Führung verstehen. Eine Kolumne von ao. Univ.-Prof. Dr. Heinz K. Stahl.
Nicht nur der Fußball liefert anschauliche Beispiele für das Phänomen des WIR. Das gemeinschaftliche Gebet, der Chorgesang, das kollektive Marschieren beim Militär, das gemeinsame Musizieren im Orchester oder in einer Jam Session, in all diesen Aktivitäten verschmelzen Individuen zu einem Wir. Ihre Handlungen lassen sich nicht mehr auf die Handlungen der einzelnen Individuen reduzieren. Durch eine Vielzahl spontaner Koordinationen entsteht gemeinsames Handeln, dessen Ergebnis die Beobachtenden dann als außergewöhnlich erleben.
Abgesehen von diesen Beispielen scheint eines festzustehen: Wir mögen es, in dem gleichen mentalen Zustand zu sein wie unsere Mitmenschen. Diese Übereinstimmung veranlasst uns, das eigene Handeln an das Handeln der anderen anzuschließen und deren Handlungsoptionen mitzudenken. Wir genießen es, wenn die einzelnen Schritte scheinbar mühelos ineinandergreifen.
Von einem WIR erwarten wir, dass wir möglichst viele Gemeinsamkeiten erleben. Dass wir alle am selben Strang ziehen. Dass wir gleichsam wie ein ICH agieren. Ein solches Wir nennen wir ein „starkes“ Wir – eben ein WIR. Der Weg zum WIR birgt allerdings auch eine Gefahr.
Durch den Wunsch nach Einmütigkeit und Harmonie können kritisches Denken und abweichende Meinungen immer mehr unterdrückt werden. Noch dazu, wenn ein dominanter „Leader“ nach totalitärer Einheit strebt. Figuren wie George W. Bush („Mission ,accomplished“), Rudy Giuliani („Zero tolerance“) oder Jack Welch („Fix it, sell it or close it“) haben gezeigt, wohin ein solches „Leadership“ führen kann.
Abseits dieser Verirrungen vermögen Gruppen dank der Stärke des WIR beachtliche Leistungen und Wirkungen zu erzielen. Im Gesundheitswesen beruhen alle neuen Organisationsformen von der Gruppenpraxis bis zu den agilen Scrum-Teams im Krankenhaus auf einem WIR. Der Schlüssel dazu ist eine als dienend praktizierte Führung. Wer so führt, geht voran, lässt sich aber auch immer wieder von denen führen, die es zu führen gilt. Wer dienend führt, öffnet Freiräume und lässt Zweifel zu; beobachtet und reflektiert, hilft und unterstützt. Er oder sie irritiert aber auch, um zum Ausprobieren von Neuem anzuregen. Auf all diese Weisen lernen Gruppen zweierlei zu teilen: Absichten und Regeln.
Das Teilen von Absichten ist ein gradueller Prozess. Selbst die Akteure eines Behandlungsteams in einem Krankenhaus schaffen es nicht auf Anhieb, ihre individuellen Absichten gemeinsam zu bündeln. Was hier zählt, ist die laufende Erfahrung innerhalb des Teams, welche positiven Wirkungen geteilte Absichten entfalten können. Es ist die Erfahrung, dass ein WIR mehr ist als die bloße Summe der einzelnen Ichs. Wer diesen Wert einmal erkannt hat, will nicht mehr zurück in den reinen ICH-Modus.
Auch bei den Regeln ist etwas zu beachten. Gegen Regeln, die „von außen“ oder „von oben“ verordnet werden, regt sich meist ein instinktiver Widerstand. Oktroyierte Regeln unterminieren die Erwartung, über das eigene Handeln doch bitte selbst entscheiden zu können. Gemeinsam entwickelte und anerkannte Spielregeln haben hingegen eine viel größere Chance, als Richtschnur für gemeinsames Handeln zu gelten. Sie sind naturgemäß transparent und dienen einem Zweck, mit dem alle von vornherein übereinstimmen. Dadurch sind Spielregeln eindeutig und bieten weniger Konfliktpotenzial als fremdgesetzte Regeln. Missverständnisse aufgrund einer praxisfernen Sprache werden seltener.
Der von einer dienenden Führung angestoßene Lernprozess der geteilten Absichten und Regeln wirft noch einen weiteren Nutzen ab. Die Rollen innerhalb eines Teams entwickeln sich zuverlässig von selbst. Rollen bestehen aus Erwartungen, die auf dem gemeinsamen Weg zum WIR offener ausgesprochen werden als sonst. Man kann dann auf vorgefertigte Funktionsbeschreibungen ruhig verzichten. Wie im Mannschaftssport, wo gewiefte Coaches ihre Spieler zunächst beobachten und erst dann über mögliche Strukturen entscheiden.

ao. Univ.-Prof. Dr. Heinz K. Stahl
Research Associate, Interdisziplinäres Institut für verhaltenswissenschaftlich orientiertes Management, Wirtschaftsuniversität Wien
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