Digitalisierung in der Pflege: Be- oder Entlastung für Pflegekräfte? Fünf Aspekte auf dem Weg zu einer Antwort

Lesedauer beträgt 5 Minuten
Autor: Irmtraud Ehrenmüller

Digitalisierung gilt als ein wesentlicher Aspekt zur Lösung des Pflegekräftemangels. Start-ups und etablierte Unternehmen, die digitale Assistenzsysteme entwickeln, gibt es in großer Zahl und kaum ein Forschungsprojekt hat Chance auf Finanzierung, wenn nicht das Thema Digitalisierung den Innovationsgehalt des Vorhabens charakterisiert. Doch welchen Beitrag leisten derartige Innovationen tatsächlich zur Entlastung der Pflegekräfte?

Digitalisierung als Allheilmittel gegen den drohenden Pflegekollaps zu propagieren ist kein probater Ansatz. Erfolgsversprechend ist hingegen die Einführung von digitalen Assistenzsystemen unter Beachtung mehrerer Aspekte, die gemeinsam zu einer Entlastung von Pflegekräften führen können; diese Grafik stellt fünf Aspekte auf dem Weg zur wirksamen Digitalisierung dar, die in diesem Artikel besprochen werden:

Abbildung 1: Fünf Aspekte auf dem Weg zur wirksamen Digitalisierung

Wenn diese fünf Aspekte gemeinsam berücksichtigt werden, erhöht sich die Chance auf wirksamen Einsatz von digitaler Assistenz hinsichtlich ihres Beitrags zur Entlastung von Pflegekräften.

1. Onboarding digitaler Assistenz

Professionelles Onboarding ist ein probates Instrument, um neue Mitarbeiter*innen gut in bestehende Teams zu integrieren und damit rasch produktiv sein zu können (1). Wir setzen uns dazu schon vor der Suche und Auswahl neuer Mitarbeiter*innen mit wichtigen Fragen auseinander, z.B.: (2)

  • Welche Kompetenzen habe ich im Team – welche Fähigkeiten sollen ergänzt werden?
  • Welche Veränderungen stehen an?
  • Welche Persönlichkeiten passen zu uns?

Erfolgreiches Onboarding setzt demnach voraus, dass nicht nur die neue Persönlichkeit beachtet wird, sondern auch das Team, mit dem sie arbeiten wird. (3)

Anders erleben es Pflegekräfte meist, wenn sie mit digitalen Innovationen konfrontiert werden: die Fähigkeiten und Möglichkeiten der digitalen Assistenz geben vor, wie sich das Team neu zu formieren hat bzw. wie bestehende Abläufe geändert werden müssen, damit die Technik funktioniert. Damit erklärt sich eine irrtümlich häufig behauptete Ablehnung von innovativer Technologie: Pflegekräfte stehen digitaler Assistenz durchaus positiv gegenüber, sofern sie Pflegeprozesse aus der Sicht der Pflege unterstützt und die beteiligten Personen ausreichend Zeit zum Kennenlernen der neuen Unterstützung haben (4); dazu sagen wir meist „Einschulung“.

Wenn wir die Einführung digitaler Assistenzsysteme mit dem Onboarding neuer Mitarbeiter*innen vergleichen und entsprechend vorbereiten, ist ein Aspekt auf dem Weg zur entlastenden Wirkung digitaler Innovationen gelungen.

2. Prozessmanagement verstehen

Im modernen Prozessmanagement unterscheiden wir drei Arten von Prozessen: (5)

  • Managementprozesse: diese wirken auf die strategische Ausrichtung der Kernprozesse ein,
    z.B. Personalentwicklung.
  • Kernprozesse: diese stellen die Wertschöpfung der Organisation sicher und leisten einen direkten Nutzen für den Kunden, z.B. die Pflegetätigkeit im Krankenhaus
  • Unterstützungsprozesse: diese wirken auf die Kernprozesse und stellen damit keinen unmittelbaren Nutzen für den Kunden dar, sondern nützen den Kernprozessen für deren Leistungserbringung,
    z.B. IT-Versorgung im Krankenhaus.

Werden bei der Einführung digitaler Assistenzsystem die technologischen Möglichkeiten in den Mittelpunkt der Veränderung gestellt statt die Bedarfe aus der Sicht der (wertschöpfenden) Kernprozesse, kann dies dazu führen, dass sich letztlich Pflegekräfte um das Funktionieren der Technologie kümmern müssen. Wenn diese zusätzlichen Aufgaben mehr Aufwand bedeuten als die Unterstützung, die durch die digitale Innovation erfolgt, wird aus der angedachten Entlastung eine zusätzliche Belastung.

Abbildung 2: „Richtiger“ und „falscher“ Unterstützungsprozess (eigene Darstellung)

Es gilt daher zu überprüfen, ob  IT-nahe Prozesse tatsächlich als Unterstützungsprozesse fungieren oder sich irrtümlich als Kernprozesse zu etablieren scheinen.

3. Digitalisierung, Robotik und AI unterscheiden

Digitalisierung und Robotik in der Pflege – wovon reden wir eigentlich? Auf dem Weg zu entlastenden Assistenzsystemen lohnt es sich, sich einen Überblick zu den derzeit relevanten Fachbegriffen zu verschaffen.

Mania stellt fest, dass „in der digitalen Transformation der Prozess die Lösung ist, nicht die Technologie“ (6). Digitalisierung erfordert damit in erster Linie umfassende Kenntnisse im Management von komplexen Change-Prozessen.

Die Technologie dahinter kann wie folgt unterschieden werden: (7)

  • Elektronische Dokumentation, z.B.
    – Ersatz von analoger Dokumentation
    – Vernetzung von Dokumentationssystemen
  • Technische Assistenz, z.B.
    – Ambient Assisted Living-Systeme
    – Telecare/Telemedizin
    – Technische Hilfe in besonderen Situationen
  • Robotik, z.B.
    – Service-Robotik
    – Assistenz-Robotik
    – Unterhaltungs-Robotik

Am Beispiel von Augmented Reality-Systemen als eine Form der digitalen Assistenz wissen wir, dass Pflegekräfte im privaten Umgang damit durchaus erfahren sind; der Einsatz im Pflegekontext ist daher weniger eine Frage der Akzeptanz, sondern vielmehr des Transformationsprozesses im konkreten Anwendungsbereich. (8)

4. Pain Points der Pflege

Eine Entlastung kann nur dann eintreten, wenn zuvor eine Belastung besteht. So trivial diese Behauptung sein mag, im Kontext der Digitalisierung von Pflegeprozessen scheint dieser Zusammenhang noch nicht selbstverständlich zu sein. Eine nützliche Fragestellung dazu ist also die Frage nach den Pain Points: „wo drückt der Schuh am meisten?“ (9)

Weniger hilfreich hingegen sind Fragen im Sinne von „welches digitales Assistenzsystem würde dir helfen?“; am wenigsten nützt eine Frage nach dem Muster „wo kannst du dir vorstellen, dass dich DIESE technologische Innovation unterstützt?“

Auf die Frage nach den Pain Points erhält man Ergebnisse, die deutlich weniger spektakulär sind als man erwartet. Tatsächlich braucht es weniger digitale Neu-Entwicklungen als Veränderungen in den Rahmenbedingungen (z.B. Datenschutz) oder das konsequente Bearbeiten des Change-Prozesses, der für die Umsetzung benötigt wird. (10)

Aktuell werden zwei Hauptthemen genannt, die als „Pain Points“ bezeichnet werden können: (11)

  • Die Dokumentation von Pflegetätigkeiten, vor allem im Sinne des „Wie“ und weniger im Sinne des viel diskutierten „Was“.
  • Hol- und Bringdienste, mit denen der „Kernprozesse Pflege“ unterbrochen wird.

Technologische Lösungen dazu gibt es in großer Zahl, Prozessumsetzungen, die wirken, deutlich weniger.

5. Living Care Lab

Der fünfte Aspekt auf dem Weg zu entlastendem Einsatz digitaler Assistenzsysteme ist die Evaluierung des tatsächlichen Nutzens aus der Sicht der Pflegekräfte. Dafür stehen Living Labs als Entwicklungsumgebung zur Verfügung, die im realen Umfeld die Entwicklung technologischer Innovationen auf deren Funktionalität überprüfbar machen. (12)

Als Weiterentwicklung von Living Labs bietet sich das Modell des „Living Care Labs“ an; dieses an der FH Oberösterreich konzipierte Modell präzisiert Living Labs in zwei entscheidenden Aspekten: (13)

  • Die Evaluierung digitaler Assistenzsysteme für die Pflege findet in einer real simulierten Umgebung statt; d.h. es werden „echte“ Rahmenbedingungen für den Einsatz der Technik dargestellt, aber eine Gefährdung von unbeteiligten Personen, z.B. frailty Patienten, wird ausgeschlossen. Aktiv tätige Pflegekräfte werden hingegen einbezogen, um die Nützlichkeit und Akzeptanz der digitalen Lösung unmittelbar aus der Sicht derer, für die diese Entwicklung hilfreich sein soll, zu evaluieren.
  • Im Mittelpunkt der Evaluierung stehen Wirkungsziele, die zu Beginn eines Living Care Lab – Entwicklungsvorhabens festgelegt werden. Fünf Wirkungsbereiche sollen dafür mit konkreten, projektabhängigen Zielen messbar gemacht werden:
    – Die digitale Innovation leistet einen Beitrag zur Reduktion des Pflegekräftemangels und steigert die Attraktivität der Pflege- und Betreuungsberufe (gesellschaftlicher Nutzen der Innovation).
    – Der Einsatz einer Technologie ist wirtschaftlich vertretbar (Ökonomie) und entlastet das Pflege- und Betreuungspersonal nachhaltig.
    – Die Lösung unterstützt die Entwicklung der Organisationen im Sinne der Nachhaltigkeitsziele.
    – Die eingesetzte Technologie wird von User*innen organisationsübergreifend akzeptiert und genutzt (Technologieakzeptanz).
    – Beim Einsatz der Technologie werden die ethischen und rechtlichen Rahmenbedingungen beachtet und miteinbezogen.

Ein Living Care Lab kann entweder in einem dafür extra vorgesehenen Bereich einer Forschungseinrichtung eingerichtet werden oder für einen speziellen Use Case für eine konkrete Fragestellung direkt in einer Einrichtung für die Zeit der Evaluierung etabliert werden; letzteres kann als „Living Care Lab – Pop up“ verstanden werden. (14)

6. Zusammenfassung

Auf die Frage, ob Digitalisierung eine Be- oder Entlastung für Pflegekräfte bedeutet, gibt es keine Antwort im Sinne von Ja oder Nein. Anhand der fünf Aspekte wird eine Vorgangsweise dargestellt, bei der durch das Zusammenwirken von unterschiedlichen Maßnahmen die Chance auf wirksame Entwicklung und Einführung digitaler Innovation verbessert werden soll. Zusammenfassend bedeutet das:

  • Die Anforderungen im Pflegeprozess geben vor, was die digitale Assistenz leisten soll.
  • Wirkungsziele beschreiben, woran der Beitrag des digitalen Systems als nützlich bewertet werden kann.
  • Living Care Labs stellen eine Entwicklungsumgebung dar, in denen alle Akteure zusammenwirken
    („Co-Creation“)
  • Die digitale Assistenz wird erst freigegeben, wenn sie ihren Beitrag für die Pflegeprozesse nachgewiesen hat.

Wenn Mitarbeitende, Arbeitgeber*innen und Systementwickler*innen in diesem Sinn kooperieren, wird der Weg zum entlastenden Einsatz digitaler Assistenz in der Pflege nachhaltig unterstützt.

FH-Prof.in Dr.in Irmtraud Ehrenmüller

Irmtraud Ehrenmüller ist seit 2019
FH-Professorin für Organisation und Prozessmanagement an der
FH Oberösterreich. Davor war die promovierte Betriebswirtin viele Jahre in leitenden Funktionen im Gesundheits- und Sozialbereich tätig. Ihr Forschungsthema ist die wirksame Entlastung von Pflegekräften durch digitale Assistenzsysteme.

Quellen:

[1] vgl. Nöbauer in: Wöhrle u. a. (2019), S. 122.
[2] vgl. Nöbauer (2019), S. 121.
[3] vgl. Nöbauer in: Wöhrle u. a. (2019), S. 122.
[4] vgl. Egger (2022), S. 56.
[5] vgl. Wagner/Patzak (2020), S. 53.
[6] Mania (2022), S. 40.
[7] vgl. Kubek u. a. (2020), 15ff.
[8] vgl. Zaiko (2023), 68ff.
[9] vgl. Haider u. a. (2023), S. 54.
[10] vgl. Ehrenmueller u. a. (2023), S. 193.
[11] vgl. Haider u. a. (2023), 74f.
[12] vgl. Schuurman/Leminen (2021), p. 1.
[13] vgl. Haider u. a. (2023), 107ff.
[14] vgl. Haider u. a. (2023), 111f.

Quellenverzeichnis:

Egger, Katrin (2022): Assistenzroboter in der Langzeitpflege. Masterarbeit. FH Oberösterreich, Linz.

Ehrenmueller, Irmtraud u. a. (2023): Real relief for mobile caregivers through social assistive robots and digital devices, in: Garcia, Linda J. u. a. (Hrsg.): Well-Being in Later Life. The Notion of Connected Autonomy, London, S. 183–198.

Haider, Claudia/Zaiko, Jacqueline/Ehrenmüller, Irmtraud (2023): Planung Living Care Lab. Ein innovativer Lösungsansatz zur Entwicklung wirksamer digitaler Assistenzssysteme für die Pflege, Linz.

Kubek, Vanessa u. a. (Hrsg.) (2020): Digitalisierung in der Pflege. Zur Unterstützung einer besseren Arbeitsorganisation, Berlin.

Mania, Heiko (2022): Die Digitalisierung verändert (auch) die Pflege. Robotik, Sensorik und KI im Berufsalltag, in: ProCare, Nr. 3, S. 40–42.

Nöbauer, Brigitta (2019): Personalentwicklung in Sozialunternehmen. Einflussfaktoren – Handlungsfelder – Konzepte – Strategien – Ziele; Blaue Reihe Sozialmanagement, Regensburg.

Schuurman, Dimitri/Leminen, Seppo (2021): Living Labs Past Achievements, Current Developments, and Future Trajectories, in: Sustainability, Vol. 13, No. 19.

Wagner, Karl Werner/Patzak, Gerold (2020): Performance Excellence – der Praxisleitfaden zum effektiven Prozessmanagement, 3. Aufl., München.

Wöhrle, Armin u. a. (2019): Personalmanagement – Personalentwicklung, Baden-Baden.

Zaiko, Jacqueline (2023): Augmented Reality als Weg in die Zukunft der Pflege : am Beispiel der Wunddokumentation im Langzeitpflegebereich. Masterarbeit. FH Oberösterreich, Linz.

Video-Tipp:

Sehen Sie hier den Vortrag von Frau Prof.in Dr.in Irmtraud Ehrenmüller auf dem Österreichischen Gesundheitswirtschaftskongress 2023

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren:

Künstliche Intelligenz verbessert Behandlung von Frauen mit Herzinfarkt

Künstliche Intelligenz verbessert Behandlung von Frauen mit Herzinfarkt

Verglichen mit Männern sterben Frauen häufiger an einem Herzinfarkt. Gründe sind Unterschiede im Alter und in Begleiterkrankungen, die auch die Risikoabschätzung bei Frauen erschweren. Mit Hilfe künstlicher Intelligenz haben Forschende in Kooperation mit der Medizinischen Universität Graz ein neues Vorhersagemodel entwickelt, das die personalisierte Versorgung von Frauen mit Herzinfarkt verbessert.

Digitalisierung im Gesundheitswesen: Wann ist eine App ein Medizinprodukt?

Digitalisierung im Gesundheitswesen: Wann ist eine App ein Medizinprodukt?

Künstliche Intelligenz und Gesundheits-Apps gelten als Schlüsseltechnologien der Zukunft. Der TÜV AUSTRIA Medizinprodukte-Tag holte DI Volker Sudmann von der Benannten Stelle mdc medical device certification dazu auf die Expertenbühne.

KI: Plattform zur Erfassung und Bereitstellung pflegerelevanter Daten

KI: Plattform zur Erfassung und Bereitstellung pflegerelevanter Daten

Ein System, in dem alle Daten zu einem Pflegefall gesammelt und anonymisiert ausgewertet werden: Das ist das Ziel eines neuen Forschungsprojekts des FZI Forschungszentrum Informatik gemeinsam mit Partnern aus der Industrie und der Klinik für Geriatrie und Altersmedizin der Charité – Universitätsmedizin Berlin.