Japan – Pflegeland der Zukunft?

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Autor: Markus Golla

Japan ist das Land der gelebten Digitalisierung. Eine Studienreise sollte zeigen, wie weit Roboter die Ressourcennöte des Pflegebereichs lösen können. Fazit: Die digitalen Pflegephantasien wachsen auch in Japan nicht in den Himmel.

Roboter, Digitalisierung, SciFi-Technologien. Wenn man diese Begriffe mit einem Land in Verbindung bringen will, denken viele Menschen in Europa an Japan. Hier wurde bereits am Flughafen alles so weit automatisiert, dass Angestellte eigentlich nur noch eine „soziale“ Funktion haben. In vielen Restaurants bestellt man nur noch mit Tablets, die Taxitüren öffnen sich automatisch, und im Einkaufszentrum gibt es einen Sicherheitsroboter, der tagsüber vor dem Aufzug Wache hält und nachts Patrouille fährt. Man könnte schnell vermuten, dass dieser Fortschritt auch in die Pflege Einzug gehalten hat. Rasch freut man sich über die Lösungen, die auch im Gesundheitswesen angeboten werden. Webseiten von ROBEAR, PARO und anderen Systemen nähren den Eindruck, dass es auch im Pflegebereich eine solche Hightech-Oase geben muss. Eine Studienreise nach Japan zeigt: Die Realität in Japan ist eine andere.

Keine Selbstläufer. Der Einsatz von Robotern oder anderen Assistenzgeräten ist in Japan genauso rar wie in Österreich. Überraschend: Langzeitpflege ist in der überalterten japanischen Gesellschaft nur eine Randnotiz. Entsprechende Institutionen sind selten.

Fact Finding-Mission

Ich besuchte auf meiner Japanreise im Juni zwölf Pflegeheime und den Studiengang für Gesundheits- und Krankenpflege, um über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Österreich und Japan zu diskutieren. Die Überalterung in Japan ist um zehn Prozent höher und damit deutlich fortgeschrittener als in Österreich. Meine Annahme war, dass in dem Hochtechnologie-Land der Einsatz technischer Hilfsmittel im Gesundheitsbereich – im Speziellen in der Pflege – weit verbreitet sei, da die Notwendigkeit schon länger besteht.

Das ist jedoch weit gefehlt. In keinem der Pflegeheime fand ich den Einsatz von Robotik im Pflegealltag. Die Bewohner werden, wie in Österreich, von Pflegekräften bei der Körperpflege unterstützt bzw. übernehmen diese Aufgaben, wenn es den Bewohnern selbst nicht mehr möglich ist. Unterhaltungsroboter sind zwar gelegentlich zu finden, übernehmen aber keine pflegerischen Tätigkeiten. Einzig die Pflegedokumentation konnte ich bei meinen Besuchen in digitaler Form sehen.

Nach dieser Ernüchterung versuchte ich mein Glück an der größten Universität Japans. Die Universität in Tokio konzentriert sich in der Forschung zwar ebenfalls auf die Digitalisierung, die Entwicklungsstufe ist jedoch mit Europa vergleichbar. Robotik gibt es hier nur im Science Lab der Universität. Die PhD-Studierenden beschäftigen sich hier mit Bettensensorik, Schalluntersuchungen (über Handyapplikationen) für periphere Zugänge in die Vene, VR-Technologien für Übungssequenzen und Robotik zur Animation. Dies ist jedoch nur ein Teilbereich, denn der Schwerpunkt der Universität liegt ganz klar im Bereich personenzentrierte Pflege, Familien- und Gemeindepflege sowie Gerontologie. Hier fanden sich auch gleich Ansätze für zukünftige gemeinsame Forschungsprojekte.

Unterschiedliche Ausbildungssysteme

Der nächste Punkt auf meiner Liste war ein Vergleich der Pflegeausbildung zwischen Österreich und Japan. Vielleicht gibt es in Japan zukunftsweisende Ansätze, die unseren weit überlegen waren? Nachdem ich die Ehre hatte, das österreichische Pflegesystem und die Herausforderungen der Zukunft zu präsentieren, folgte ein Vortrag der dort tätigen Forscher. Trotz der früheren Akademisierung blieb man in Japan weiterhin primär bei der Diplomausbildung. Der akademische Weg ist dort hauptsächlich für Lehrende, Führungskräfte, APNs und Forscher vorgesehen. Schnell gab es sehnsüchtige Blicke auf den generalisierten Übergang zur akademischen Pflege in Österreich.

Weniger enthusiastisch wurde es dann bei den Themen „Assistierter Suizid“ und „Erstverschreibungen von Medikamenten durch Pflegekräfte“. Während Ersteres nur die Frage aufwarf, wie sich denn Pflegekräfte mit dieser Entscheidung fühlen würden – so ein Thema sei unvorstellbar –, gab es für die Erstverordnung nur skeptische Blicke und die Frage: „Haben Pflegekräfte mit den paar Stunden Pharmakologie wirklich genug Wissen, um dies optimal beurteilen zu können?“ Ganz schockiert waren die japanischen Gesprächspartner darüber, dass die Pflegeausbildung nur drei Jahre dauert. Wie können Themen wie die Erstverordnung von Medikamenten sicher bewältigt werden, wenn man im Vergleich zu den meisten anderen Ländern ein Jahr weniger Ausbildung hat und einen solchen Schritt nicht einmal in Japan wagen würde?

Unterhaltung statt Linderung. Das ist Aibo. Der interaktive Robo-Hund wird als Haustierersatz in verschiedenen japanischen Pflegeeinrichtungen eingesetzt. Begegnungen mit assistierenden Pflegerobotern gab es auf der Reise durch Japans Pflegesystem ansonsten keine.

COVID-Besucherregeln gelten noch heute

Die Bewohner der Langzeitpflegeeinrichtungen würden lieber zu Hause leben und sehen das Pflegeheim als letzten Ort vor dem Tod. In der japanischen Gesellschaft wird das Pflegethema nur selten diskutiert – die entsprechenden Herausforderungen und Einrichtungen werden gedanklich ausgeblendet. Die Menschen versuchen, sich so lange wie möglich gesund zu halten, und wollen nach Möglichkeit gar nicht in eine Pflegeeinrichtung. Denn auch in der Nation der 100-Jährigen ist die Langzeitpflege ein kritisches Thema, das für viele im Alltag ausgeklammert wird, solange man nicht direkt betroffen ist.

Bemerkenswert fand ich auch die Tatsache, dass die Covid-19-Besucher:innenregelungen für Gesundheitseinrichtungen bis heute in Geltung sind. Mir erscheint dies als unbegrenzt verlängerter Lockdown des Gesundheitswesens. Dies war auch der Grund, warum wir in den Einrichtungen selbst keine Fotos machen durften.

Der letzte Themenblock widmete sich dem Personalmangel und den Gehältern in der Pflege. Die Jahresgehälter für di­plomiertes Pflegepersonal liegen in Japan zwischen 25.000 und 31.000 Euro, was dem durchschnittlichen Jahreseinkommen der Bevölkerung entspricht. Die Miete für eine Einzimmerwohnung in Tokio beträgt 600 Euro, für eine Zweizimmerwohnung 1.500 Euro. In kleineren Städten sind die Mieten natürlich deutlich niedriger. Damit ist die Verdienst-Miet-Spanne in Österreich wesentlich besser als in Japan. Der Personalmangel wird im Jahr 2040 auf 690.000 Pflegekräfte geschätzt. Natürlich ist die Bevölkerung mit 125 Millionen Einwohnern deutlich größer, doch knapp 700.000 Pflegekräfte zusätzlich auszubilden, stellt auch hier die Pflegelandschaft vor eine große Herausforderung. Man hofft natürlich auch auf der japanischen Insel auf den Zuzug von Pflegekräften aus dem Ausland. Hier wird vor allem in Vietnam und auf den Philippinen rekrutiert, da es sich ebenfalls um asiatische Länder handelt. Es verdienen sich Agenturen eine goldene Nase, obwohl die Anzahl nur einen Tropfen auf den heißen Stein darstellt. Ebenso wie in Europa ist dies jedoch nicht die Lösung, um die Situation zu meistern.

Ich hätte in Japan eine andere Situation erwartet: hebende und pflegende Roboter, eine erfolgreiche Vollakademisierung, Lösungen für die Überalterung und das Personalrecruiting. Doch der romantische Gedanke, dass ein traditionelles, aber futuristisches Japan eine Antwort auf unsere Probleme hat, war eben nur ein Wunschtraum. Weiterhin kann man sagen, dass Europa eines der besten Pflegesysteme der Welt besitzt. 

Prof.(FH) Markus Golla, MScN, BScN
Institutsleiter Institut Pflegewissenschaft & Studiengangsleitung „Gesundheits- und Krankenpflege“ Krems/Mistelbach/Horn

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