstellen zu wollen. Es gilt das Gleiche wie für IS-H: Bis 2027 gibt es noch den regulären Support, bis 2030 den aufpreispflichtigen. Ob Oracle einen Nachfolger von i.s.h.med entwickeln wird, ist allerdings noch unklar.

Aggressive Marktflucht

Und als ob die Marktflucht der beiden Software-Riesen den Klinikmanagern nicht schon genug im Magen liegen würde, kommt ein dritter, schwer verdaulicher Software-Brocken dazu: IS-H und i.s.h.med sind eng mit dem Herzstück der SAP-Produktpalette verknüpft, dem Programm ECC. Mit ihm steuern Unternehmen, darunter auch die meisten heimische Krankenhäuser, ihre Finanzbuchhaltung, die Kostenrechnung und die Materialwirtschaft. Derartige Systeme werden auch ERP genannt. SAP ist hier weltweit Marktführer. ECC soll nun ebenfalls das Zeitliche segnen und durch das neue SAP-Betriebssystem S4/Hana ersetzt werden. Das geplante Aus für die ECC-Wartung? Erraten: 2027 für den regulären, 2030 für den aufpreispflichtigen Support.

Laut einer aktuellen Umfrage, die die DSAG unter den betroffenen Krankenhäusern in der DACH-Region durchgeführt hat, stecken die Spitalsbetreiber derzeit mitten in der Umstellung auf S4/Hana. Vier Prozent von ihnen haben das neue SAP-Betriebssystem bereits im Einsatz. Bei fünf Prozent läuft die Implementierung. Weitere 47 Prozent planen sie. Fast genau so viele Häuser – 42 Prozent – haben sich allerdings noch nicht entschieden. Und es könnte durchaus sein, dass diese Spitäler den IS-H-Schock zum Anlass nehmen, ihre IT-Strategie komplett zu überdenken und SAP den Rücken zu kehren. SAGA-Vertreter Wuczkowski: „SAP muss nicht zwangsläufig gesetzt sein.“

IT-Overkill im Spital

Diese zeitliche Synchronisation, die aus rein betriebswirtschaftlicher Sicht von SAP und Oracle sinnvoll sein mag, dürfte bei manchem betroffenen Krankenhausmanager den Wunsch nach stimmungsaufhellenden Substanzen wecken. „Das ist der absolute Overkill. Ein Projekt dieser Größenordnung wäre zu verkraften. Zwei nicht. Drei gar nicht“, meint der IT-Leiter eines Spitals. SAGA-Vertreter Wuczkowski ergänzt: „Die IT-Ressourcen in den Häusern sind schon ausreichend damit gefordert, die Systeme am Laufen zu halten. Auf diese geballten Sonderbelastungen sind sie nicht ausgerichtet.“

Was für einen Laien nach einer kleinen Ewigkeit klingt – bis 2030 sind es ja immerhin noch sieben Jahre –, gilt unter IT-Profis als höchst ambitioniert. Allein für die Ausschreibung eines IS-H-Nachfolgers werden rund zwei Jahre veranschlagt. Danach folgen die Implementierung, notwendige Anpassungen und die Migration der Daten – all das braucht seine Zeit. Und während es für i.s.h.med eine ganze Reihe von alternativen Produkten am Markt gibt, ist dies bei IS-H de facto nicht der Fall. Das Nachfolge-System muss erst entwickelt werden.

Experten gehen davon aus, dass dafür ein Aufwand von 50.000 Mannstunden oder umgerechnet rund 230 Mannjahre notwendig sind. Das bedeutet: Selbst wenn ein potenzieller Anbieter 100 Softwareentwicklerinnen und Entwickler auf das Projekt ansetzt, wird er mehr als zwei Jahre benötigen. Kein Wunder also, dass Gelassenheit und Zuversicht sich bei der SAP-Klientel in Grenzen halten: „Eine Umstellung in so kurzer Zeit auf ein System, das es noch gar nicht gibt – das werden viele Häuser nicht schaffen“, meint DSAG-Vertreter Schinnerer.

Griff ins Leere. Walter Schinnerer vertritt in der SAP-User-
Organisation DSAG die österreichischen Anwender: Er bezweifelt, dass „in so kurzer Zeit eine Umstellung auf ein System gelingt, das es noch gar nicht gibt. Das werden viele Häuser nicht schaffen.“

49 Prozent schaffen Umstieg nicht

Diese Einschätzung deckt sich mit einem Ergebnis der aktuellen Mitglieder-Umfrage: Nur rund die Hälfte der befragten Krankenhäuser sieht eine realistische Chance, bis zum Wartungsende von IS-H ein Nachfolgesystem einführen zu können – davon neun Prozent bis 2027 und 42 Prozent bis 2030. Immer vorausgesetzt, es gibt rechtzeitig ein passendes Nachfolgesystem. Kommentar von DSAG-Mann Schinnerer: „Aus der Anwendersicht ist die Strategie von SAP im Healthcare-Bereich nicht nachvollziehbar.“

Die Spitäler fordern vom deutschen Softwarekonzern nun vor allem eines: mehr Zeit. Sie möchten, dass SAP den Extended Support von 2027 bis 2030 ohne Aufpreis leistet und für die Zeit danach bis 2035 zu akzeptablen Konditionen einen sogenannten „Customer Specific Support“ anbietet – also einen individuellen Support für Krankenhäuser, die bis 2030 die Umstellung nicht schaffen werden. Laut der aktuellen Umfrage sind das immerhin 49 Prozent. SAGA-Vertreter Wuczkowski: „Wir hoffen, dass SAP uns hier entgegenkommt. Zumal man bei IS-H seit einigen Jahren auch keine nennenswerten Innovationen mehr implementiert hat.“

Falls die SAP den individuellen Support nach 2030 nicht selbst anbieten möchte, könnte dies ein externer Partner übernehmen. In der Branche werden Namen wie der französische IT-Anbieter ATOS sowie die deutschen Konzerne Siemens und T-Systems genannt. Die Voraussetzung für diese Lösung wäre wohl die Zustimmung von SAP. Aus Sicht der DSAG darf dies jedoch keine unüberwindbare Hürde sein. „Wenn der Softwarelieferant selbst keine Wartung mehr anbietet, gehen wir davon aus, dass er die Kunden nicht im Regen stehen lässt, wenn ein Dritter die Aufgaben übernehmen will“, so DSAG-Mann Schinnerer.

Der angesprochene Software-Riese aus dem baden-württembergischen Walldorf hält sich bislang zu den Wünschen seiner Kundschaft bedeckt. Klar ist bislang, dass SAP selbst keine eigene Spezialsoftware mehr für die Krankenhäuser entwickeln wird. Das Unternehmen bietet nun externen Partnern die Möglichkeit, Alternativprodukte für IS-H über Schnittstellen mit der zentralen Finanzbuchhaltungssoftware – dem ERP – zu verbinden. Wer wann welche Lösung marktreif anbietet, ist allerdings noch offen. Die IT-Manager der Krankenhäuser hoffen, in den kommenden Monaten Klarheit zu bekommen. Je früher, desto besser. „Was nützen mir die Schnittstellen, wenn es das neue System nicht gibt?“, so IT-Manager Neubauer von den Barmherzigen Brüdern.

Das halbe Dutzend

Als gesichert gilt, dass sich derzeit rund ein halbes Dutzend von IT-Anbietern mit der Materie befassen. Klar positioniert haben sich mit Dedalus und CompuGroup Medical (CGM) zwei große internationale Anbieter von Software für die Gesundheitsbranche. Beide bieten jeweils ein mit IS-H vergleichbares System zur Patientenverwaltung an. Sie müssen nun eine Lösung entwickeln, die eine Integration ihres Systems mit dem ERP über die von SAP zur Verfügung gestellten Schnittstellen ermöglicht.

Eine bestehende IS-H-Alternative bietet auch der lokale heimische Anbieter Krammer Clinic Consulting (KCC) aus Scheibbs an. Er betreut bislang eine Reihe von Spitälern in Niederösterreich. Ein Trio bestehend aus dem deutschen IT-Unternehmen GITG, dem Schweizer Telekom-Konzern Swisscom und dem spanischen Softwarehaus Common MS hat vor Kurzem angekündigt, bis 2025 gemeinsam einen IS-H Nachfolger auf S4/Hana – dem neuen ERP von SAP – zu entwickeln. Aus österreichischer Sicht gibt es hier allerdings einen Haken: Es ist offen, ob die Software in der Lage sein wird, die Patientenabrechnung in Österreich abzuwickeln. Besagte Patientenabrechnung gilt unter Fachleuten als ein besonders kniffliges Thema, weil es hier national höchst unterschiedliche Anforderungen gibt. Die Verrechnung der Kosten mit den zuständigen Kassen und Versicherungen gestaltet sich in jedem Land anders. In Österreich sind zudem noch – wie sollte es auch anders sein – Modifikationen je Bundesland erforderlich. „Jeder Anbieter, der die Abrechnung für Deutschland macht und glaubt, da braucht es nur ein paar Adaptionen für Österreich, kennt die Situation nicht“, warnt IT-Manager Neubauer.

Bei Dedalus ist man sich dessen bewusst. Der Software-Anbieter hat beschlossen, eine spezielle Lösung für die Patientenabrechnung in Österreich zu entwickeln. Sie soll 2024 auf den Markt kommen, wie Michael Dahlweid, globaler Produktionsvorstand von Dedalus, verspricht: „Österreich ist ein sehr wichtiger Markt für uns.“

Auch bei IS-H ist ein Modul im Einsatz, das eigens für den heimischen Markt entwickelt worden ist. „Patientenmanagement und -abrechnung waren bislang der IT-Wohlfühlbereich für unsere Mitglieder“, meint SAGA-Mann Wuczkowski. Die Vertreter von SAGA und DSAG setzen große Hoffnungen auf die Österreich-Tochter des deutschen T-Systems-Konzerns, die bislang für das Österreich-Modul verantwortlich war.

Entscheidung im zweiten Quartal

T-Systems Austria prüft gemeinsam mit der auf SAP-Anwendungen spezialisierten AT Solution Partner (ATSP) aus Innsbruck einen Ansatz, der den heimischen Krankenhäusern die Umstellung sehr erleichtern würde: IS-H soll so adaptiert werden, dass es auf der neuen S4/Hana-Architektur der SAP laufen kann. Aus Sicht von DSAG-Mann Schinnerer wäre das die perfekte Lösung: „Eine völlige Neuentwicklung wird vermieden. Und es entfällt die Notwendigkeit einer aufwendigen Daten-Migration vom alten System in das neue. Das spart Zeit und Geld.“ Die Entscheidung darüber, ob sie mit diesem Projekt an den Start gehen, wollen die beiden Unternehmen laut T-Systems bis Ende des zweiten Quartals treffen.

Mit Bezug auf die Vinzenz Gruppe hat SAGA-Vertreter Wuczkowski bereits eine klare Anforderung an den zukünftigen Software-Lieferanten. „Wir planen bei unseren Systemen sehr langfristig. IS-H ist in unserer Gruppe seit fast 30 Jahren im Einsatz“, so Wuczkowski. „Wir erwarten von unserem zukünftigen Partner, dass er uns für das neue System mindestens für zehn Jahre den Support garantiert.“ Nachsatz: „Ohne Überraschungen.“  

Quellen und Links

DSAG-Mitgliederumfrage zum Wartungsende von IS-H – Presseaussendung vom 16.3.2023

Deutsche Kliniken sind schlecht auf SAP-Rückzug vorbereitet – Artikel Handelsblatt vom 27.3.2023

Beitrag von SAP: AP IS-H-Wartungsende: So meistern Kliniken den Umstieg

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