herzliche Gratulation zu Ihrer neuen Funktion. Mit dem Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz haben Sie ein Schlüsselressort übernommen. Ich erlaube mir, mit Blick auf die wichtigsten Kennzahlen, ein paar Fragen zu formulieren:
Die Zahl der über 80-Jährigen wird von aktuell 545.000 (6 Prozent der Bevölkerung) bis 2030 auf 624.000 (6,7 Prozent) und bis 2050 auf 1.136.000 (11,5 Prozent) anwachsen. Entsprechend früher, ab 2025, wird es einen starken Anstieg des Anteils der über 65-Jährigen geben. Die Anzahl der Pflegegeldbezieher wird zwischen 2021 bis 2050 um 57 Prozent auf 730.000 Personen zunehmen und die zugehörigen Ausgaben von 2,74 Mrd. € auf 9,17 Mrd. € steigen. 80 Prozent aller Pflegegeldbezieher werden aktuell zu Hause gepflegt.
Wie können die Pflegekapazitäten im häuslichen Umfeld aufrechterhalten werden, um die Funktionalität des gesamten Pflegebereichs zu gewährleisten?
Altern ist nicht nur der wichtigste Risikofaktor für Pflegebedürftigkeit, sondern auch für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebserkrankungen, neurogenerative Erkrankungen, Erkrankungen des Bewegungsapparats und vieles mehr. Bei den Risikofaktoren Alkohol und Tabak liegt Österreich im europäischen Spitzenfeld und über die Hälfte der Bevölkerung ist übergewichtig oder adipös. Auch die psychischen Erkrankungen nehmen zu.
Wie gut ist Österreich auf diesen steigenden Versorgungs-, Betreuungs- und Pflegebedarf und die zunehmende biopsychosoziale Komplexität der Fälle vorbereitet?
Diese Entwicklungen bedingen auch einen höheren Personalbedarf. Bis zum Jahr 2030 sind 17.000 zusätzliche Pflegekräfte nötig (12.000 VZÄ), bis zum Jahr 2050 sogar 77.000 (57.000 VZÄ). Ebenfalls steigen wird der Bedarf an Ärzten, Therapeuten, Sozialarbeitern, Verwaltungspersonal und anderen relevanten Berufsgruppen.
Wie kann es gelingen, dass im öffentlichen Gesundheits- und Sozialsystem ausreichend gut ausgebildetes und motiviertes Personal in der erforderlichen Diversität auch weiterhin verfügbar ist?
Österreich ist Europaspitze in Sachen Ambulanzbesuche und Krankenhausaufenthalte. Das ist nicht nur teuer, sondern auch sehr personalintensiv. Die Hochleistungsversorgung wird viel zu oft unnötig in Anspruch genommen, die Patientensteuerung ist mangelhaft.
Was muss bis 2029 passieren, damit eine bedarfsgerechte und qualitativ hochwertige Versorgung auf der passenden Versorgungsebene erfolgt?
Die Gesundheitsausgaben werden von aktuell fast 60 Mrd. € (11 Prozent des BIP) deutlich steigen. In den kommenden Jahren gehen die geburtenstarken Jahrgänge in Pension, werden von Einzahlern zu Empfängern. Das Verhältnis der 65-Jährigen und Älteren zu den 20- bis 64-jährigen Erwerbstätigen wird immer ungünstiger. Hinzu kommt das geringe Wirtschaftswachstum, steigende Kosten für Personal, Infrastruktur, Medikamente und Technologie etc.
Was muss bis 2029 passieren, damit unser Gesundheits- und Sozialsystem auch in Zukunft finanzierbar bleibt?
Österreich liegt bei der gesunden Lebenserwartung unter dem EU-Durchschnitt. Das hat Auswirkungen auf den Versorgungs-, Betreuungs- und Pflegebedarf, aber auch die Erwerbstätigkeit, Pensionierung und vieles mehr.
Warum werden die zehn Gesundheitsziele, die bis 2032 den Handlungsrahmen für eine gesundheitsförderliche Gesamtpolitik bilden, im Regierungsprogramm nicht erwähnt?
Bleiben die abschließenden Fragen: Reichen die im Regierungsprogramm geplanten Maßnahmen aus, um den Standard in der Versorgung, Betreuung und Pflege zu halten, oder müssen wir uns damit abfinden, dass die Qualität in diesen Bereichen sinkt, die Ungleichheit und Privatisierung zunimmt, die gesunde Lebenserwartung stagniert und die Entwicklung des Gesundheitssystems von der Bevölkerung weiterhin negativ wahrgenommen wird?
Ich freue mich auf Ihre Antworten.
Herzliche Grüße
Martin Sprenger
Arzt und Gesundheitswissenschaftler, Graz
martin.sprenger@medunigraz.at

Absender. Dr. med Martin Sprenger ist seit 20 Jahren Gesundheitswissenschaftler und Leiter des Universitätslehrgangs Public Health am Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie der Medizinischen Universität Graz.