Elisabeth Bräutigam ist seit 1. September Vorständin der niederösterreichischen Landesgesundheitsagentur LGA. Sie erklärt, warum eine Schwerpunktklinik im südlichen Weinviertel eine gute Idee ist.
Frau Dr. Bräutigam, woran denken Sie, wenn Sie lesen, dass die neue blau-schwarze Landesregierung in der Steiermark die Pläne für das Leitspital Liezen storniert? Schließlich haben Sie mit dem Krankenhaus Weinviertel Süd-West ein sehr ähnliches Projekt auf der Agenda.
Dr. Elisabeth Bräutigam: Sie sehen mich sehr ruhig. In Niederösterreich wurde der Diskussionsprozess ganz anders als in der Steiermark aufgebaut. Hier waren von Anfang an alle politischen Akteure und viele Fachexperten eingebunden. Daher bin ich zuversichtlich, dass es in Niederösterreich zu einem positiven Entschluss kommt.

Kommunikationsfrage. LGA-Vorständin Elisabeth Bräutigam muss heuer die Neuordnung der stationären Versorgung in Niederösterreich moderieren. Das Beispiel Liezen zeigt, wie es nicht funktioniert.
Wir führen dieses Gespräch Ende Jänner, wo noch keine Entscheidungen getroffen wurden. Laut Expertenpapier sollen vier kleine Kliniken in Hollabrunn, Korneuburg, Stockerau und Gänserndorf zugunsten eines großen Schwerpunktkrankenhauses geschlossen werden. Was soll daran im Vergleich zum Schicksal des Spitals Liezen so anders sein?
Bei uns liegen die Dinge anders. In Niederösterreich sind die Pläne deutlich weiter gefasst. Anfang 2024 wurde ein politischer Auftrag erteilt, das Thema Gesundheit im Bundesland neu zu denken. Dabei geht es um Themen wie die Akutversorgung, die Integration von Rettungsdiensten, die Bewältigung chronischer Erkrankungen sowie um die Notwendigkeit, sektorenübergreifend zu arbeiten. Und es geht – als ein Punkt unter mehreren – um die künftige Aufstellung der stationären Versorgung. Da waren und sind Vertreter aus allen relevanten Bereichen dabei – von der Ärztekammer über die Sozialversicherung bis hin zu uns als LGA.
Unmittelbar nach Ihrem Dienstantritt im Frühherbst wurden Sie schon zum Noteinsatz gerufen. Ein Positionspapier über das Krankenhaus-Projekt Weinviertel Süd-West war an die Öffentlichkeit gespielt worden. Erkennbar war, dass zwar alle Experten, aber weniger die Bevölkerung die Idee einer Spitalsneuordnung begrüßten. Sie mussten die Situation in der Öffentlichkeit vertreten. Wie haben Sie die Tage erlebt?
Die ganze Aufregung war der Veröffentlichung eines sogenannten „geleakten Papiers“ geschuldet. Dabei handelte es sich um ein älteres Dokument, das ganz sicher nicht aus der LGA stammt. Wir haben selbst während des gesamten Prozesses nichts Schriftliches produziert oder herausgegeben.
Warum der Veränderungsdruck? Sie wissen: Speed kills.
Wir müssen heute die Entscheidungen treffen, wenn wir für 2030 und 2040 gerüstet sein wollen. Dazu gilt es, auf die demografischen Entwicklungen zu reagieren. Diese entwickeln sich in jeder Region anders. Wir brauchen Antworten darauf, wie wir in zehn Jahren im Waldviertel eine moderne Gesundheitsversorgung sicherstellen und was die Thermenregion zu diesem Zeitpunkt benötigt.
Erhält jeder Bezirk eine andere Versorgung?
Jede Region verlangt eine eigene Betrachtung. Wir müssen davon ausgehen, dass sich die Bevölkerungsdichte in den Randregionen anders entwickeln wird als jene im Speckgürtel rund um Wien. Das heißt, ich muss im Waldviertel mit einem hohen Anteil an älteren Bürgern rechnen, die einen erhöhten Versorgungsbedarf haben werden. Ich werde aber in diesen Gebieten geringere Kapazitäten für Geburtsstationen vorhalten müssen. Die Kehrseite ist, dass wir in diesen Regionen ein erhöhtes Mitarbeiterproblem bekommen werden – noch stärker, als wir es ohnehin schon haben. Der einfache Grund: Dort gibt es immer weniger Menschen im erwerbsfähigen Alter. Das ist aber nur eine Dimension der Herausforderungen, mit denen wir es zu tun haben.
Sie spielen auf das Thema Ausbildung an?
Genau. Es geht im stationären Bereich um Qualifizierung. Der Ärzteberuf hat in den letzten Jahren eine extreme Spezialisierung erfahren. Den Chirurgen und die Internistin, die von Kopf bis Fuß alles behandeln, gibt es nicht mehr. Das bedeutet, dass ich in einem Krankenhaus mehr Ärzte benötige als früher. Von den Auswirkungen der gesteigerten Teilzeitbeschäftigung rede ich da noch gar nicht. Parallel dazu habe ich ein sehr enges Korsett an Fallzahlen, die es braucht, um die besagten Spezialisten überhaupt ausbilden zu können. Für uns in der LGA bedeutet das, dass wir Leistungen in den Häusern bündeln müssen, damit wir bestimmte Fallzahlen erreichen. Sonst dürfen wir gar keine jungen Kollegen ausbilden.
Was heißt das für die Praxis?
Das ist leicht erklärt: Die Operation eines Pankreaskarzinoms ist einer der komplexesten Eingriffe, mit denen die Chirurgie in größerem Maßstab konfrontiert ist. Dafür braucht es ein multiprofessionelles Team. Die Lebenserwartung für die Patienten ist dort am höchsten, wo die Leute mit der größten Erfahrung arbeiten. Dafür brauche ich Fallzahlen. Gleiches gilt für die Qualifizierung: Ein Mediziner in Ausbildung muss eine gewisse Anzahl an Patienten sehen und behandeln, um die notwendige Expertise aufzubauen. Wenn jeder alles irgendwo macht, dann schaffen wir das nicht. Aber das ist kein niederösterreichisches Thema, sondern ein österreichweites.
Auch ein steirisches?
Diese Logik gilt überall.
In der Steiermark hatte man Schwierigkeiten, der Bevölkerung zu erklären, warum ein zentrales Spital besser sein kann als mehrere kleine. Reden Sie in Niederösterreich mit den Bürgern?
Wir wissen: Kommunikation ist der Schlüssel. Es geht darum, der Bevölkerung klarzumachen, dass nicht jedes Krankenhaus jede Leistung bieten kann. Patienten müssen dorthin gebracht werden, wo die beste Versorgung gewährleistet ist – den sogenannten „Best Point of Service“. Das bedeutet, dass ein Krankenhaus nicht nur ein Schild braucht, sondern auch qualifizierte Mitarbeiter mit Erfahrung. Die Menschen müssen verstehen, dass ein Krankenhaus mit weniger Betten keine Spitzenversorgung in jedem Bereich gewährleisten kann. Es geht nicht darum, den Menschen etwas wegzunehmen, sondern ihnen die bestmögliche Versorgung zu bieten.
Elisabeth Bräutigam ist seit 1. September 2024 Vorstandsmitglied der NÖ Landesgesundheitsagentur und für die Kernbereiche Medizin und Pflege zuständig. Zuvor war sie ärztliche Direktorin des Ordensklinikums Linz Barmherzige Schwestern.
Sie promovierte 2001 zur Dr.in med. univ. an der Universität Wien und absolvierte ihr Medizinrechtsdiplom. 2012 folgte die Sponsion zur Mag.a iuris an der Universität Wien. Elisabeth Bräutigam ist Fachärztin für Allgemeinmedizin und für Radioonkologie.

Wie reagiert das Personal auf die anstehenden Veränderungen?
In der Organisation ist es relativ ruhig. Die Mitarbeiter wissen, dass sich etwas ändern muss, um das Bundesland sinnvoll zu versorgen. Sie wollen nur endlich hören, was auf sie zukommt. Das verstehe ich. Der Schwebezustand ist immer die schlechteste aller Befindlichkeiten.
Personalvertreter haben Sorge um den Arbeitsplatz geäußert …
Wer sich nur oberflächlich mit dem heimischen Gesundheitssystem beschäftigt, weiß, dass diese Sorge völlig unbegründet ist. Unser Ziel ist eine sinnvolle Leistungsplanung über die nächsten Jahre. Glauben Sie mir: Wir werden jeden brauchen.
Wie steht es um die Situation beim Pflegepersonal?
Im Vergleich zu anderen Bundesländern stehen wir in Niederösterreich im stationären Bereich recht gut da. Den Mangel spüren wir eher in den Pflegeheimen. Aber in unseren Krankenhäusern gibt es sogar Standorte mit Wartelisten für Pflegekräfte. Das ist eine erfreuliche Ausnahme im österreichischen Vergleich. Dennoch dürfen wir uns nicht zurücklehnen. Die Anforderungen an die Pflege werden steigen, insbesondere in den Bereichen Geriatrie und Palliativversorgung. Wir müssen die Arbeitsbedingungen weiter verbessern und neue Ausbildungswege schaffen. Der Beruf muss attraktiver werden.
Spielt in Ihren Überlegungen die Rekrutierung ausländischer Pflegekräfte eine Rolle?
Ja, wir werden trotz aller heimischen Attraktivierungsversuche langfristig personelle Unterstützung aus dem Ausland brauchen. Ich denke, dass es da eine Prüfstelle geben muss, die sich die Ausbildungen ansieht. Ohne Nostrifizierungen geht es nicht. Das müssen nicht immer Einzelfallentscheidungen sein. Wenn ich weiß, dass diese oder jene Schule oder Universität in einem Land von unseren Experten geprüft wurde, dann müsste dieses Siegel auch für andere Absolventen gelten.
Ein Wechsel hin zur Gesundheitspolitik. Sie sind nicht nur ausgebildete Fachärztin für Strahlentherapie und Radioonkologie, sondern auch absolvierte Juristin. Aus der Perspektive beider Fächer: Ist Österreichs Gesundheitssystem so kaputt, wie es zuletzt dargestellt wurde?
Die Realität ist grau – wie immer. Wer auf einen Kontrolltermin beim Hautarzt ein Jahr wartet, bei dem wachsen Zweifel, ob das System noch funktioniert. Die Menschen spüren persönlich, dass es im niedergelassenen Bereich einen Mangel gibt. Überlange Wartezeiten signalisieren der Bevölkerung, dass etwas nicht funktioniert. Das wirft die Systemfrage auf: Warum ist es unattraktiv, eine Kassenordination zu eröffnen? Warum bringen wir in manchen Fächern die Leute nicht in die öffentliche Medizin? Da passen offensichtlich die Rahmenbedingungen nicht.
Ich hatte vor Kurzem Besuch von einer Dame, die eine Selbsthilfeorganisation für Long-COVID gegründet hat. Die Gruppe kämpft mit massiven Schwierigkeiten, in der Niederlassung jemanden zu finden, der sie behandelt. Denn Long-COVID-Erkrankte sind sehr zeitaufwendige Patienten, die gefühlt fünfmal so viel Zeit in Anspruch nehmen wie andere Erkrankte. Das wird finanziell aber nicht berücksichtigt. Und die Kollegen mit Vertrag stehen wirtschaftlich und kassenseitig unter Druck, eine gewisse Anzahl an Patienten pro Stunde durchzuschleusen. Für diese Situation gibt es jetzt das Wort „Versorgungswirksamkeit“. Ein niedergelassener Kassenarzt, der in der Stunde nur zwei Patienten behandelt, macht nicht nur bankrott, sondern hilft auch zu wenigen Menschen. Aus dieser Zwickmühle müssen wir raus.
Ministerium, Kammer und Kassen äußern sich sehr ähnlich. Und trotzdem geht nichts weiter …
Wir müssen beginnen, uns in manchen Bereichen neu aufzustellen. Telemedizin kann uns dabei sehr helfen. Damit kann ich in ländlichen Regionen viel bewirken. „1450“ ist da nur ein Anfang. Die Bemühungen, die ich auf dem Gebiet sehe, sind im Vergleich zu den technischen Möglichkeiten marginal. Neue Ideen scheitern mit hoher Regelmäßigkeit an der sektorenübergreifenden Finanzierung des Gesundheitssystems. Alle finden die Idee toll, aber zahlen soll es der andere.
Wie in jedem Bundesland haben auch die Kliniken der LGA mit den wachsenden Patientenzahlen in den Ambulanzen zu kämpfen. Wie sieht es in Niederösterreich mit der Abstimmung von ambulant zu stationär aus?
Ich kann es nicht anders sagen: Uns rennen die Leute die Hütte ein. Wir haben 27 Standorte in Niederösterreich, und in manchen Regionen sind die Hausarztstellen rund um die Klinik nicht besetzt. Da ist es klar, dass die Patienten zu uns kommen. Wo sollen sie sonst hingehen? Das Problem ist: Wir sind in den Ambulanzen medizinisch und baulich auf ein notfallmedizinisches Setting abgestimmt und nicht auf einen umfassenden Ambulanzbetrieb. Es ist vollkommen in Ordnung, wenn wir den Primärversorgungsbedarf der Region decken sollen, falls dies der niedergelassene Bereich nicht kann. Dann bauen wir eine vorgelagerte Ambulanz oder erweitern die Tagesversorgung in der Klinik. Alles kein Problem. Nur: Wenn wir den Allgemeinmediziner in einer Region ersetzen, dann muss natürlich das Geld, das der Kollege sozusagen kriegen würde, ins Spitalsbudget fließen. Tut es aber nicht. Da gibt es noch viel zu reden.