Das Gesundheitssystem der Schweiz – teuer, aber gut

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Autor: Heinz Brock

In der Schweiz werden zentrale Fragen des Gesundheitssystems auf dem Boden kantonaler Volksbefragungen entschieden. Dies führt zu einer hohen Zustimmung in der Bevölkerung – und einer Vielzahl an Parallelstrukturen.

Die Schweiz steht für Qualität – und hohe Preise. Dieser Ruf gilt nicht nur für Uhren und Schokolade, sondern auch für das Gesundheitssystem. OECD-Indikatoren zählen das Schweizer Gesundheitssystem zu den Top-Performern unter den Mitgliedsstaaten. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist für die gesamte Bevölkerung bei sehr freizügigen Wahlmöglichkeiten gesichert und es gibt praktisch keine Wartezeiten. Daher besteht ein hoher Grad an Zufriedenheit der Eidgenossen mit ihrem Gesundheitssystem. Bei der Vorhaltung von ärztlichem Personal und Krankenhausbetten liegt die Schweiz deutlich über dem OECD-Schnitt, bei der Beschäftigung von Pflegepersonal ist das Schweizer System sogar einsamer Spitzenreiter. Eine weitere Kennzahl für die Effizienz eines Versorgungssystems ist die Zahl der durch rechtzeitige und effektive medizinische Intervention vermeidbaren Todesfälle: Auch hier weist die Schweiz den besten Wert aller OECD-Staaten auf. – Die Spitzenwerte münden in einer Lebenserwartung, die mit 84 zwei Jahre über jener der Österreicherinnen und Österreicher liegt und die Schweiz OECD-weit zu den Top 3 (neben Spanien und Japan) zählen lässt. Auch die Übersterblichkeit durch die COVID-19-Pandemie war, ähnlich wie in Österreich, geringer ausgeprägt als im Durchschnitt der übrigen OECD-Länder.

Die hohe Qualität des eidgenössischen Gesundheitssystems hat ihren Preis. In Europa wendet unser Nachbarland sowohl den höchsten Anteil am BIP als auch das meiste Geld pro Kopf für die Gesundheitsversorgung auf.

Finanzierung und Organisation

Obwohl die Schweizer Bürger generell sehr gut gegen die Kosten für medizinische Versorgung abgesichert sind, belasten private Ausgaben (z.B. für Zahnbehandlungen), Zuzahlungen und Selbstbehalte die Haushalte mit geringerem Einkommen überproportional schwer. Es hängt auch vom Wohnort ab, welche finanzielle Belastung Einzelpersonen oder Haushalte für Gesundheitsleistungen zu tragen haben.

Eine organisatorische Besonderheit des Schweizer Gesundheitssystems ist die Mischung aus Föderalismus, Liberalismus, Korporatismus und dem Einfluss der direkten Demokratie. Auf Bundesebene werden die rechtlichen Rahmenbedingungen für Pflichtversicherungen, Ausbildung bzw. Akkreditierung des Fachpersonals, Vorgaben für Medizinprodukte und die Epidemiemaßnahmen geregelt. Das Hauptgewicht der Verantwortung im Gesundheitsbereich liegt bei den Kantonen. Die Mehrheit der Krankenhäuser befindet sich im kantonalen Besitz und etwa die Hälfte der Finanzierung für den stationären Sektor tragen die Kantone. Weiters haben die Kantone die Langzeitpflege und die Notfallsysteme zu organisieren. Über die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK/CDS) koordinieren die 26 Kantone ihre Gesundheitspolitik.

Kleine Einheiten. Schweizer Spitäler haben deutlich weniger Betten als österreichische. Dafür verfügen sie über einen spürbar höheren technischen Standard.

Entscheidungs- und Finanzierungswege im Schweizer Gesundheitssystem sind also stark dezentral verteilt. Wichtigste Finanziers sind die Pflichtversicherungen, die als private Nonprofit-Unternehmen in freiem Wettbewerb miteinander stehen. Die drei Verbände, in welche die Vielzahl der Pflichtversicherungen eingegliedert sind, verhandeln als Interessenvertretungen ebenso wie die Leistungserbringer-Verbände, die Berufsverbände und die Tariforganisationen die vertraglichen und gesetzlichen Grundlagen der Gesundheitsversorgung mit aus. Als charakteristische Besonderheit der Schweizer Demokratie gilt der hohe Grad von unmittelbarer Bürgerbeteiligung an politischen Entscheidungsprozessen. So können nahezu alle gesundheitsbezogenen Gesetzesvorlagen über bundesweite Volksbefragungen beeinflusst werden. Viele Kompetenzen der medizinischen Versorgung liegen bei den Kantonen. Viele relevante gesundheitspolitische Themen werden unmittelbar von der lokalen Bevölkerung entschieden.

Dezentrale Strukturen finden sich auch im Spitalsbereich. Bei etwa gleicher Anzahl von Krankenhäusern beträgt die Bettenanzahl nur etwa zwei Drittel der österreichischen, was bedeutet, dass die Häuser durchschnittlich deutlich kleiner sind. Hinsichtlich der personellen und technologischen Ausstattung ist das Niveau der Schweizer Kliniken allerdings bedeutend höher. Kleine Spitäler, in welchen Skaleneffekte nicht zur Geltung kommen, und ein Überangebot an diagnostischen Geräten führen zu Effizienzverlusten, welche von der Politik zunehmend als Problem betrachtet werden.
Von den derzeit 276 Krankenhäusern der Schweiz befinden sich mehr als die Hälfte in privatem Besitz. Private Eigentümer betreiben jedoch überwiegend kleinere Spezialkliniken, sodass etwa zwei Drittel der gesamten Krankenhausbetten in öffentlichen oder gemeinnützigen Häusern aufgestellt sind. Die Leistungsabrechnung der Spitäler erfolgt nach dem SwissDRG-System einheitlich, allerdings unterscheiden sich die Basiswerte der DRG-Punkte wiederum kantonsabhängig. Die Finanzmittel dafür werden von den Versicherungen und in zunehmendem Maße von den Kantonen aufgebracht.

Innovative Versicherungsmodelle

Auch die ambulante Versorgung wird über ein bundesweit einheitliches Tarifmodell (TARMED) remuneriert. Der Wert eines TARMED-Punktes kann regional in Abhängigkeit von den Verhandlungen der kantonalen Leistungserbringer-Verbände mit den Versicherungsgesellschaften sehr unterschiedlich sein. Die Mehrheit der Bürger ist in sogenannten alternativen Verträgen versichert. Diese extrem variantenreichen Verträge, die zudem lokale Unterschiede aufweisen, werden in der Regel entweder mit unabhängigen Ärzte-Netzwerken (Hausarztmodell) abgeschlossen oder mit Gruppenpraxen, die von Versicherungen betrieben werden (HMO-Modell). Eine weitere alternative Versicherungsform wird mit dem Telmed-Modell angeboten. Dabei ist für den Versicherten bei neu auftretenden Gesundheitsproblemen die erste Anlaufstelle eine fachkompetente telefonische Beratungsstelle, die Verhaltensempfehlungen abgibt oder den Patienten an einen Arzt, ein Spital oder einen Therapeuten weiterleitet. In allen Fällen schränken die Verträge die Wahlfreiheit durch Bindung an „Gatekeeper“ ein und bieten dafür Tarifvergünstigungen. Gesundheitsökonomen sehen darin einen Grund für die um ein Drittel geringere Inanspruchnahme der ambulanten Versorgung im Vergleich zu Österreich.

Gelobtes Land für Fachkräfte?

Die sehr guten Arbeitsbedingungen für Ärzte in der Schweiz bieten starke Anreize für ausländische Spezialisten, sodass bereits ein Überangebot befürchtet wurde. Daher erhielten die Kantone die gesetzliche Möglichkeit, Zulassungen für die Abrechnung von Versicherungsleistungen einzuschränken. Es machen nicht viele Kantone von dieser Möglichkeit Gebrauch: Die Überalterung besonders unter den praktizierenden Allgemeinmedizinern verlangt in der Realität nach Zuwanderung ausländischer Ärztinnen und Ärzte. Immigriertes ärztliches und pflegerisches Personal übersteigt in manchen Jahren das im Land ausgebildete Personal. Ob das Schweizer Gesundheitswesen sich in Zukunft weiter auf ausländische Pflegekräfte verlassen kann und die fast 6000 freien Stellen (trotz der international höchsten Anzahl an Pflegekräften) besetzen kann, bleibt fraglich. Im Vergleich zu den ex­trem hohen Lebenshaltungskosten liegen die Pflegelöhne sehr tief unter dem Durchschnittslohn. Folglich investiert die Schweizer Regierung seit einigen Jahren vermehrt in die Ausbildungskapazitäten für Gesundheitspersonal.

Die Schweizer Bevölkerung genießt einen der weltweit höchsten Standards der Gesundheitsversorgung. Zusammen mit den hervorragenden ökonomischen und infrastrukturellen Lebensbedingungen ist darin wohl der Grund für den ausgezeichneten Gesundheitszustand der Population zu sehen. Das auf kleinteiligen und dezentralen Strukturen aufgebaute System ist in einem ständigen Verhandlungs- und Konsensprozess zwischen Korporationen, regionalen politischen Instanzen und direkter Wählerbeteiligung gewachsen. Reformansätze der letzten Jahre lassen allerdings Tendenzen zu größerer Vereinheitlichung und stärkerem Einfluss der Bundesebene erkennen. Diesem Trend liegt das Bestreben nach größerer Effizienz und Versorgungsgerechtigkeit zugrunde.    //

Quellen und Links:
[1] Health Systems in Transition. Vol.17, No.4, 2015
OECD-Lebenserwartung https://www.oecd-ilibrary.org/sites/ae3016b9-en/1/3/3/1/index.html?itemId=/content/publication/ae3016b9-en&_csp_=ca413da5d44587bc56446341952c275e&itemIGO=oecd&itemContentType=book
[2] ÖKZ 08-09/2021, S.19
[3] ÖKZ 11/2021, S.24
[4] OECD (2019), “Remuneration of nurses”, in Health at a Glance 2019: OECD Indicators, OECD Publishing

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