Reha in Österreich: Auf wackeligen Beinen

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Autor: Martin Hehemann

Das österreichische Reha-System zählt zu den leistungsfähigsten der Welt. Aber immer mehr Risikofaktoren schmälern die Versorgungskapazitäten der heimischen Nachsorge.

Das System ist immer noch gut. Da sind sich die Expertinnen und Experten einig: „Wir sind in Österreich sehr gut aufgestellt“, meint Canan Aytekin, die stellvertretende Generaldirektorin der Pensionsversicherung (PV). „Wir haben im internationalen Vergleich eine gute breite Abdeckung“, sagt Franz Kastner von der Vinzenz-Gruppe, einem privaten Betreiber von Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen. „Die Ausgangslage ist durchaus positiv“, urteilt auch Sven Thomas Falle-Mair, operativer und medizinischer Direktor des Mitbewerbers Optimamed.

Bei dem System, das derart günstig bewertet wird, handelt es sich um die heimische Reha-Landschaft. Gerade im internationalen Vergleich kann sich Umfang und Qualität des Angebots an Nachsorge-Leistungen in Österreich sehen lassen. Unter Rehabilitation verstehen Experten Behandlungen und Therapien, die Menschen nach einem Eingriff oder einer akuten Erkrankung helfen, sich wieder in den beruflichen und sozialen Alltag zu integrieren. PV-Vizedirektorin Aytekin erläutert den Unterschied zu zwei artverwandten Gesundheitsmaßnahmen: „Man kann das mit einem Auto vergleichen: Die Gesundheitsvorsorge und die Kur sind das jährliche Service. Die Reha ist die Reparatur.“

Autobahnsyndrom. Die Demographie sorgt für ständigen Druck: Experten erwarten aufgrund der vergreisenden Bevölkerung bis 2040 einen Bedarfsanstieg von zwei bis drei Prozent pro Jahr.

Service und Reparatur

Diese Service- und Reparatur-Leistungen sind hierzulande in den vergangenen zehn Jahren immer stärker in Anspruch genommen worden. Dies zeigen die Zahlen der PV, die der dominierende Player in dem Bereich ist. Sie betreibt 17 eigene Reha-Einrichtungen und hat mehr als 100 Reha-Vertragspartner, zu denen private Anbieter wie Optimamed oder Vinzenz-Gruppe zählen. Hat die PV im Jahr 2013 rund 800 Millionen Euro für „Rehabilitation & Gesundheitsvorsorge“ ausgegeben, so waren es 2023 etwa 1,3 Milliarden Euro. Das entspricht einem Anstieg um fast zwei Drittel.

Von den 1,3 Milliarden entfielen rund 690 Millionen Euro auf die Reha – in Relation zu den insgesamt 50 Milliarden Euro, die sich öffentliche Hand und Privatpersonen im Jahr 2023 das Thema Gesundheit haben kosten lassen, ein niedriger Betrag. Christian Köck, Gesundheitsexperte und Geschäftsführer des Health Care-Anbieters HCC, verweist daher auf das „fast einmalige Kosten-Nutzen-Verhältnis“ der Reha: „Das ist ihre große Stärke: Rehabilitation ist eine der kosteneffizientesten Maßnahmen in der Gesundheitsvorsorge.“ (lesen Sie hier das ganze Interview).

PV-Chefärztin Monika Mustak-Blagusz sieht das durchaus ähnlich: „Die Reha soll dazu beitragen, dass die Menschen möglich rasch wieder ihren Beruf ausüben können oder, falls sie sich in der Pension befinden, so lange wie möglich selbstständig leben können.“ Das sei eine gute Investition – für den einzelnen Menschen genauso wie für die Gesellschaft.

Treiberin der heimischen Reha. Die Pensionsversicherung ist haupt­verantwortlich für das österreichische Nachsorge-System: die stellvertretende Generaldirektorin Canan Aytekin (li.) und Chefärztin Monika Mustak-Blagusz.

Risiko für das System

Bei aller Freude über die gute Verfassung des Reha-Systems: Es gibt Risikofaktoren, die den Gesundheitsexperten Kopfzerbrechen bereiten. Nummer eins auf der Liste der bedrohlichen Systemschwächen ist der demografische Wandel, der dazu führt, dass der Anteil der älteren Menschen stetig steigt. Dazu Reha-Spezialist Kastner, der in der Vinzenz-Gruppe das Kompetenzfeld Rehabilitation leitet: „Zwischen 2013 und 2040 wird die Zahl der 80-Jährigen in Österreich um 200 Prozent gestiegen sein. Das hat Auswirkungen.“

Die Konsequenzen sind in den Reha-Zentren spürbar. „Durch das zunehmende Alter der Patientinnen und Patienten steigt die Zahl der multimorbiden Fälle“, schildert PV-Chefärztin Mustak-Blagusz. „Die Krankheitsbilder sind nicht mehr so eindeutig“. Statt nur mehr an einem Leiden zu laborieren, haben diese Patienten mit mehreren gesundheitlichen Problemen zu kämpfen: Zum Schulterleiden kommt eine arterielle Verschlusskrankheit, Diabetes oder eine Arthrose. Und das erhöht natürlich die Anforderungen an die Reha. Das gleiche gilt für die „deutliche Zunahme an chronischen Erkrankungen“, die die PV-Medizinerin konstatiert. „Die gesundheitliche Verfassung der Menschen, wenn sie nach einem Eingriff aus dem Spital zu uns in die Reha-Zentren kommen, ist nicht mehr so gut wie früher.“ Und das schlage sich auch in der Zahl der Bewilligungen nieder.

Optimamed-Chef Falle-Mair ist davon überzeugt, dass man die Kapazitäten vor allem im Bereich Bewegungs- und Stützapparat ausbauen muss, aber auch im Bereich der Geriatrischen Reha: „Es gibt bereits einige Optionen an geriatrisch rehabilitativen Angeboten wie zum Beispiel in akutgeriatrischen Einrichtungen oder vereinzelten gemeinnützigen Institutionen. Aber das Angebot ist bislang nur ein Tropfen auf den heißen Stein.“ Weiteren erheblichen Bedarf ortet er beim Thema psychische Gesundheit (Mental Health) – also bei psychologischer, psychotherapeutischer und psychiatrischer Betreuung. „Psychische Erkrankungen haben unter anderem auch im Zuge der Corona-Pandemie stark zugenommen. Eine Erweiterung des Rehabilitationsangebotes in diesem Bereich könnte dazu beitragen, die Wartezeiten zu verkürzen und den Zugang zu notwendigen Behandlungen zu erleichtern.“

Falle-Mair geht davon aus, dass die Nachfrage nach Reha-Leistungen bis 2040 deutlich steigen wird: „Wenn man konservativ rechnet, dann erwarte ich aufgrund des demografischen Wandels, des wachsenden Gesundheitsbewusstseins, der technologischen Entwicklungen und möglicher gesundheitspolitischen Maßnahmen einen realistischen Anstieg von zwei bis drei Prozent pro Jahr. Das macht ein Plus von 30 bis 45 Prozent in den kommenden fünfzehn Jahren.“

Wachstumsbranche. Optimamed-Chef Thomas Falle-Mair ist davon überzeugt, dass man vor allem in den Bereichen Bewegungs- und Stützapparat sowie Geriatrische Reha rasch mehr Kapazitäten braucht.

Reha-Bedarf wird steigen

Bei der PV ist man mit Prognosen zurückhaltender. Die Aufwendungen der PV für „Reha & Gesundheitsvorsorge“ sind zwar zwischen 2018 und 2023 deutlich gestiegen – und zwar von 1,05 Milliarden auf 1,3 Milliarden Euro. In diese Phase falle aber die Corona-Pandemie. Zudem habe man das Reha-Angebot in den vergangenen Jahren deutlich ausgebaut. Und mehr Angebot bedeute mehr Inanspruchnahme, erklärt PV-Generaldirektor-Stellvertreterin Aytekin. Sie geht davon aus, „dass der Bedarf an Reha-Maßnahmen weiter steigen wird. Aber für die nächsten Jahre sollten die erhöhten Kapazitäten ausreichen“. Bei einigen Indikationen wie bei Beschwerden des Stütz- und Bewegungsapparats sei man bereits am Limit. „Da sind die Anfragen sehr hoch. Wir wissen aber nicht, ob das ein Nachholeffekt aus der Pandemie ist, weil viele Patienten damals aus Angst um ihren Arbeitsplatz auf eine Reha verzichtet haben.“

Die weitere Entwicklung, so die PV-Managerin, „hängt davon ab, wie sehr die Maßnahmen greifen“. Aytekin und ihre Kollegin Mustak-Blagusz denken hier vor allem an zwei Maßnahmen, die miteinander verzahnt werden können: Die Gesundheitskompetenz bei Health Care-Dienstleistern und in der Bevölkerung erhöhen sowie die Prävention bekannter machen. Die Prävention ist auch ein „Herzensanliegen“ von Vinzenz Gruppe-Manager Kastner: „Ich bin seit 1986 in der Branche. Und in jedem Regierungsprogramm steht das Thema Prävention. Aber wirklich getan hat sich kaum etwas.“

Experten verweisen hier auf Ansätze im skandinavischen Raum: Dort werden Trainingsprogramme für Patienten angeboten, bei denen eine Knie- oder Hüftoperation ansteht. Im Optimalfall erübrigt sich so die Operation. Weniger operative Eingriffe würden natürlich auch weniger Reha-Behandlungen zur Folge haben. Reha-Spezialist Kastner denkt beim Thema Prävention noch einige Schritte weiter: „Der demografische Wandel und die technologische Entwicklung werden zu zahlreichen Disruptionen führen.“ Ihm schwebt ein „persönlicher Gesundheitsavatar“ vor, der den Patienten aktiv bei der Prävention unterstützt. „Der Avatar könnte mich zum Beispiel rechtzeitig informieren, dass eine wichtige Impfung ansteht, und gleich für mich den Termin organisieren“, meint Kastner. „Wenn das seriös, wissenschaftlich fundiert und ethisch-moralisch einwandfrei umgesetzt werden kann, wäre das ein großer Schritt vorwärts.“ Nachsatz: „Das klingt vielleicht futuristisch, aber das Smartphone gibt es auch erst seit 2007.“

Flaschenhals ist das Personal

Die Suche nach Innovationen und Disruptionen wird aus Sicht von vielen Fachleuten vor allem durch ein Problem forciert, unter dem das Gesundheitswesen seit vielen Jahren massiv leidet: dem Mangel an gut ausgebildetem Pflegepersonal. „Der Bedarf an Pflegekräften wird sich bis 2040 im Verhältnis zu den Erwerbsfähigen verdoppeln“, so Reha-Spezialist Kastner. Der Flaschenhals beim Ausbau der Kapazitäten seien nicht Betten und Häuser, sondern das Personal. „Was helfen mir hunderte neue Betten, wenn ich kein Personal finde, das die Menschen betreut?“

Bei bestimmten Reha-Indikationen ist der Personalmangel eklatant. Dazu gehört der Bereich Mental Health. „Wir möchten unser Angebot an psychotherapeutischen und psychiatrischen Reha-Behandlungen deutlich ausbauen, aber wir finden kaum entsprechendes Fachpersonal“, so Optimamed-Chef Falle-Mair.

Eine gewisse Entlastung verspricht sich die Reha-Branche vom Ausbau der ambulanten Versorgung. Diese soll in den kommenden Jahren weiter deutlich gesteigert werden – durchaus in Kombination mit digitalen Tools und Tele-Reha in Form von Begleitung und Coaching via Video-Calls. Befürchtungen von Fachleuten wie Gesundheitsexperte Köck, dass die Patienten aus Kostengründen von der stationären Reha zur ambulanten verschoben werden sollen, widerspricht die PV. „Das System ist natürlich kein Fass ohne Boden. Es muss finanzierbar sein. Aber die ambulante Reha ist kein Ersatz, sondern eine Erweiterung des Angebots“, meint PV-Chefärztin Mustak-Blagusz. „Bei bestimmten Indikationen müssen die Menschen stationär behandelt werden. In anderen Fällen, wenn der Patient oder die Patientin mobil ist und zu Hause übernachten kann, ist eine ambulante Reha möglich und unter Umständen auch attraktiver.“

Bei der Auswahl der konkreten Reha-Form soll laut Mustak-Blagusz und ihrer Kollegin Aytekin „auch in Zukunft der Wunsch des Patienten“ soweit wie möglich im Vordergrund stehen: „Es geht darum, für den richtigen Patienten zum richtigen Zeitpunkt den richtigen Ort zu finden.“ 

Quellen und Links:

Rehabilitationsplan 2020:
goeg.at/Rehaplan_2020

Projekte aus der Reha-Forschung:
www.pv.at/web/reha-und-praevention/reha-forschung/forschungsprojekte

SVS zu medizinischer Rehabilitation:
www.sozialversicherung.at/cdscontent/?contentid=10007.846043&portal=svportal

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