Neues Forschungszentrum in Wien: Alles Hirnschmalz dieser Welt

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Autor: Martin Hehemann

Ein neues Forschungszentrum von Boehringer Ingelheim will Spitzenforscher aus aller Welt nach Wien locken. Der Pharmakonzern bündelt in Meidling seine weltweite Krebsforschung.

Es war eine außergewöhnliche Feier: Die Geschwister der vor vier Jahren selbst an Krebs verstorbenen Krebsforscherin Angelika Amon nahmen ebenso teil wie ihr Ehemann und ihre Tochter, die eigens aus den USA angereist waren. „Der Gatte hat eine sehr bewegende Rede gehalten“, erinnert sich Professor Norbert Kraut, ein weltweit renommierter Onkologieforscher, der beim Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim vom Standort Wien aus für die Krebsforschungsaktivitäten mitverantwortlich ist. „Er hat uns sehr leidenschaftlich aufgefordert, den Kampf gegen den Krebs fortzuführen, weiterzuforschen und Durchbrüche zu erzielen.“

Bei besagter Feier im vergangenen September handelte es sich um die Eröffnung des „Angelika Amon Forschungsgebäudes“ am Standort von Boehringer Ingelheim in Wien-Meidling. So außergewöhnlich die Feierlichkeiten waren, so besonders ist auch die Namensgebung für das Gebäude. „Es ist das erste Mal, dass im Boehringer-Ingelheim-Verbund ein Forschungsgebäude nach einer Person benannt wurde“, sagt Kraut. Der Krebsforscher, der selbst mit Amon zusammengearbeitet hat, weiter: „Sie hat Großartiges geleistet und uns inspiriert. Ihre Arbeit ist ein beeindruckendes Vermächtnis und ein täglicher Anstoß für uns. Das Angelika Amon Forschungsgebäude steht für Inspiration, Kollaboration und Innovation.“

Amon war eine renommierte Krebsforscherin am Howard Hughes Medical Institute des Massachusetts Institute of Technology (MIT) und Professorin für Biologie am Koch Institute for Integrative Cancer Research des MIT in Cambridge, USA. Sie hatte einen engen Bezug zu Boehringer Ingelheim und zum Forschungsstandort Wien: Amon studierte am Institut für Molekulare Pathologie (IMP), das von dem deutschen Pharmakonzern gefördert wird, und war bis zu ihrem Tod unter anderem Mitglied des IMP-Aufsichtsrats und Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).

Aus Meidling für die ganze Welt.
Allein am Standort Wien sind für Boehringer Ingelheim 350 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Krebsforschung aktiv – 150 von ihnen seit September 2024 im neuen Angelika Amon Forschungsgebäude.

Globales Zentrum für Krebsforschung

Von Wien aus steuert der Pharmakonzern seine weltweiten Krebsforschungsaktivitäten. 350 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind in der Krebsforschung allein am Standort Wien tätig – 150 von ihnen seit September 2024 im neuen Angelika Amon Forschungsgebäude. Auf elf Etagen bietet es eine Fläche von knapp 11.000 Quadratmetern. Rund 60 Millionen Euro hat Boehringer Ingelheim in die neuen Räumlichkeiten in Wien-Meidling investiert. Mit dem Ergebnis zeigt sich Kraut mehr als zufrieden. „Es ist ein State-of-the-Art-Forschungsgebäude“, meint er. Nachsatz: „Wir haben nun genügend Platz, um Spitzenforschung zu betreiben und Spitzenforscher nach Wien zu bringen.“ Das neue Gebäude ermöglicht die enge Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Disziplinen – ein wesentlicher Schlüssel in der modernen Krebsforschung. Im Angelika Amon Gebäude untergebracht sind unter anderem Biologen, Bioinformatiker, Chemiker, Pathologen, Strukturforscher und Translationale Forscher.

Der Bau des neuen Forschungsgebäudes fügt sich ins Bild: Boehringer Ingelheim vertraut auf den Standort Wien. Rund eine Milliarde Euro hat der Konzern in den vergangenen zehn Jahren laut Pavol Dobrocky in Wien investiert. Hier sitzt das „Regional Center Vienna“ (RCV) des Konzerns, das von Dobrocky geleitet wird und rund 3.300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt: Wien ist das Zentrum für die weltweite Krebsforschung und Standort für biopharmazeutische Forschung und Produktion. Von Wien aus werden 33 Länder gesteuert – inklusive Osteuropa und Zentralasien, die Schweiz und Israel. Der Aufwand für Forschung und Entwicklung (F&E) liegt jährlich bei 300 Millionen Euro. Damit zählt Boehringer Ingelheim in Österreich zu den Unternehmen mit den höchsten F&E-Aufwendungen.

In der Krebsbekämpfung setzen Onkologieforscher bei Boehringer Ingelheim vor allem auf zwei Zugänge: „Die Krebsforschung hat in den vergangenen 20 Jahren große Fortschritte gemacht. Dabei haben sich zwei wichtige Stoßrichtungen herausgebildet – die zielgerichtete Therapie und die Immuntherapie“, erläutert Krebsexperte Kraut.

Bei der zielgerichteten Therapie nutzen die Wissenschaftler molekulare Veränderungen von Krebszellen. Durch molekulare Veränderungen werden aus harmlosen Regulatorenzellen oftmals Krebstreiber, sogenannte Onkogene: „Onkogene sind spezielle Gene, die das Wachstum und die Teilung von Zellen fördern und bei molekularen Veränderungen wie zum Beispiel durch Mutation oder Überexpression krebsauslösend wirken können“, so Kraut. „Man kann die molekularen Veränderungen aber auch nutzen, um diese Krebszellen spezifisch zu bekämpfen.“ Beim zweiten Ansatz, den das Boehringer Ingelheim-Team verfolgt, handelt es sich um die Immuntherapie. Hier versucht man, das körpereigene Immunsystem zu stärken, damit es selbst die Krebszellen bekämpfen kann.

Geboren in Wien, erfolgreich am MIT.
Die in den USA forschende Zellbiologin und Krebsforscherin Angelika Amon (1967-2020) wurde 2019 mit dem höchstdotierten Wissenschaftspreis der Welt, dem „Breakthrough Prize in Life Sciences“, ausgezeichnet.

15 Klinische Projekte

Die Forscherinnen und Forscher verfolgen beide Ansätze mit viel Nachdruck – und beachtlichem Erfolg. Die „Pipeline im Bereich der Onkologie ist gut gefüllt“, meint Paola Casarosa, Leiterin der globalen Innovationsabteilung des Konzerns. Unter Pipeline versteht man im Bereich der Pharmaforschung die Gesamtheit der Präparate, die sich in der aktiven klinischen Erprobung befinden. Laut Casarosas Kollegen Kraut arbeitet man „derzeit an fünfzehn klinischen Projekten basierend auf zwölf unterschiedlichen Sub­stanzen“.

Und der Krebsforscher nennt weitere Zahlen: „Wir starten im Bereich der Krebsforschung pro Jahr im Durchschnitt zehn neue Projekte und gehen bei circa sechs Projekten in die Lead Optimization – das bedeutet: Die Leit-Substanz wird weiter optimiert und getestet“, so Kraut. Die nächste Phase im Entwicklungsprozess eines Medikaments besteht im sogenannten „Start of Development“ – man befindet sich hier rund ein Jahr vor dem Start der klinischen Studien. „Das Erreichen dieser Phase ist ein echter Meilenstein“, meint Kraut. Drei bis fünf Sub­stanzen erreichen pro Jahr diese Phase bei uns in der Krebsforschung.“ Den nächsten wichtigen Meilenstein bildet der Beginn der klinischen Studien. Dieses Stadium erreichen pro Jahr im Schnitt zwei bis drei neue Substanzen.

Die einzelnen Schritte der Entwicklung eines neuen Medikaments klingen nach einem langwierigen Prozess. Und er ist es auch: Zehn bis 15 Jahre dauert es in der Regel, bis ein neues Präparat auf den Markt kommt – von der ersten Idee bis zur Zulassung. Deutlich schneller ging es bei einem Präparat, das gegen den Krebstreiber „HER2“ eingesetzt werden soll.

Viele wichtige Forschungsarbeiten an dem neuen Medikament wurden in den vergangenen Monaten im neuen Angelika Amon Gebäude durchgeführt. Bei HER2 handelt es sich um einen Krebstreiber, „der seit vielen Jahren bekannt ist“, erläutert Krebsexperte Kraut. Normalerweise ist HER2 ein harmloses, ganz normales Signalmolekül. Es befindet sich an der Oberfläche einer Zelle und hat die Aufgabe, zelluläre Prozesse zu regulieren – allen voran die Zellteilung und Zellvermehrung. Durch genetische Veränderungen kann HER2 aber ungewollte Aktivitäten aufnehmen und ein ungebremstes Wachstum der Zellen veranlassen. Es kommt zu Wucherungen und oftmals der Bildung von bösartigen Geschwulsten. Dazu Kraut: „Die Treibermutationen wirken wie ein Gaspedal in einem Auto, das ständig gedrückt wird.“

Akademische Neugier auf elf Etagen.
Seit September 2024 arbeiten 150 Wissenschaftler im neuen Angelika Amon Forschungsgebäude.

Bremser-Molekül

Den Boehringer Ingelheim-Forschern ist es gelungen, ein Molekül zu entwickeln, das man in alle bekannten Mutationen des HER2 Proteins einpassen kann. Es deaktiviert die ungebremste Vermehrung – oder, wie es Kraut formuliert – „der Fuß wird vom Gaspedal genommen“. Den Bedarf nach dem neuen Präparat schätzt er hoch ein. Denn HER2 treibt in vielen verschiedenen Krebsarten sein Unwesen – unter anderem beim Lungenkrebs. Das neue Medikament könnte daher einen großen Schritt in der Krebsbekämpfung darstellen.

Dafür sprechen auch die Ergebnisse der klinischen Studien. Bei zwei Drittel der mit dem Präparat behandelten Patientinnen und Patienten konnte ein „objektives Ansprechen“ nachgewiesen werden. Darunter verstehen die Wissenschaftler ein Schrumpfen des Tumors um mehr als 30 Prozent. Ebenso wichtig sind Daten zur „Duration of Response“, die die Forscher mittlerweile erhoben haben. Auf Deutsch: „Dauer des Ansprechens“. Damit meinen die Forscher, die Zeit, die vergeht, bis ein Tumor nach einer Therapie wieder wächst – je länger dieser Wert ist, desto besser natürlich. Die Daten in den klinischen Studien für das neue Präparat sind vielversprechend. Kraut: „Die Duration of Response ist im Regelfall deutlich länger als bei der Chemotherapie und kann im Idealfall über mehrere Jahre betragen. Danach bilden sich in der Regel wieder Resistenzen und neue Therapiemaßnahmen sind notwendig. Das kann zum Beispiel eine Immuntherapie sein.“

Das neue Medikament gegen HER2 soll bis Mitte des Jahres in den USA die Zulassung erhalten – einige Monate später in Japan. In Europa müssen sich die Patientinnen und Patienten dagegen noch etwas länger in Geduld üben: „Das wird bis 2028 dauern“, meint Boehringer Ingelheim RCV-Generaldirektor Dobrocky. Der Grund: Die Zulassungsregeln in der EU sind deutlich strenger als in den USA oder Japan. Die Begeisterung der europäischen Pharmaindustrie darüber hält sich verständlicherweise in Grenzen: „Wir erhalten fast in der ganzen Welt die Zulassungen rascher als in Europa“, meint Dobrocky. „Nicht nur in den USA, auch Japan und China sind schneller. Die Akzeptanz für neue Innovationen ist in den USA viel höher, weshalb der Fokus der Pharmaindustrie auch hier liegt.“ Für reichlich Frust in der Branche sorgte die europäische Zulassungsbehörde EMA zuletzt wegen der verzögerten Zulassung eines Alzheimer-Präparats. „In Europa forschen und produzieren wir auch, aber es dauert länger, bis wir die Produkte zum Patienten bringen.“

Auch das neue Bewertungsboard für die Zulassung neuer Therapien in österreichischen Spitälern sorgt in der Branche für Skepsis. „Man muss abwarten, wie das läuft. Österreich hatte immer einen raschen Zugang zu neuen Therapien. Es besteht das Risiko, dass nicht mehr alle Patienten diesen schnellen Zugang haben werden“, meint Dobrocky. Seine Forderung: „Was aus Österreich kommt, sollte auch hier rasch auf den Markt kommen.“  

Quellen und Links:

Neues Krebsforschungsgebäude: Innovationen in der Onkologie fördern:
www.boehringer-ingelheim.com/at/de/wissenschaft-innovation/innovationen-der-humanmedizin

Innovation in Onkologie und Immunonkologie:
www.boehringer-ingelheim.com/de/wissenschaft-innovation/innovationen-der-humanmedizin/fokusgebiete

Warum die Krebsforschung uns besonders am Herzen liegt:
www.boehringer-ingelheim.com/de/humanmedizin/krebserkrankungen/warum-die-krebsforschung-uns-besonders-am-herzen-liegt

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