Gerald Gartlehner: „Viele Menschen wollen hören,dass Fehler passiert sind“

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Autor: Josef Ruhaltinger

Gerald Gartlehner, Leiter des Departments für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation an der Universität Krems und Co-Direktor von Cochrane Österreich, im ÖKZ-Brennpunkt-Interview über die Corona-Politik der damaligen Bundesregierung und welche gesellschaftlichen Lehren man aus der Pandemie ziehen kann.

Herr Gartlehner, auch die ÖKZ will wissen, wie dies war, als die ersten Nachrichten eines neuartigen Virus nach Europa gedrungen sind. Erinnern Sie sich noch, wann Sie das erste Mal von dem chinesischen Virus gehört haben?
Gerald Gartlehner: Ich kann mich sehr gut daran erinnern. Das war Anfang Jänner 2020. Ich habe einen Anruf von der WHO bekommen mit der Frage, ob wir untersuchen könnten, wie wirksam Quarantäne gegen dieses neue Virus in China sein würde. Natürlich gab es damals noch keine spezifischen Studien dazu. Für die Antworten haben wir auf Studien über SARS und Modellierungen zurückgegriffen.

Wo haben Sie in diesen Tagen gearbeitet?
Ich war mit meinen Kollegen und Kolleginnen am Institut in Krems. Wir sind ein Collaborating Center der WHO und stark in das Cochrane-Netzwerk integriert. Wir haben die halbe Belegschaft von anderen Projekten abgezogen und nur über die Wirksamkeit von Quarantänemaßnahmen gearbeitet. Das war mein erster Kontakt mit dem Thema.

Gerald Gartlehner (geb. 1969) ist Leiter des Departments für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation an der Universität Krems und Co-Direktor von Cochrane Österreich. Der ausgebildete Allgemeinmediziner und klinische Epidemiologe gilt als einer der bekanntesten Pandemie-Erklärer Österreichs. Er war Mitglied der sogenannten „Corona-Kommission“.

Spätestens ab Februar war absehbar, dass auch Europa betroffen sein wird.
Die Bilder aus Bergamo waren ein Weckruf. Das Gesundheitssystem in Norditalien ist gut, vergleichbar mit Mitteleuropa. Und dass es dort so schlimm war, war ein deutliches Zeichen dafür, dass es uns auch treffen kann.

Die Politik musste frühe Entscheidungen treffen. War der wissenschaftliche Input gefragt?
Ich spreche jetzt nur aus meiner Warte: Der internationale Austausch mit der WHO und über das Cochrane Collaboration-Netzwerk wurde schnell immer intensiver. Aber in Österreich? Da wurde nur informell zu Evidenz über die Wirksamkeit von Maßnahmen angefragt. Sonst tat sich da wenig. Die Ampelkommission war zwar eine gute Idee des Gesundheitsministeriums, um Entscheidungen zu Maßnahmen auf epidemiologische Daten und der Belastungssituation in den Spitälern zu stützen, aber das wurde nach zwei oder drei Wochen politisch abgedreht. Das Bundeskanzleramt hat gesagt, dass die Pandemie-Entscheidungen politisch bleiben müssen.

Wo wurden retrospektiv die größten Fehler gemacht?
Jetzt klug reden ist einfach. Ich würde sagen, die größten Fehler waren die Impfpflicht, die langen Schulschließungen, der Lockdown der Ungeimpften und die große Geldverschwendung durch das ziel- und planlose COVID-Testen. Dazu kamen viele Kommunikationsfehler, die die Polarisierung in der Gesellschaft noch zusätzlich erhöht haben. Mein Eindruck war, dass politische Überlegungen bei vielen Entscheidungen dominant waren. Wenn wissenschaftliche Aussagen politisch gepasst haben, wurden sie aufgegriffen. Wenn nicht, wurden sie ignoriert.

Sprechen wir da von Parteipolitik?
Ja, oder Klientelpolitik. Vertreter der Seil- und Bergbahnen haben sich meist durchgesetzt und die Gewerkschaften befürworteten Schulschließungen.

Was sind die gesellschaftlichen Lehren?
In Österreich wurden viele Debatten sehr moralisierend geführt. Da gab es viele Kränkungen, die bis heute unvergessen bleiben. Ich spreche hier nicht von den Leugnern und Hetzern, die für Argumente ohnehin nie erreichbar waren. Es gab eine gewisse Herablassung und Druck gegenüber Nachbarn und anderen Durchschnittsbürgerinnen und -bürgern, die vielleicht skeptisch gegenüber der Impfung oder den Maßnahmen waren, aber nicht als Totalverweigerer bezeichnet werden können. Diese wurden stigmatisiert, als Gefährder dargestellt oder sogar – ob der vielen Rechtsradikalen in dieser Szene – ins Nazi-Eck geschoben. Viele dieser Menschen haben ihr Vertrauen in die Politik und in den Staat verloren.

Kann da ein Wiedergutmachungsfonds helfen?
Ich weiß es nicht. Aber wichtiger wäre eine ehrliche Aufarbeitung. Viele Menschen wollen hören, dass Fehler passiert sind. Niemand hat erwartet, dass alles perfekt läuft. Aber dass Maßnahmen Leid verursacht haben, das sollte anerkannt werden. Fehler gab es auf allen Ebenen.

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