Eines von 10.000 Neugeborenen leidet an spinaler Muskelatrophie (SMA). Erst seit kurzem kann die Krankheit medikamentös oder per Gentherapie behandelt werden. Entscheidend ist die Diagnose unmittelbar nach der Geburt, hat jetzt eine internationale Studie mit Beteiligung zahlreicher österreichischer Kliniken ergeben. Rund 50 Prozent mehr der betroffenen Kinder lernen gehen.
„Es existieren zunehmend Hinweise, dass eine frühe Diagnose und Behandlung grundlegend für die weitere Entwicklung bei Kleinkindern mit spinaler Muskelatrophie (SMA) sind. So wurden Neugeborenen-Screening-Programme etabliert, um die Krankheit noch vor dem Auftreten von Symptomen zu entdecken. Bisher gab es aber noch keine kontrollierten Studien, welche den Nutzen solcher Programme belegen“, schrieb das internationale Wissenschafterteam mit Autoren von knapp 40 spezialisierten Kliniken vor allem in Deutschland und Österreich.
In der Studie wurde die Entwicklung von Kindern mit SMA mit einer Diagnose als Neugeborene oder erst bei Auftreten von Symptomen – das ist vor allem eine nicht erfolgende gesunde Entwicklung der motorischen Fähigkeiten (Sitzen, Gehen) – verglichen. Die Ursache der spinalen Muskelatrophie ist ein Verlust oder eine Mutation des sogenannten SMN1-Gens. Dieses Gen ist der Bauplan für das Protein mit dem Namen „Survival of Motor Neuron“ – kurz SMN. SMN ist entscheidend für das Funktionieren von Muskeln. Wird das Protein zu wenig oder falsch gebildet, werden jene Nervenzellen zunehmend geschädigt und gehen verloren, welche die Muskeln steuern. Das verursacht zunehmende Muskelschwäche, Muskelschwund und Lähmungserscheinungen.
Die frühe Diagnose und eine darauffolgende Therapie sollen das möglichst verhindern. Dazu gibt es seit einigen Jahren mehrere wirksame Möglichkeiten. 2017 wurde die erste medikamentöse Therapie für die spinale Muskelatrophie verfügbar. Sie verbessert eine Restfunktion in der Produktion des SMN-Proteins. Seit 2020 gibt es eine Gentherapie, welche ein fehlerfreies SMN1-Gen in die Zellen des Körpers einbringt.
Erst diese Möglichkeiten haben auch ein Neugeborenen-Screening auf SMA sinnvoll gemacht. In Österreich wird seit Juni 2021 im Rahmen eines wissenschaftlichen Projekts auch auf spinale Muskelatrophie (SMA) und angeborene Immunschwächen (SCID) untersucht. Dazu reicht, wie auch zum Screening auf mittlerweile mehrere Dutzend angeborene Stoffwechselerkrankungen, ein einziger Blutstropfen des Neugeborenen auf einem Löschpapierblatt.
In der neuen wissenschaftlichen Studie zum SMA-Screening wurden die Behandlungsergebnisse von 234 Kindern mit spinaler Muskelatrophie analysiert, die zwischen Jänner 2018 und September 2021 mit der Erkrankung diagnostiziert worden waren. Es handelte sich um Babys mit von Beginn an genetisch bedingtem schwereren Krankheitsverlauf. Die Daten stammten von 70 Kliniken. Die Beobachtungszeit betrug jeweils zumindest 18 Monate. Bei 44 Kindern (18,8 Prozent) war die erbliche Belastung schon im Neugeborenenalter festgestellt worden. Bei 190 Kindern war das erst bei Auftreten der ersten Symptome der Fall (81,2 Prozent).
Dementsprechend unterschied sich der Starttermin mit einer jener Therapien, welche den Krankheitsverlauf günstig beeinflussen können. Beim Neugeborenenscreening wurde mit der Behandlung im Mittel nach 1,3 Monaten begonnen, in der Vergleichsgruppe (nach Symptomen) erst nach 10,7 Monaten.
Die Behandlungsergebnisse sprechen für den möglichst frühen Beginn einer Therapie nach ebenso möglichst früher Diagnose: 90,9 Prozent der betroffenen Kinder erlernten unabhängig mögliches Sitzen, gegenüber sonst nur 74,2 Prozent. Ohne sonstige Hilfe gehen lernten 63,3 Prozent der Kinder aus der Gruppe, bei denen die Krankheit gleich nach der Geburt festgestellt wurde, hingegen nur 14,7 Prozent der Kinder mit Diagnose nach Symptomen und entsprechend späterem Behandlungsbeginn.
„Die Ergebnisse bezüglich der Fähigkeiten und somit das Ansprechen auf die Behandlung waren in der Gruppe mit Neugeborenem-Screening signifikant besser im Vergleich zu den Neugeborenen ohne Screening und mit Diagnose bei Beginn der Symptome“, schrieben die Wissenschafter um Erstautor Oliver Schwartz (Universitätsklinik Münster) in JAMA Pediatrics, einer Publikation der amerikanischen Ärztegesellschaft (AMA).
Die Fachpublikation finden Sie hier.
(APA/red.)