In Österreich wurde binnen sieben Jahren ein Netz von sechs spezialisierten Kinder- und Jugend-Rehabilitationszentren aufgebaut. Der seit dem Vorjahr bestehende Anspruch auf familienbegleitete Kinderreha verändert alles.
Kinder vergessen nicht. Nach der Pandemie kam eine 12-jährige Patientin in die Kinder- und Jugendreha Bad Erlach, die sich die Hände wund gewaschen hatte. Sie verbrauchte am Tag ein ganzes Seifenstück zum Händewaschen. Nach langen Gesprächen mit den Psychotherapeutinnen des Hauses zeigte sich: Die Kleine hatte Angst, ihre Großeltern anzustecken und zu töten, wie sie sagte. Aus eigenem Antrieb konnte das Mädchen den Waschzwang nicht mehr
stoppen.
Traumatisierungen haben unter Kindern und Jugendlichen seit COVID dramatisch zugenommen. Vor sieben Jahren hätte dem Mädchen in Österreich nur schwer geholfen werden können. Heute existiert für seelisch und physisch verletzte Kinder ein hochspezialisiertes Betreuungssystem: Eine Kinder- und Jugendlichen-Rehabilitation, die diesen Namen verdient, wurde in Österreich erst 2016 in Angriff genommen. 2017 wurden die ersten spezialisierten Nachsorgezentren eröffnet. Bis dahin mussten die jungen Patienten in eine Reha-Einrichtung für Erwachsene oder ins Ausland.
Im März 2023 hat mit dem Kinderreha-Zentrum im Tiroler Wiesing der sechste Kinder- und Jugendreha-Standort eröffnet. Seither stehen in Österreich 343 Betten für Kinder und Jugendliche plus 50 Betten für die familienorientierte Rehabilitation bei hämatoonkologischen Erkrankungen zur Verfügung. Dazu kommen fast ebenso viele Betten für Begleitpersonen. Damit ist die Umsetzung des Österreichischen Strukturplans Gesundheit 2012 und dem dazugehörigen Kapitel der Kinder- und Jugendlichen-Rehabilitation fürs Erste beendet.

Vertraute Gesichter. Mit dem Anspruch auf Elternbegleitung
für Kinder bis 14 Jahre wurde ein Meilenstein für ein erfolgreiches Kinderreha-System gesetzt.
Der am Ende zügige Aufbau einer Jugendreha in Österreich ist Ergebnis von medizinischer Evidenz und politischen Drucks. Markus Wieser ist Gründer und Obmann des Fördervereins der Kinder- und Jugendrehabilitation. Im Brotberuf ist Wieser Präsident der Arbeiterkammer Niederösterreich. 2008 erkrankte seine damals 8-jährige Tochter an Leukämie. Wieser musste nach ihrer glücklichen Heilung feststellen, dass es keinerlei Kinderplätze für eine Nachversorgung in Österreich gab. Mit der Gründung des Fördervereins sorgte er – auch nach Ansicht der seit Jahrzehnten aktiven Kinder-Mediziner und Medizinerinnen der tonangebenden Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ) – für die notwendige politische und mediale Aufmerksamkeit, um das Thema Kinderreha entscheidend anzuschieben. Für die Umsetzung gab es damit zwei Ansatzpunkte: Der Förderverein entwickelte zum einen den nötigen politischen Antrieb, die ÖGJK trieb die inhaltliche Ausgestaltung an. 2015 kam es zur alles entscheidenden Einigung zwischen Sozialversicherungsträgern und Bundesländern über ein jährliches Gesamtfinanzierungsvolumen von 33 Mio. Euro. Damalige Gesundheitsministerin: Sabine Oberhauser. Der Grund, warum Kasse und Länder gemeinsam an den Verhandlungstisch gezwungen wurden, ist ein Abbild des zersplitterten heimischen Gesundheitssystems: Bis dahin waren bei Kindern die Länder für die Rehabilitation von angeborenen Störungen zuständig, die Sozialversicherung bei erworbenen Störungen. Das kann man eigentlich nicht erfinden.

Anschubkräftig. Markus Wieser, AK-Präsident für NÖ, gründete aus persönlicher Betroffenheit einen Förderverein für Kinder- und Jugendrehabilitation. Erst dann wurden die langjährigen Forderungen der Kinder- und Jungendmediziner nach speziellen Reha-Einrichtungen gehört.
Keine kleinen Erwachsenen
Kinder verlangen nach Wohlfühlatmosphäre. Die Architektur der Kinderreha-Zentren unterscheidet sich grundlegend von den weitgehenden Zweckbauten klassischer Rehabilitationszentren: Anstelle von Ein- und Zweibettzimmern gleichen deren Wohneinheiten eher Apartments, in denen auch gekocht und gearbeitet werden kann. Wichtiger Bestandteil jedes Kinderreha-Konzepts sind Kindergärten und schulische Betreuung. Denn die betroffenen Kinder sind durch Unfall oder Krankheit in vielen Fällen seit Wochen oder Monaten nur an Krankenhausumgebung gewöhnt. Sozialer Umgang mit anderen Kindern wird so zum gewonnenen Tag.
„Es war ein weiter Weg, bis die Zentren hochgezogen wurden. Und ich bin froh, dass es sie endlich gibt. Aber wir haben durch die Pandemie zwei Jahre verloren“, ärgert sich Reinhold Kerbl, Primar der Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde am LKH Hochsteiermark Standort Leoben. Er ist Generalsekretär der ÖGKJ und einer von mehreren Wegbereitern der Kinder- und Jugendreha in Österreich: „Kinder wurden in der Rehabilitation lang behandelt wie kleine Erwachsene“, ist Reinhold Kerbl heute noch irritiert. Dabei sei klar, dass Kleinkinder ebenso wie Teenager bis 18 Jahre „nach einem anderen Zugang verlangen als ältere und alte Menschen“.
Wenn sich Kinder nach schwerer Erkrankung oder Verletzung einer mehrwöchigen Rehabilitation unterziehen müssen, tun sie dies in Begleitung zumindest eines Elternteiles. Doch für viele Eltern, die im Arbeitsleben stehen, war die wochenlange Abwesenheit mit großen Schwierigkeiten verbunden. Aus Angst vor einer Kündigung nahmen viele Erziehungsberechtigte Urlaub oder Zeitausgleich, um ihren Sprösslingen bei der Reha in einer oft weit vom Wohnort entfernten Einrichtung beizustehen. Seit 1. November 2023 besteht ein Rechtsanspruch für Eltern zur Begleitung der Kinder beim Reha-Aufenthalt – inklusive Kündigungsschutz. Eltern müssen nicht mehr Urlaub nehmen, wenn sie ihr Kind bei einer länger andauernden Rehabilitation begleiten. Insgesamt vier Wochen lang können die Erziehungsberechtigten künftig ihrem Kind zur Seite stehen, wobei sich Elternteile diese Zeit aufteilen können. Im Rahmen der sogenannten Familienrehabilitation –, die etwa bei onkologischen Indikationen vorgesehen ist –, haben beide Elternteile Anspruch auf eine vierwöchige Freistellung. Zugleich erhalten Eltern, die ihr Kind bei der Reha begleiten, zur finanziellen Absicherung für diesen Zeitraum Pflegekarenzgeld. Auch Geschwisterkinder sind in das Reha-Programm der krebserkrankten Schwester oder des Bruders aufgenommen. Wenn ein Elternteil so lange von zu Hause abwesend ist, muss auch die Betreuung der restlichen Kinder sichergestellt sein. Teenager, die über 12 Jahre alt sind und ohne Begleitung in die Reha kommen, haben ebenfalls einen erhöhten Bedarf an Betreuung, der über sozialpädagogisch geschultes Personal abgedeckt wird.

Streitbar. Reinhold Kerbl ist Primar der Kinder- und Jugendabteilung am LKH Hochsteiermark/Leoben. Er fordert eine Anpassung der Bettenzahl an die jeweiligen Indikationen: Der Bedarf an psychiatrischen und psychosozialen Rehabilitationsbetten sei höher als geplant.
Neusortierung
Geht es nach Primar Reinhold Kerbl, dann muss die im Rehabilitationsplan 2009 festgelegte Bettenverteilung nachjustiert werden. Es hat sich herausgestellt, dass der Bedarf an pulmologischen Rehabilitationsbetten geringer ist als gedacht, während für psychiatrische und psychosoziale Rehabilitation mehr Plätze gebraucht werden, als ursprünglich veranschlagt. Die Häufigkeit psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen hat in den letzten Jahren rasant zugenommen. Hinzu kommt, dass sich zwei Rehabilitationszentren – Rohrbach und Bad Erlach – infolge der COVID-19-Pandemie vermehrt auf die Rehabilitation von Long COVID bzw. Post COVID bei Kindern und Jugendlichen konzentrieren müssen.
Ein weiteres Problem ist, dass die Indikationen der Kinder- und Jugendrehabilitation bei vielen Ärzten zu wenig verankert sind. „Wir müssen daran arbeiten, dass sich die Information noch weiter verbreitet“, betont der Kinder- und Jugendpsychiater. Bei manchen Kollegen und Kolleginnen könnte auch die Scheu vor dem Ausfüllen des Antragsformulars eine Rolle spielen, vermutet Kerbl. Diese Angst möchte er seinen Kollegen nehmen: „Das Ausfüllen des Vordruckes dauert nur ein paar Minuten“, unterstreicht er. Das zweiseitige Formular, das für alle Indikationen und alle sechs heimischen Einrichtungen gilt, bestehe hauptsächlich aus Passagen zum Ankreuzen.
Und dann gibt es noch ein ganz grundsätzliches Problem. „Die Rehabilitationszentren haben mit den gleichen Problemen zu kämpfen wie das gesamte Gesundheitssystem: mit einem eklatanten Mangel an Fachkräften“, stellt Kerbl klar. Es fehlt an allen Ecken und Enden an Ärzten und Ärztinnen sowie Pflegepersonal. Fehlende Fachärzte haben zur Folge, dass bestimmte Heilanzeigen in den Zentren nicht mehr geleistet werden können, obwohl sie dafür vorgesehen sind. Derzeit kann eine Kinder-Rehabilitation für kardiologische Erkrankungen ausschließlich in Rohrbach durchgeführt werden.
